Die Geschichte von Atlantis Juri Tomin Vorwort  Eines Tages findet Jurka ein blaues Heft, und damit beginnt für ihn und seine beiden Freunde Petka und Dimka der Traum von Atlantis — dem herrlichen Inselreich, in dem die Menschen glücklich und im Überfluß lebten, bis es vor Tausenden von Jahren mit all seinen Bewohnern, Schätzen und Palästen nach einer schrecklichen Katastrophe im Meer versank. Wo mag dieses Atlantis gelegen haben? Vielleicht sogar hier im Norden, nahe ihrer kleinen Stadt Ust-Kamensk. Die drei Freunde sind entschlossen, es zu suchen. Ob sie Atlantis finden werden? Die Geschichte von Atlantis   I  Ein Reiter, der nach Westen zeigt  Zuerst zeigten sich die Möwen. Sie kreisten hinter der Insel über einem unsichtbaren Abschnitt des Ufers, gingen im Sturzflug aufs Wasser nieder und stiegen wieder hoch. Wenn ein Dampfer kommt, geben sie ihm stets das Geleit, bis er festmacht. So war es auch an jenem Junitag. Zweimal puffte lautlos ein Rauchwölkchen in die Luft und zerflatterte über dem Kap. Sekunden später — als schon jeder glaubte, das Heulen der Sirene sei verhallt, ohne den Hafen erreicht zu haben — hörte man zwei kurze Signalstöße. „Das wird wohl die ,Maria Uljanowa' sein", meinte jemand unsicher und fügte vorsichtshalber hinzu: „Oder die ,Spartak'." „Warum nicht die ,Lena'?" erklang es spöttisch aus der Menge, die sich an der Anlegestelle eingefunden hatte. „Wer weiß, vielleicht ist es auch die ,Salichard'?" Der erfolglose Rater, ein langarmiger Bursche in hohen Lederstiefeln, stieß mit gewohnter Bewegung die Mütze in den Nacken. Auf seiner Segeltuchjacke glänzten trockene Fischschuppen. Vor den Schaulustigen stand der Hafenmeister. „Die ,Spartak'", entschied er, ohne den Kopf zu drehen. Er war die Hauptperson hier, körperlich nicht übermäßig groß geraten, aber wenn man ihn so dastehen sah in seinem funkelnagelneuen Kittel und mit der gewichtigen Tabakspfeife, deren zernagtes Mundstück aus der einen Tasche lugte, wußte man sofort: Dieser Mensch besitzt die Macht, jedermann von der Landungsstelle zu verweisen, und braucht dabei nicht mal das von der Rasierklinge zerschundene Kinn in den hochgeschlagenen Kragen zu ziehen. Aber er jagte niemand davon, reckte sich nur noch gebieterischer in die Höhe und schaute noch gestrenger drein. Der Hafenmeister zählte neunzehn Jahre. Hinter dem Kap kam ein Dampfer hervor. Aus dem Jenissei bog er in die breite Mündung der Tunguska ein. Nur vier Monate des Jahres sind die beiden Flüsse schiffbar. Dieser Dampfer wurde als erster nach dem langen Winter erwartet. Seine Fahrt verzögerte sich, weil er die letzten Eisschollen aus dem Weg stoßen mußte. Nach jedem Anlegen wurden seine Laderäume leerer. In den Häfen oder auch einfach am nackten, stufenförmigen Ufer, wo immer es einen Aufenthalt gab, hatte sich zu seinem Empfang eine große Menschenmenge eingefunden. Mit dumpfem Knarren lehnte sich der Dampfer gegen die Anlegestelle, kam zum Stehen, schnaufte, prustete und hüllte die Wartenden in einen Duft von brutzelndem Fett und warmen Speisen. Als erster begab sich der Hafenmeister an Bord. Ihm nach drängten, sich gegenseitig schubsend, die übrigen Leute. Gefäße klapperten, dumpf polterten Stiefel auf den Brettern. Dieser und jener hatte dienstlich auf dem Schiff zu tun, die meisten gingen in eigener Angelegenheit hinüber. Manche waren gekommen, um Bier oder Mandarinen einzukaufen, sie hatten Eimer und Beutel mitgebracht. Andere besaßen unter der Schiffsmannschaft einen Bekannten, den sie besuchen wollten. Es gab auch welche, die nur ein wenig über Deck bummeln oder in der Kantine an einem weißgedeckten Tisch sitzen wollten und sich nach den vielen Werkküchenkoteletts, die sie während der langen Winterszeit gründlich satt bekommen hatten, einmal etwas Teures und Pikantes leisten. In Wahrheit freilich gab es für das Erscheinen all der zahlreichen Besucher nur einen Hauptgrund. Sie waren gekommen, weil es sich einfach gehörte, daß man den ersten Dampfer empfing wie einen sehnlich erwarteten Gast: mit viel Lärm und Hallo. Der Bursche in der Segeltuchjacke war als erster zum Büfett vorgedrungen. Jetzt bahnte er sich bereits einen Weg zurück, mehrere Schachteln „Belomor" in der erhobenen Rechten. Heute war er bei Tagesanbruch aus den Federn gekrochen, sodann achtzehn Kilometer weit gerudert, um endlich einmal etwas anderes als Machorka rauchen zu können. Allmählich wurde es stiller. Die Gäste verliefen sich. Viele standen in den Gängen oder saßen in den Salons. Die ersten Passagiere gingen an Land. Es waren insgesamt vier, unter ihnen ein Mann im Regenumhang, eine Kartentasche an der Seite. Er stieg das steile Ufer hinan, stellte, oben angekommen, seinen Koffer ab und setzte sich darauf. Dann nahm er die Mütze vom Kopf, fuhr sich durch das graumelierte Haar, rieb sich das stopplige Kinn. „Ungekämmt, unrasiert", machte er seinem Herzen Luft, „wie ein ungepflegter Köter. Pfui Teufel!" Zwei Jungen, die am Rand des Hanges saßen, lachten. Der Mann auf dem Koffer kniff die Brauen zusammen. „Was gibt's da zu feixen?" „Nichts", antworteten die Kinder. „Schon lange demobilisiert?" scherzte der Reisende mit ernstem Gesicht und zeigte auf das gestreifte Matrosenhemd, das der eine Junge unter der Jacke trug. „Schon eine ganze Weile", erwiderte der Gefragte, bemüht, auf den Ton des Erwachsenen einzugehen. „Dann verrate mir mal, wie ich zum Lager der Expedition komme." Der Junge wies mit einer lässigen Armbewegung die Richtung. „Dort lang. Bis zum Badehaus. Dann links halten." „Somit wäre der Fall klar", sagte der Mann. „Wenn ich nun noch wüßte, wo das Badehaus steht, könnte ich nicht fehlgehen." Die Jungen brachen erneut in Lachen aus. Der Reisende wartete ihre Auskunft nicht ab, ergriff seinen Koffer und schritt die Straße hinunter. Kurze Zeit darauf näherte sich ein Mann in Pelzjacke. Er hatte einen großen Korb auf den Rücken geschnallt und trug einen mit Stricken umschnürten Ballen auf der Schulter. In der Rechten hielt er einen Beutel, an die Linke klammerte sich seine Tochter, die zwölf Jahre alt sein mochte. Mit einem Blick auf die Jungen, vor Anstrengung keuchend, erkundigte sich der Ankömmling ebenfalls nach dem Weg zum Lager der Expedition. Neben ihm stand mit erhobenem Kinn das Mädchen und sah zur Seite. Den beiden Jungen hatte sofort mißfallen, daß sie überhaupt kein Gepäck trug und nicht einmal den Versuch unternahm, ihrem schwer beladenen Vater zu helfen. Hinzu kam die geringschätzige Miene, die sie aufgesetzt hatte, während ihre Blicke umherspazierten — grad so, als wären die beiden Jungen Luft — und ihr dicker, blonder Zopf, der von einem grünen Band umschlungen angeberisch auf der wattierten Jacke lag. Gründe genug, um verächtlich die Nase zu rümpfen. Lange sahen die Jungen Vater und Tochter nach, und als das Mädchen auf dem Holzpflaster ins Stolpern kam, sagte der im Matrosenhemd absichtlich laut: „So eine Kuh! Läßt sich anfassen und stolpert noch." Die „Kuh" hielt es für unter ihrer Würde, sich umzudrehen, verlangsamte jedoch den Schritt. Da wußte der Junge, daß sie seine Worte gehört hatte. Als letzter kam ein junger Mann das Ufer heraufgeklettert. Er hatte seinen Mantel über den Arm gelegt und betrachtete mitleidig die hellgrauen Schuhe, die schon arg zerkratzt waren. Als er stehenblieb, musterten die Jungen verwundert seine auffällige Kleidung. Der Ankömmling trug Seidenhemd und Krawatte. In der rechten Hand hielt er eine runde, mit roter Schnur umwickelte Reisetasche, die aussah wie ein kleines Faß. Kurz und gut — in der hiesigen Umgebung nahm sich dieser Mensch recht sonderbar aus. Sein Aufzug paßte gar nicht zu den vom Regenwasser dunkel gefärbten Stämmen, die am Ufer aufgestapelt waren, zu den knarrenden Holzgehsteigen, dem grünen, gezackten Rand der Taiga, die dort begann, wo die breite, mit Pfützen übersäte Straße aufhörte. Todsicher war der flotte junge Mann mit den dunklen Haaren fremd in dieser Gegend. Wäre er ein Gedankenleser gewesen, hätte er den erstaunten Kindern wahrscheinlich folgendes erklärt: Ich trage diese Schuhe nicht, um Eindruck zu schinden, sondern aus dem einfachen Grunde, weil ich keine anderen habe. Ja, und euer altertümliches Holzstädtchen gefällt mir trotz der vielen Pfützen recht gut. Was wollt ihr sonst noch wissen? Daß ich erst dreiundzwanzig Jahre bin? Und ziemlich aufgeregt, weil für mich nun ein Leben beginnt, das wesentlich anders sein wird als alles, was bisher war? Da er jedoch keine Gedanken lesen konnte, sagte er statt dessen: „Hört mal, ihr beiden, ihr seid doch sicher Schüler?" „Na klar, Schüler", gab der im Matrosenhemd zur Antwort. „Und wie komme ich zur Na-klar-Schule?" fragte der junge Mann lächelnd. „Zu welcher Schule?" „Wenn ihr Na-klar-Schüler seid, besucht ihr höchstwahrscheinlich keine gewöhnliche, sondern eine Na-klar-Schule." Wären die beiden Gedankenleser gewesen, hätten sie gewußt, daß es keineswegs in der Absicht des jungen Mannes lag, sie zu verspotten. Er war einfach ein fröhlicher Mensch, für den alles ringsumher den Reiz von etwas Neuem besaß und der den Wunsch hatte, sich mit jemand zu unterhalten. Worüber, das war ihm einerlei. Die Jungen waren jedoch keine Gedankenleser, und den im Matrosenhemd brachte schon das Wort „höchstwahrscheinlich" heftig auf. „Wenn du so ein Schlauberger bist, wirst du sie auch ohne Hilfe finden", gab er barsch zurück.  Diese Antwort machte den Fremden unsicher. Er wurde bis über beide Ohren rot, was für einen Mann in seinem Alter völlig unpassend war. „Sehr höflich bist du aber nicht", sagte er, und ihm erging es wie den meisten schüchternen Menschen, die ihre Verlegenheit verbergen möchten. Seine Worte kamen patzig heraus, obwohl das gar nicht in seiner Absicht gelegen hatte. Der im Matrosenhemd nahm es zur Kenntnis. Er schwieg. Da ergriff der Fremde seinen Koffer, drehte sich ruckartig um und trabte weiter. „So eine Kuh, das Mädchen", erklärte der andere Junge verächtlich, „richtig widerlich." „Der ist nicht besser", meinte sein Freund mit einem Blick auf den davoneilenden Fremden. „Höchstwahrscheinlich", setzte er bissig hinzu. „Ach komm, wir gehn." Die Jungen trollten sich auf dem Fahrdamm heim. Im Laufen klopften sie die gelblichen Erdflecken aus ihren Hosen. An der Ecke verabschiedeten sie sich. Der im Matrosenhemd rannte schräg über die Straße, ohne auf die Pfützen zu achten. Das Wasser spritzte ihm klatschend gegen die Schäfte der Gummistiefel. Sein Freund verschwand in einer Seitenstraße. Die Abendkühle ließ ihn erschauern. Er begann zu hüpfen. Schon wollte er, zu Hause angekommen, durch die Gartenpforte schlüpfen, als sein Blick auf ein blaues Schreibheft fiel, das dicht neben dem Zaun lag. Er hob es auf. Das Papier war mit feuchter Erde beschmiert. Der Junge las den ersten Satz: „Auf einem Berg der Insel Azoris steht ein steinerner Reiter, der das Gesicht dem Meer zuwendet und mit der Hand nach Westen zeigt." II  Eine unerwartete Begegnung Die Schule von Ust-Kamenskoje blieb den ganzen Juni über geöffnet. Daß es keine Ferien gab, hatte natürlich seinen Grund. Selbst für diese Gegend war der Winter außergewöhnlich streng gewesen. Im Januar hatte man Temperaturen bis zu minus sechzig Grad gemessen. Schwerer, beißender Nebel hing damals über der Holzstadt. Nachts winselten die Hunde, kratzten bettelnd an den Türen, um in den Flur gelassen zu werden. Auf den Straßen rissen die Drähte der Telefonleitungen und rollten sich neben den Masten zusammen. In den Morgenstunden erklang durchdringendes Geheul: Auf dem Flugplatz wurden die Motoren gewärmt. Der Himmel war weiß und schien vor Frost zu klirren. Kein Flugzeug wagte aufzusteigen. Nach einer Weile verstummten die Motoren wieder. Was in diesem Winter an Unterricht gegeben wurde, war kaum der Rede wert: nicht einmal ein ganzer Monat. Um das Versäumte nachzuholen, mußten Jurka und Petka während des Juni in die Schule gehen, noch dazu nachmittags. Das war besonders schmerzlich. Gestern hatten sie geschwänzt, um bei der Ankunft des ersten Dampfers zugegen zu sein. Dimka war nicht mitgegangen. In solchen Dingen hat Dimka einen guten Riecher. Der sagt ihm genau, wann etwas glattgeht und wann nicht. Im letzten, auch im vorletzten Jahr war Dimka mit von der Partie gewesen. Diesmal hatte er dem Vergnügen entsagt. Und siehe da, in die Klasse war der Direktor getreten, um festzustellen, wer alles fehlte. Ob Dimka nun den Braten gerochen, ob und wie er von der drohenden Gefahr Wind bekommen hatte, vermochten Jurka und Petka natürlich nicht zu sagen. Auf jeden Fall beneideten sie ihren Freund, der kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte, sondern fröhlich ausschreiten konnte, während ihre Beine immer schwerer wurden, je näher sie der Schule kamen. „Regt euch doch nicht künstlich auf", suchte Dimka sie zu beruhigen, „es wird alles halb so schlimm." „Für dich bestimmt", erwiderte Petka finster. „Wenn du uns wenigstens gewarnt hättest." „Aber ich habe doch selber nichts geahnt. Ehrenwort, das könnt ihr mir glauben." Jurka seufzte. Er dachte an die bevorstehenden Unannehmlichkeiten. „Dimka, du bist ein komischer Kauz. Bei dir weiß man nie, ob du schwindelst oder nicht." Dimka lachte. Vier Stunden saßen Jurka und Petka wie auf Kohlen, spitzten die Ohren und schielten zur Tür. Wenn jemand über die knarrenden Korridordielen schritt, fuhren sie zusammen. Richtig unheimlich wurde ihnen in der darauffolgenden Pause. Die fünfte Stunde sollte statt der Physiklehrerin, die sich in eine andere Stadt hatte versetzen lassen, der Direktor geben. Petka malte sich aus, wie es sein würde, wenn er nach Hause kam. Mutter schneidet mit flinken Fingern das Brot, stellt einen Teller Fischsuppe vor ihn hin. Petka stochert mit dem Löffel im Essen herum. Dann fragt er, ob Mutter kein Wasser braucht. Er läuft zum Brunnen, die Eimer zu füllen, danach in einen Laden, um Zucker zu kaufen. Wenn das erledigt ist, nimmt er die Axt, geht in den Schuppen, spaltet Holz. Er hackt und hackt, bis sich ein Riesenstapel auftürmt. Weil Petka nichts sagt und plötzlich so fleißig tut, wird die Mutter stutzig. Sie ahnt, daß mit der Schule etwas faul ist. „Der Direktor möchte dich sprechen", bestellt Petka endlich. Wie schnell sich Mutters Gesicht verändert! Bald guckt sie böse und sieht nun gar nicht mehr schön aus. Gleich wird es ein Donnerwetter geben. Wenn sich Mutter ausgeschimpft hat, beginnt sie zu weinen. Petkas Bruder aber, der kleine Senka, guckt sie erschrocken an. In solchen Minuten wünscht sich Petka, daß ihm etwas Schreckliches zustoßen möge. Zum Beispiel: Er würde sterben. Tot sein — ja, das wär was! Nicht für immer natürlich, nur ein bißchen, für zwei, drei Tage, und so, daß er alles hört und sieht. Dann würden viele Menschen kommen, um ihn zu beweinen. Sie könnten sich nicht genug tun, was für ein guter Junge er gewesen ist, welch ein Unglück es sei, daß er so früh habe sterben müssen. Vor allem würden sie bedauern, daß sie zu seinen Lebzeiten nicht immer gerecht gewesen sind. Selbstverständlich wäre unter den Trauergästen auch Petkas Direktor zu finden. Er würde wie alle anderen seine Schuld bekennen, offen, ungeschminkt. Reglos und stolz läge der aufgebahrte Tote vor den trauernden Hinterbliebenen. Dann aber käme der große Augenblick, da Petka ins Reich der Lebenden zurückkehren würde buchstäblich in letzter Minute. Das Glück der Anwesenden wäre grenzenlos. Sie vergössen Freudentränen. Bisher waren Petkas Sterbewünsche freilich nie in Erfüllung gegangen. Statt dessen ist es immer so gewesen: Wenn sich Mutter ausgeweint hatte, zog sie ein neues Kleid an und ging in die Schule, um zu hören, was der Bengel wieder angerichtet hatte. Vermutlich würde es auch diesmal so sein. Geräuschvoll klappten die Deckel der Schulbänke. Im Nu waren die Schüler auf den Beinen, viel schneller als sonst, kaum daß die Tür aufging. Der Direktor verharrte wie gewöhnlich eine Weile auf der Schwelle, während ein alles umfassender Blick aus seinen scharfen schwarzen Augen die Gesichter überflog. „Guten Tag", grüßte die Klasse, viel zu einträchtig, viel zu laut. Der Direktor runzelte die Stirn. Übertriebene und unechte Achtungsbezeigungen hatten ihn seit jeher aufgebracht. Da sie jedoch unvermeidlich schienen, fand er sich schließlich damit ab, ebenso mit der Tatsache, daß ihm die Schüler nie gerade in die Augen blickten. Es war, als seien sie ständig darauf gefaßt, von ihm etwas Unangenehmes zu erfahren. Äußerlich fiel der Direktor durch eine ungewöhnliche Leibesfülle auf, die, wie es hieß, von einer Krankheit herrührte. Nach einem ungeschriebenen Gesetz haben dicke Menschen meist ein goldenes Herz, so auch Piaton Jakarlewitsch, der Direktor dieser Schule. Als er erfuhr, daß Dimka Polujanow ihn heimlich die „Seifenblase" nannte, war er ehrlich betroffen. Der Übeltäter wurde zu ihm bestellt und belehrt, daß es ehrlos, ja geradezu schändlich sei, jemand wegen seiner körperlichen Mängel zu verspotten. Dimka gab bereitwillig das Versprechen ab, nie mehr gemein zu handeln. Der Spitzname haftete jedoch an dem Direktor wie eine Klette. Er ging von Mund zu Mund. Wenn Petkas Mutter von einem Gespräch mit dem Schulleiter zurückkam, war sie jedesmal beruhigt, ihr Zorn aber noch nicht völlig verraucht. „Was seid ihr bloß für Esel!" schimpfte sie. ,,Du und dein Dimka. Der Direktor hat einen klugen Kopf. Dabei ist er eine Seele von Mensch. Und ihr macht euch über ihn lustig. Wie kann man sich nur an andrer Leute Leid ergötzen!" Wenige Sekunden später lachte sie selber. ,,Na ja", lenkte sie verlegen ein, „dick ist er ja, das stimmt schon, entsetzlich dick." Diesmal kam der Direktor nicht allein. Er sagte: „Von heute an habt ihr einen neuen Physiklehrer — Viktor Nikolajewitsch Rjabzew. Viktor Nikolajewitsch wird zugleich euer Klassenleiter sein." Bei den letzten Worten blickte er Petka an. Dann nickte er bedeutsam und ging wieder hinaus. Kein Wort über den geschwänzten Unterricht. Es dauerte eine Weile, bis Petka sein Glück begriffen hatte. Doch als ihm endlich zum Bewußtsein kam, daß die Geschichte wahrscheinlich im Sande verlaufen würde, fiel sein Blick zufällig auf die Füße des neuen Lehrers, und da durchzuckte ihn aufs neue ein heftiger Schreck. Die Schuhe, die Viktor Nikolajewitsch trug, waren weißlich grau. „Also Freunde, machen wir uns miteinander bekannt." Während Viktor Nikolajewitsch sprach, runzelte er die Stirn und gab sich überhaupt die größte Mühe, sicher aufzutreten und erwachsen zu wirken. Jedoch konnte das nicht darüber hinwegtäuschen, daß der neue Lehrer noch sehr jung war. Offenbar war er frisch vom Institut gekommen. Vielleicht sollte dies sogar seine erste eigene Unterrichtsstunde werden. Da die Kinder sofort merkten, was sie von der gestrengen Amtsmiene zu halten hatten, begannen sie ungeniert zu kichern. Allgemeine Heiterkeit hielt ihren Einzug, fein ernstes Gesicht bewahrte lediglich Sonja, das gewissenhafte Mustermädchen auf der ersten Bank. Sie kramte ihr Heft aus der Tasche, strich den Namen der ehemaligen Lehrerin durch und schrieb auf die erste Seite: „Physik bei Viktor Nikolajewitsch Rjabzew." Der Lehrer schlug das Klassenbuch auf. „Juri Alenow."  „Hier", meldete sich Jurka, ohne den Lehrer anzusehen. „Pjotr Issajew." Petka stand langsam auf, so langsam, daß der Lehrer Zeit genug hatte, ihn ein zweites Mal aufzurufen und zu fragen: „Fehlt Issajew heute?" „Nein", meldete sich Petka. „Hier!" Der Lehrer blickte den Schüler an, sah sein schwarzes Borstenhaar, im Jackenausschnitt den oberen Rand des Matrosenhemdes und erinnerte sich an die gestrige Begegnung. Da wurden sie beide verlegen. Wie am Vortage fühlte Viktor Nikolajewitsch, daß er errötete und sich beim besten Willen nicht zusammenreißen konnte. Rot werden, vor der ganzen Klasse, wegen eines dummen Jungen — das geht doch nicht, versuchte er sich einzureden, aber sein Gesicht färbte sich nur noch dunkler. Zu guter Letzt stand er auf und trat wie in Gedanken ans Fenster, um seine Verwirrung zu verbergen. Doch war auch das keine glückliche Lösung. Petka schien zu einer Salzsäule erstarrt. Mit dem feinen Gefühl des Kindes erriet er, in welcher Verfassung sich der neue Lehrer befand. Aus seinen Augen war das Entsetzen gewichen. Belustigt blickte er auf die Gestalt am Fenster. Von allen übrigen begriff nur Jurka, was zwischen Petka und Viktor Nikolajewitsch vorging. Mit gekrümmtem Rücken und gesenkten Augen saß er auf seinem Platz, hoffend, nicht erkannt zu werden. „Setz dich hin, was stehst du da!" brauste der Lehrer auf.  „Sie haben mir noch nicht erlaubt, mich zu setzen", erwiderte Petka höflich. Hinter dieser Höflichkeit verbargen sich Triumph und eine Schadenfreude, die Viktor Nikolajewitsch unbegreiflich war. So kam es, daß Petka seinem neuen Lehrer ein Dorn im Auge wurde. Was fiel dem Bengel ein, den starken Mann zu spielen! Bei aller Selbstsicherheit trat Petka jedoch nicht unverschämt genug auf, um dafür gemaßregelt zu werden. Viktor Nikolajewitsch wußte sehr gut, daß seine Autorität und ein freundschaftliches Verhältnis zur Klasse nicht zuletzt davon abhingen, wie er mit solchen Jungen fertig wurde. Er war bereit, jeden einzelnen ins Herz zu schließen, damit auch sie ihn alle in das ihre schlössen. Voller Erregung, mit frohen Erwartungen war er zu seiner ersten Stunde geschritten. Und vor den Kopf gestoßen worden. Er fühlte sich tief gekränkt. Eilig setzte er die Kontrolle der Anwesenheit fort und begann danach den Unterricht. Aber bis die Klingel den Schluß der Stunde anzeigte, spürte Viktor Nikolajewitsch Petkas unfreundlichen Blick. Das machte ihn unsicher und nervös. In seiner Zerfahrenheit wischte er die Tafel mit der Hand ab, obwohl für diesen Zweck ein Lappen bereit lag. In der Pause sprach ihn das Mustermädchen Sonja an. Das geschah auf dem Flur. „Viktor Nikolajewitsch", sagte Sonja mit einem Blick aus ihren runden, ehrlichen Augen, „Petka Issajew und Jurka Alenow haben gestern die beiden letzten Stunden geschwänzt." „Weshalb erzählst du mir das?" „Sie sind doch der neue Klassenleiter. Unsererfrüheren Lehrerin habe ich immer alles mitgeteilt, was die Schüler taten." „Der früheren Lehrerin", wiederholte Viktor Nikolajewitsch zerstreut. „Ja, freilich", bestätigte das Mädchen Sonja. „Sie ist fortgefahren, weil sie eine zu kalte Wohnung hatte." „Na schön", entgegnete Viktor Nikolajewitsch. „Mich jedenfalls wirst du mit solchen Mitteilungen in Zukunft verschonen. Ich will desgleichen nicht wieder hören. Weder ich noch irgendein anderer." Es klang sehr bestimmt. „Hast du mich verstanden?" „Ja, freilich." Sonja nickte. „Aber warum wollen Sie es nicht hören?" „Weil es gemein ist. Darum. Man tut so etwas nicht. Als ich noch die Schule besuchte... Weißt du, wie wir mit einer Petze umgesprungen sind? Der ging's dreckig, das kannst du mir glauben", sprudelte er hitzig hervor. „Mich verhauen sie auch, wenn sie es erfahren", meinte Sonja demütig, „aber es weiß ja niemand." Viktor Nikolajewitsch sah das Mädchen vor ihm an. Für einen Augenblick glaubte er, daß sie sich über ihn lustig machte. Ihr Gesicht blieb jedoch völlig ernst. Nein, natürlich, sie hatte nur gesagt, was sie dachte. „Also, was willst du?" fragte er. „Ich? Nichts. Nur — die frühere Lehrerin..."  „Ich glaube, daß du deine frühere Lehrerin mißverstanden hast", fiel er ihr ins Wort. „Du hast dich geirrt, das ist alles. Lauf jetzt nach Hause und vergiß nicht, daß in der Klasse deine Freunde sitzen. Deine Freunde! Daran mußt du denken, dann wirst du alles begreifen."  Viktor Nikolajewitsch ging ins Lehrerzimmer und schloß die Tür hinter sich. Das Mädchen starrte ihm verständnislos nach.  III  Das versunkene Inselreich (Aus dem blauen Heft) „Im Westen hört die Ebene auf. Am Fuße der Steilwand beginnt das Meer. Vom Horizont her, aus der unverschleierten, starren Ferne, kommen in friedlichem Spiel grüne Wellen herangeplätschert. Nahe dem Ufer spüren sie den Grund unter sich. Da beginnt die Brandung. Hoch bäumen sich die Wellen auf, brüllen und tosen. Wie von Riesenfäusten geschüttelt, erzittern die Felsen. Schaum spritzt über die grün- und braunzottigen Steine. Zerfetzte Rinnsale jagen durch Spalten und Klüfte, prallen aufeinander, schießen zischend in die Luft und sinken Augenblicke später klatschend zurück. Auf sandigem Grund tanzt der Tang zum Rhythmus der See einen trägen, unendlichen Reigen. Wie Astern im Wind neigen und recken die Meeresblumen ihre Blütenköpfe. Tag für Tag hat das Wasser die Erde fortgeleckt. Was sich mit in die Ferne führen ließ, ist längst hinweggespült. Darum leuchtet das Meer am Ufer in kristallener Klarheit und strahlt lichterfüllt wie vor Sonnenaufgang der Himmel. Wenn die See ruhiger wird, tummeln sich bunte, glotzäugige Fische im seichten Wasser, bewegen die geschmeidigen Flossen, stoßen faul mit der Nase gegen die Steine, als wollten sie sich vergewissern, daß die Insel noch an der alten Stelle steht. Haben sie sich im Spiel am Ufer Genüge getan, geht es durch zittrige Lichtstreifen zurück in die Tiefe des Meeres. Dort, in der samtigen Finsternis, ruhen auf schlammigem Grund wohlgeformte Säulen mit eingemeißelten Schriftzeichen. Kunstvoll verzierte Geländer schützen die riesigen, in die Berghänge gehauenen Treppen. Spitzen Riesenhelmen gleich, ragen die vergoldeten Kuppeln der Tempel empor. Könnten die Bewohner des Meeres denken, würden sie nicht müde werden, die versunkenen Wunder anzustaunen: das aus farbigen Gesteinen bestehende Mosaik der Wände, die geräumigen Paläste, in denen sich einst Wind und Sonnenschein ein Stelldichein gaben, die kupfernen Opferschalen, die aus Elfenbein geschnitzten Streitkeulen, das Büdnis eines großen Drachen, der seine Flügel über die Fluten breitet. All das wurde von Menschenhand geschaffen. Und vom Meer verschluckt. Nur der steinerne Reiter nicht. Der sitzt noch heute wie vor Tausenden Jahren auf seinem Roß, obgleich sich um ihn her und von ihm unbemerkt alles veränderte. Diejenigen aber, denen er in der Nacht, da die Berge barsten und es Sterne vom Himmel regnete, über das unversehrt gebliebene Stück Land einen Weg wies, die sind nicht mehr. Vor langer Zeit hatten Menschen hier auf zwei Inseln ein Reich errichtet. In diesem Land waren Blumen erblüht und Gräser gewachsen, die heute niemand mehr kennt, auch Bäume mit Stämmen so biegsam wie Gerten — und Früchten, die, wenn sie reif geworden, köstliche Speisen und Getränke und heilende Salben lieferten. Ein Korn, das auf die Erde fiel, ließ in sechs Monaten tausend Körner reifen. Niemand wußte, was Hunger war. In den dichten Wäldern lebten Herden wilder Elefanten. Sie griffen die Menschen nicht an, sondern kamen vor ihre Häuser, um dienstbar zu sein. Diejenigen, die das Inselland zuerst erblickten, waren geblendet von seinem Reichtum und sprachen: ,Hier laßt uns leben.' Sie bauten Paläste, gruben Kanäle, schufen die Hauptstadt und andere Städte. Atlantis nannten sie ihr Reich, zu Ehren des großen Meeres, das sie auf seinen Fluten hergetragen hatte. Als sie die Erde durchwühlten, fanden sie in ihrem Schoße von Menschenhand gehauene Säulen und Herdplatten. Auch Tafeln, mit Zeichen beschrieben. Da wußten alle, die gekommen waren, daß vor ihnen schon Menschen in diesem Land gelebt hatten. Nur was aus ihnen geworden, vermochte niemand zu sagen. Dann förderte man ein steinernes Standbüd zutage, einen Mann, der, aufrecht stehend, die linke Hand zum Himmel reckte und die rechte so hielt, als ließe er zwischen Daumen und Zeigefinger etwas zur Erde rieseln. Die Augen hatte er geschlossen. In sein Gewand waren zwei Monde gemeißelt und ein geflügelter Drache, der die Sonne verdeckte. Da die Menschen den Sinn dieser Bilder nicht zu deuten vermochten, blieb die Statue an der gleichen Stelle stehen, wo man sie gefunden hatte: auf einem Berg, von dem aus die Insel und das angrenzende Meer vortrefflich zu überschauen waren. Nachdem die Siedler alle nötigen Arbeiten verrichtet hatten, begann für sie ein Leben, das frei war von jeder Sorge um die Zukunft. Der fruchtbare Boden beschenkte sie mit Nahrung im Überfluß. Wie die Überlieferung berichtet, waren die Bewohner von Atlantis ein glückliches Volk. Kurzweilig, auf angenehme Weise verbrachten sie die Zeit. Die Frauen schmückten sich mit Gold und einem zauberhaften Metall, das bei Anbruch der Dunkelheit in mattem, geheimnisvollem Licht erstrahlte. Die Männer erlangten in der Kriegskunst eine ungeahnte Geschicklichkeit. Sie handhabten die Waffen zur Verteidigung ihres Lebens so meisterhaft, daß sie bei Turnieren und militärischen Wettkämpfen einander keine Schramme mehr beibringen konnten. Die wagemutigen Kinder der Atlantisbürger aber stürzten sich von den höchsten Felsen ins Meer. Sie lachten und tollten im Wasser, daß es eine Lust war, und schwammen weit hinaus — bis dorthin, wo die lustigen Fischlein mit ihren krummen Rücken Purzelbäume schossen. Dann brach eine Zeit an, da die Bewohner von Atlantis in den Wissenschaften und Künsten sowie bei der Verschönerung ihrer Wohnstätten solche Erfolge erzielt hatten, daß die Grenzen des Möglichen erreicht schienen. Sie sagten die Bewegungen der Gestirne voraus und die Richtung, aus der die Winde wehen würden. Vor den Fenstern brachten sie steinerne Gardinen an, fast so fein wie Spinngewebe. Auch lernten sie, aus Blumen Farbe herzustellen und aus den Erzen der Erde Metalle zu gewinnen. Von den Gärten des Herrschers trug jedes leichte Lüftchen liebliche Weisen ans Ohr. Wenn der Wind zunahm, erklang die Musik lauter und lauter, bis sie das Tosen der Brandung übertönte. Bei Sturm aber lag eine machtvolle Melodie über der Stadt. Sie erfüllte die Straßen und packte die Menschen, als sängen Himmel und Erde in urgewaltigem Chor. Dies war das Lied der Gärten, in denen alle Sträucher und Bäume aus purem Gold bestanden und aus dem zauberhaften Metall, das bei Anbruch der Dunkelheit in mattem, geheimnisvollem Glanz erstrahlte. So lebten die Menschen von Atlantis. Viel Zeit verging, bis sie erfuhren, daß aller Reichtum sowie ihr Leben vergänglich waren. Da schlich sich die Furcht in ihre Herzen." ,Jurka, ins Bett mit dir!" „Ja, gleich, Papa."  Vaters Stimme klang faul, verschlafen, und Jurka wußte: Wenn ich ein paar Sekunden ruhig sitze, träumt er wieder: Acht Stunden ist er gestern in der Luft gewesen, ist mit seiner „Schawruschka", dem zweisitzigen Amphibienflugzeug Sch-2, über die Taiga geflogen, jetzt wird er vor Mittag kaum aus den Federn finden. Früher hatte es Jurka immer ein wenig gewurmt, daß der Vater keine großen Maschinen fliegt und nie höher steigt als tausend Meter, daß er auf den gewundenen Taigaflüßchen landet, die so schmal sind, daß man einen Stein darüberwerfen kann, oder auf den öden Seen, oder auf dem Jenissej oder irgendeinem fernen steinigen Fleck. Im vorigen Jahr änderte Jurka seinen Standpunkt. Das war, als Papas „Schawruschka" mit dem Bauch in einem unter Wasser verborgenen Haufen von abgesunkenem Flößgut hängenblieb und die ganze Abteüung länger als vierundzwanzig Stunden nach dem Verschollenen suchen mußte. Da begriff der Junge, daß dieses niedrige „Insektenschwirren", bei dem der Pilot das Recht hat, „seinen Landungsplatz nach eigenem Gutdünken zu wählen", weit gefahrvoller ist als ein Langstreckenflug in der modernsten Maschine. Von diesem Tag an bemerkte Jurka, daß der Vater, wenn er von der Arbeit nach Hause gekommen war, bisweilen über dem Abendessen einschlief und des Nachts häufig im Traum redete. „Jurka!" „Gleich, Mutter." Aber Mutter läßt nicht mit sich umspringen wie Vater. Sie kriecht aus dem Bett, zieht den Morgenrock über, kommt aus dem Schlafzimmer getapst. Dann steht sie in der Tür, mit halbgeschlossenen Augen, weil die Sonne blendet. Es war zwei Uhr morgens. Wo die Straße aufhörte, zog eine leuchtende Riesenapfelsine empor. Die Wolken am Himmel und der Rauch über den Schornsteinen waren purpurrot gefärbt. Im gedämpften Morgenlicht wirkten die Dinge kantig und scharf. Ein Hund, der mitten auf der Straße schlief, warf einen ungewöhnlich langen, zerrissenen Schatten. Vom Jenissej her scholl der törichte Ruf eines Tauchers herüber. Jurka hatte keine Lust zu schlafen. Er schob mit dem Ellbogen wie zufällig die Aktentasche über das neben ihm liegende Heft und bettelte: „Noch eine halbe Stunde, Mutti." „Sofort legst du dich hin! Morgen kommst du wieder nicht aus den Federn. Den ganzen Tag hast du Zeit gehabt." Aber Jurka ließ sich so nicht abspeisen. „Wir müssen morgen einen Aufsatz abgeben", schwindelte er. „Ich bin gleich fertig." „Das schaffst du schon. Du brauchst doch erst zur zweiten Schicht in die Schule." Einige Minuten feilschten sie noch, im Flüsterton, damit Vater nicht wach wurde, dann gab Jurka klein bei. Er zog sich aus. Aber als Mutter fort war, stand er nochmals auf, holte unter der Aktentasche das blaue Heft hervor und sprang wieder ins Bett. Die winzigen Buchstaben zu entziffern war nicht einfach, zumal der Besitzer des Heftes zahlreiche Wörter durchgestrichen und die Verbesserungen darübergeschrieben hatte. Jurka las bereits den zweiten Tag, mühsam, ähnlich wie man ein Bilderrätsel deutet, wählte hier ein Wort aus, dort eins, bemühte sich, die dazwischenliegenden Stellen zu erfassen, in den Sinn der tanzenden Schnörkel einzudringen, um schließlich alles zu einem Ganzen zu verbinden. Bisher hatte er weder Dimka noch Petka von seinem Fund erzählt. Erst wollte er den gesamten Text enträtseln. Na, die beiden würden Augen machen. Wie mochte dieses Heft, in dem von so Geheimnisvollem und Unbekanntem die Rede war, nur vor das Haus gekommen sein, und wer hatte das alles aufgeschrieben? Jurka brannte darauf, zu erfahren, wo er das Land mit dem klingenden Namen suchen sollte. Atlantis — das klang anheimelnd und vertraut. Aber Jurka ist nicht nur ein Träumer, sondern auch ein Neidhammel, eifersüchtig auf die Geier, die, wie es scheint, stundenlang ohne Flügelschlag dahin-schweben. Diese dummen Vögel! Ihnen ist es beschieden, hoch in die Lüfte zu steigen. Doch was wissen sie von ihrem Glück. In ferne Länder könnten sie fliegen, über große Städte, Berge und Dschungel hinweg, um alles zu sehen, wovon Jurka nur in Büchern gelesen hat. Aber die Geier fliegen nicht fort. Sie kreisen immer über dem gleichen Fleck, und selbst wenn sie eine Beute erspäht haben, sieht es aus, als glitten sie nur zögernd zur Erde. Jurka beneidet auch die Kapitäne auf den Lastkähnen mit den nach Teer riechenden Brettern. Schiffe sind nicht so schnell wie Vögel, aber sie ziehen in die Ferne. Dickbäuchig, im Konvoi fahren sie durch die Flüsse bis zum Meer. Die unrasierten, barfüßigen Kapitäne trocknen auf den Dächern ihrer Kajüten die Nesselhemden. Auch sie scheinen nichts von ihrem Glück zu ahnen. Kurz, Jurka ist eifersüchtig auf jeden, der das Glück hat, die Welt zu sehen, er beneidet alles, was da kriecht und fliegt, gleichgültig, ob es über Schienenstränge poltert oder in eine Staubwolke gehüllt durch die Straßen rast. Er bewundert alle Helden und Reisenden. Was er um sich her erblickt, kommt ihm langweilig und gewöhnlich vor. „Ich bin schon fast dreizehn", hat er neulich zu seinem Vater gesagt, „aber aus Ust-Kamensk noch nicht rausgekommen." Da hat ihn der Vater ausgelacht. Jurka war beleidigt. Ach, es ist schon ein Kreuz. Nicht einmal der eigene Vater begreift, wie herrlich es wäre, jeden Tag in einer anderen Stadt zu sein. Als der Schlaf endlich kam, sah Jurka azurne Wellen und träumte von Häusern, durch deren Fenster die Fische schwammen. Ja, das blaue Heft war in die richtigen Hände geraten.  IV  Der Große und der Kleine Wenn Jurka den Wunsch verspürt, mit offenen Augen zu träumen, geht er an den Fluß. Stets braucht er jemand, der ihm zuhört. Aber zuzuhören ist schrecklich schwer, weil jeder von sich erzählen möchte. Kaum ist ein Satz zu Ende gesprochen, geht es los: „Ja, sehr schön. Aber ich, versteht ihr, ich mache das so..." Und obgleich Jurka ganz genau weiß, daß er jetzt etwas viel Wichtigeres zu sagen hätte als der andere, folgt er dem Gebot der Höflichkeit und schweigt. Weil er gern reden möchte, schwillt ihm die Zunge im Mund, doch er hält sich zurück.  Was sind das für langweilige Kerle, denkt er traurig, haben immer nur sich im Kopf. Wen interessiert schon ihr Geschwätz. Da lobt er sich Pawel, den Hafenmeister. Das ist ein eigenartiger Mensch. Manchmal gibt er sich furchtbar erwachsen und tut unnahbar, besonders wenn jemand in der Nähe ist. Dann weiß Jurka, daß Pawel älter wirken möchte, wie ja überhaupt alle Menschen für älter gehalten werden wollen, als sie tatsächlich sind, jedenfalls meint das Jurka. In seinem Zimmer an der Anlegestelle aber ist Pawel wie ausgewechselt. Dort zeigt er seinem kleinen Gast gefährliche Judogriffe, oder er nimmt die Gitarre zur Hand und singt und spielt. Seine Lieder sind für Jurka freilich noch ein wenig zu hoch. Sie handeln von Mädchen, die am Ufer stehen und sehnsüchtig in die blaue Ferne schauen. Manchmal klingt es ganz traurig: „Doch von den drei Männern kehrt keiner zurück. Sie sanken in die Tiefe mit brechendem Blick..."  Aber Pawel kann auch zuhören, und das ist die Hauptsache. An jenem Tag nun, als Jurka zur Landungsstelle ging, stand ein Matrose am Geländer. Statt den Gruß des Jungen zu erwidern, brummte er nur: ,,Da bist du ja schon wieder." „Das stimmt", entgegnete Jurka. „Wenn ich euch noch einmal hier unten beim Angeln erwische, zerbreche ich eure Ruten und werfe sie ins Wasser. Ihr trampelt mir noch den Steg kaputt." „Ist Pawel Alexejewitsch zu Hause?" fragte Jurka trocken. „Was willst du von ihm?" erwiderte der Matrose, sichtlich gelangweilt. „Er ist wohl dein Freund?" „Das weiß ich nicht genau", meinte Jurka. „Aha", erklang es tiefsinnig und gedehnt aus dem Mund des Matrosen. „Weißt du überhaupt etwas?" Da wurde Jurka böse. „Also wo ist Pawel Alexejewitsch?" fragte er ungehalten. „Beim Training." Der Matrose nickte in die Richtung, wo die Tunguska fließt, fügte jedoch schnell, als wäre ihm plötzlich noch etwas eingefallen, hinzu: „Aber was verstehst du davon? Dumm geboren und nichts dazugelernt. Wozu gehst du überhaupt in die Schule? Nur das eine schreib dir hinter die Ohren: Aus euren Angeln mache ich Kleinholz, ich sage das nicht zum Spaß. Von euch Rotznasen werde ich den Steg sauberhalten, so wahr ich kein Rotkopf bin." Jurka maß die Entfernung bis zur Treppe mit den Augen. „Ein Rotkopf sind Sie nicht", sagte er, „das weiß ich, aber ein Glatzkopf." Der Matrose, der selbst bei Tisch die Mütze aufbehielt, erstarrte. Er vergaß sogar den Mund zu schließen. Jurka hatte sich schon aus dem Staub gemacht. Das Herz drohte ihm zu stocken. Er empfand Angst und berauschte sich zugleich an seiner Kühnheit. Der Matrose rief ihm etwas nach, Ausdrücke, wie sie ein Erwachsener nie in den Mund nehmen sollte, am allerwenigsten vor Kindern. Jurka lief an den letzten Häusern der Siedlung vorbei. Am Hang standen wie Frauen in Bauerntracht die dreieckigen Gatter der Blinkanlage mit den runden Leuchtköpfen. Hoch oben zogen dicke, schwere Wolken über den Fluß. Was sich im Wasser spiegelte, erinnerte an Türme, Kuppeln, menschliche Gestalten. Glichen diese Gebilde nicht dem Weichbild einer Stadt? Stand er nicht vor Atlantis? Freilich dort lebten große, dunkelhäutige Menschen. Sie trugen weiße Kleider, waren bärenstark und sprachen mit wohlklingender Stimme. Im blauen Wasser schwammen sie von Insel zu Insel. Die Wellen spülten rosige Muscheln aufs Land, die, wenn man sie ans Ohr hielt, rauschten, als sei in ihren Windungen die jahrtausendealte Musik des Meeres eingefangen. Nachts trompeteten in den Wäldern die Elefanten. Und es sangen die goldenen Gärten des Herrschers. Auf den Marmorstufen standen lanzenbewehrte Wächter. Ein wunderbares Land! Hier war alles vollkommen, dem Menschen Untertan und dienstbar. Die Sonne sank dem Horizont entgegen. In den Fichten summte der frühe Abendwind. Vom Ufer fort schwammen gekräuselte Silberstreifen um die Wette. Jurka kletterte den steinigen Hang nach oben, hockte sich nieder. Auf dem Fluß plätscherten Wellen. Der Wind wurde kräftiger. Er zerpeitschte die Schaumkronen und jagte weiße Knäuel gegen die Strömung. Hinter einer Biegung kam ein Einbaum hervor. Auf dem Boden des Bootes saß mit ausgestreckten Beinen der Hafenmeister. Die Dienstmütze lag auf seinen Knien. Er ließ den Kahn am Ufer treiben, stieß ihn nur von Zeit zu Zeit mit dem Ruder ab. Dann steuerte er auf die Mitte des Flusses zu. Das Wasser klatschte gegen die dünne Wandung. Wo Jurka hockte, hörte es sich an wie Schläge auf eine leere Tonne. Nun sah er auch deutlich, wie aufgewühlt die Tunguska war. Der Einbaum verschwand in ihren Fluten. Jurka hatte den Eindruck, daß der Hafenmeister nicht in einem Boot, sondern auf dem Wasser saß. Pawel ruderte bis ans andere Ufer, dann wendete er. Die Stellen, wo die Wogen am höchsten gingen, schienen es ihm besonders angetan zu haben. Als die Flußmitte wieder erreicht war, hörte er zu rudern auf, stellte den Einbaum quer und ließ sich stromab treiben, wobei er träge das ins Wasser getauchte Ruder bewegte. Jurka, der sah, wie die Wellen an der Bootswand hochschossen, bekam eine. Gänsehaut. Ihn fröstelte, wenn er sich vorstellte, daß einige Spritzer auf den im Einbaum sitzenden Pawel niederregneten. Etwa eine halbe Stunde spielte der Hafenmeister mit Wasser und Wind. Endlich legte er unterhalb des Platzes, wo Jurka saß, an und kletterte heraus. Er zog seinen Tabaksbeutel hervor, stopfte sich eine Pfeife. „Guten Tag, Pawel Alexejewitsch", grüßte Jurka leise. Der Hafenmeister zuckte zusammen, ließ die Streichholzschachtel fallen und drehte sich mit schuldbewußtem Lächeln um. Als er Jurka erkannte, legte sich sein Gesicht in finstere Falten. „Hast du was gesehen?" fragte er mürrisch. Sein Stiefel trat gegen das Boot. „Freilich", bestätigte Jurka. „Die Wellen sind heute wunderbar." Pawel warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, pustete die Backen auf, wobei er kräftig schnaubte, und hielt ein Streichholz an die Pfeife. Der Qualm machte ihm zu schaffen. Er zwinkerte, aber sein Tabak wollte nicht brennen, so wütend der Hafenmeister auch an dem Mundstück zog. Eines stand fest: Pawel Alexejewitsch hatte keinen blassen Schimmer vom Rauchen. „Was sitzt du da eigentlich rum?" brummte er ungnädig. Jurka sprang auf die Füße und trat näher. „Bloß so", sagte er. „Weißt du, ich möchte mit dir reden. Atlantis. Kannst du mir etwas über Atlantis verraten?" „Atlantis?" wiederholte Pawel, dachte eine Weüe nach und meinte: „Ich wette, das ist ein Nachschlagewerk über den Atlantischen Ozean. Ein Buch für den Steuermann. Dort sind alle Riffe verzeichnet und die Strömungen. Natürlich auch die Ephemeriden." „Ist das ein Land?" „Ach wo, eine Tafel für die Schiffahrt. Der tägliche Standort von Sonne, Mond und Planeten ist dort eingetragen. Klingt hübsch, der Name, nicht? Trotzdem findest du darauf nichts als Zahlen." „Nein, dann stimmt es nicht. Atlantis ist ein Land. Weißt du, was für eins? Pawel Alexejewitsch! Wenn du willst, beschreibe ich es dir. Ich habe bis jetzt mit niemand darüber gesprochen. Du bist der erste." ,,Na, dann schieß los", willigte Pawel ein. Und Jurka erzählte. Nichts wurde vergessen von allem, was er in dem blauen Heft gelesen und selber hinzugesponnen hatte. Zum Schluß schaute er Pawel an in der Erwartung, auf seinem Gesicht Erstaunen und Entzücken zu finden. „Vielleicht ist es nur eine Geschichte", brummte der Hafenmeister. „Wieso eine Geschichte!" empörte sich Jurka. Er schrie jetzt fast: „Das ist ein Land, sage ich dir, ein Land, in dem die Sonne fast nie untergeht." „Spaßvogel. Bei uns in der Polarzone scheint die Sonne ein halbes Jahr lang, aber wo gibt's hier Palmen, frage ich dich?" „Das war ja auch vor langer Zeit", meinte Jurka rechthaberisch. „Jetzt ist das Land im Meer versunken. Und wer sagt überhaupt, daß es in der Nähe des Polarkreises gelegen hat?"  „In dem Heft steht das wohl nicht?" „Eben nicht." „Wenn es man nicht doch in unserer Gegend gewesen ist." Pawels Stimme klang belustigt, zugleich aber nachsichtig. Er war der Erwachsene. Jurka pflegte in solchen Dingen nie zu scherzen. Er übersah sogar das Lächeln, das um Pawels Lippen spielte. „Weißt du was", rief er erfreut aus, „das habe ich auch schon gedacht. Warum soll es eigentlich nicht hier gewesen sein?" Daß Jurka die Sache so ernst nahm, machte Pawel unsicher. „Freilich", gab er unerwartet zu. „Paß auf, was ich dir jetzt sage, Jurka. Früher herrschte hier ein anderes Klima. Es gab auch Palmen und Mammuts. Das habe ich gelesen. Und vor noch längerer Zeit war hier Wasser. Wo wir beide in diesem Augenblick stehen, befand sich ein Meer. Sogar ein Ozean war das, na, und in einem Ozean gibt es natürlich auch Inseln. Und weißt du, wer diese Inseln bevölkerte? Affen — das heißt nur am Anfang", verbesserte er sich schnell, da er bemerkte, daß Jurka mißtrauisch aufschaute. „Später kam dann der Mensch. Wie ich gehört habe, hat man in der Tundra, irgendwo im ewigen Frostboden, eine ganze Siedlung gefunden, und im Eis wurde ein Mensch entdeckt, der war eingefroren und viele tausend Jahre alt." „Ja, und der Stoßzahn — weißt du, in unserer Stadt haben sie doch einen Stoßzahn gefunden", flocht Jurka schnell ein. „Dann diese Elfenbeinfigur, wo bloß der Kopf abgebrochen war." „Ich erinnere mich", bestätigte Pawel, der fühlte, daß es schon nicht mehr möglich war, das Gespräch ins Scherzhafte zu wenden. Auch konnte er nicht einfach schweigen. Er hätte Jurka tödlich beleidigt und erzählte deshalb munter weiter. Da erstanden Pompeji und Herkulanum aus ihrer Asche. Vom Boden der Meere erhoben sich die schwerbeladenen spanischen Karavellen. Die Anden schüttelten den Staub der Ruinen ab; peruanische Inkastädte erwachten zu neuem Leben. Pawel bestritt das Gespräch nicht allein. Vieles hatte er vergessen. Doch wenn er nicht weiter wußte, half Jurka, der sich gleichfalls an mancherlei erinnerte, was er gehört oder gelesen hatte. Zu der Weisheit, die aus Büchern und Vorträgen stammte, traten Bruchstücke aus eigenen Träumen. So stellte sich die Vergangenheit in nie dagewesener Schönheit dar. Die Phantasie malte sie in buntschillernden Farben, als eine  unvergängliche Welt aus Gold und Marmor. Aber es war, wie es bei den beiden meistens zu sein pflegte. Sie hatten sich noch längst nicht alles von der Seele geredet, als der Abend anbrach. „Lauf nach Hause", mahnte Pawel, „sonst setzt es was. Und für mich ist es auch Zeit." „Es setzt nichts", widersprach Jurka. „Bei uns wird nicht geschlagen. Meine Eltern erziehen mich durch Worte. Das ist aber noch schlimmer. Wenn man seine Prügel weghat, ist alles vergessen. Worte sind schrecklich." „Ja, das ist wahr", gab Pawel zu. „Mit Worten kannst du einen Menschen sonstwohin treiben. Verrate keinem, daß du mich hier getroffen hast, hörst du." „Ach wo, uns verstehen sie sowieso nicht", entgegnete Jurka hitzig. „Was wissen die, wie schön es ist zu träumen." „Da hast du recht", sagte Pawel und seufzte, „für so was haben sie kein Verständnis. Drei Gesuche habe ich schon geschrieben. Aber denkst du, ich komme weg?" Es war kein Geheimnis, daß Pawel davon träumte, die Welt kennenzulernen. Die Tabakspfeife, das „Handbuch für den Steuermann in der Barentssee", das er auswendig herbeten konnte, und der kleine, auf den Unterarm tätowierte Anker qualifizierten ihn freilich noch nicht zum Seemann. Aber er litt an einer unbändigen Sehnsucht nach dem Meer. Sämtliche Gesuche, die er an die Verwaltung gerichtet hatte, waren mit abschlägigem Bescheid zurückgekommen. Pawel fühlte sich vor den Kopf gestoßen, wurde indes nicht müde, immer wieder neue Anträge zu schreiben. Wenn die Matrosen sahen, wie er in der Nähe des Hafens gegen die Wellen kämpfte, um sich abzuhärten und nicht mehr seekrank zu werden, lachten sie über ihn. Er blieb unverdrossen, wartete nur bis zum nächsten Sturm, um sich erneut in die Wogen zu stürzen.  „Also kein Wort, daß du mich gesehen hast." „Ich bin stumm wie ein Fisch." „Dann laß dir's gut gehn. Und wenn du wieder zum Hafen kommst, vergiß die Angel nicht. Ich werde dafür sorgen, daß sie dich in Ruhe lassen", rief Pawel, schon vom Fluß her. „In Ordnung", schrie Jurka zurück. Er mußte an den Matrosen von vorhin denken und lächelte. Nein, das Tor zum Angelplatz war jetzt zugeschlagen. Jurka schritt am Ufer entlang und pfiff vor sich hin. Die Sonne hatte sich hinter dem Horizont verkrochen. Über der Stelle, wo sie versunken war, hingen glutrote Wolken.  V  Noch einmal in der Schule Oberhalb des Ufers drängten sich die Häuser, als wären sie von weither gelaufen gekommen und hätten vor dem Hang ängstlich haltgemacht. Dazwischen schimmerte in kurzen Streifen der Jenissej hindurch. Die Fenster des Klassenzimmers standen sperrangelweit offen. Der Fluß hallte wider vom Stöhnen der Schiffssirenen. Dort trieben Lastkähne und Flöße stromab. Langsam bahnten sich die Tanker durchs Wasser einen Weg. Raddampfer zerhämmerten mit ihren Schaufeln das Spiegelbüd der Wolken in viele kleine Splitter. Unaufhaltsam ging es weiter — in die Igarka, in die Dudinka, ins Meer. Durch die Straßen schlichen Hunde, trunken von der Hitze. Ein ungewöhnlicher Sommer hatte in Ust-Kamensk Einzug gehalten. Petkas Platz war in der Fensterreihe. Die Sonne brannte ihm auf den Pelz. Aus weiter Ferne schlugen die Worte des Lehrers an sein Ohr. Viel deutlicher war das hohe, aufreizende Kreischen zu hören, das von der Sägemühle herüberklang.  Vor Petka saßen Dimka und Jurka Alenow. Jurkas Gesicht war nicht zu sehen, aber an der Art, wie er den Rücken krümmte und zusammenfuhr, sobald der Lehrer die Stimme hob, erkannte Petka, daß sein Freund schmökerte. Jurka preßte das Buch von unten her gegen die Bankplatte, so daß durch den Klappenspalt immer nur zwei, drei Zeilen zu sehen waren. Offenbar machte es ihm nichts aus, daß er nachher alles noch einmal zusammenhängend lesen mußte. Bei Büchern hatte Jurka eine glückliche Hand. Die er mitbrachte, waren immer interessant, selbst wenn sie zeilenweise gelesen wurden. Petka seufzte. Er durchsuchte seine Taschen. Sie waren leer. Mutter hatte die Hose gestern gewaschen und vorher alles herausgenommen. Petka betrachtete die Decke. Wie glatt sie war. Weiß in weiß, ohne Risse. Langweilig. Mit gewohnter Sicherheit streckte er die Hand aus, erwischte die Haarschleife seiner Nachbarin und zog daran. Jeder Griff saß. Petka brauchte nicht einmal hinzuschauen. Die frühere Lehrerin hatte Sonja neben ihn gesetzt, damit das Mädchen einen günstigen Einfluß auf ihn ausübte. Aber das war zuviel verlangt. Sonja hatte vor Petka Angst. Wortlos rückte sie ab und ging daran, sich den Zopf wieder zu flechten. Wie gebannt hing ihr Blick an den Lippen des Lehrers. Petka jammerte in sich hinein: Ist das langweilig! Schließlich hielt er es nicht mehr aus, richtete sich halb auf und blickte Jurka über die Schulter. Was mochte der wohl lesen? „Issajew!" Natürlich, man brauchte nur den kleinen Finger zu rühren, schon war man aufgefallen. Die anderen wurden auch zur Ordnung gerufen, aber Petka konnte schwören: nicht halb so häufig wie er. Außerdem hatte er den Eindruck, daß Viktor Ni-kolajewitsch seinen Namen mit heimlicher Gehässigkeit aussprach: ,,I-ssa-jew", abgehackt, jede Silbe für sich. Dafür rächte sich Petka, indem er stets einen gewollt rauhen Ton anschlug. Alles an dem neuen Lehrer war ihm zuwider, seine verstohlenen Blicke nach dem Heft mit den Unterrichts Vorbereitungen, das aufgeschlagen vor ihm lag, die Brille, die er immer dann aufsetzte, wenn er wütend war, seine Art zu sprechen: übertrieben deutlich und gewählt. Allerdings vermochte Petka nicht zu sagen, weshalb ihm der eine oder andere Zug an Viktor Nikolajewitsch mißfiel. Er konnte ihn eben nicht leiden, das war alles. Natürlich wußte der Lehrer, woran er mit Petka war. Da er Offenheit über alles schätzte, hätte er den aufsässigen Schüler am liebsten beiseite genommen und rundweg gefragt: „Hör mal, Issajew, was habe ich dir eigentlich getan?" Eine Aussprache schien um so dringlicher, als ihn die scheelen Blicke des Jungen bei der Arbeit störten. Jedoch war Viktor Nikolajewitsch überzeugt, daß er nur wieder eine Grobheit hören würde. Darum fragte er Petka gar nicht erst. Voll Neid dachte er an die älteren Lehrer, die mit derartigen Schwierigkeiten spielend fertig wurden. Bei ihm war alles wie verhext. Er bereitete sich außerordentlich gründlich auf den Unterricht vor. Trotzdem rutschte ihm bisweilen ein falsches Wort heraus. Dann war er wie aus allen Wolken gefallen und brachte es nicht übers Herz zu tun, als wäre alles in bester Ordnung und als hätte er sich gar nicht geirrt. Es ist eben nicht einfach, keinen Fehler zu machen, wenn man von dreißig Augenpaaren angeblickt wird. Und ein Schüler wie Issajew merkt alles. Jederzeit sich selbst in der Gewalt zu haben und gleichzeitig zu sehen, was in der Klasse vorgeht, ist eine Kunst, die Viktor Nikolajewitsch noch nicht beherrschte. „Issajew", rief er zerstreut, weil er gerade an Petka gedacht hatte, aus keinem andern Grund. Petka erhob sich. „Was ist denn mit Issajew?" fragte er beleidigt und herausfordernd zugleich. Aus seiner Stimme sprach eine Kriegserklärung, aber der Lehrer ging nicht darauf ein. „Entschuldige, ich habe mich versprochen. Alenow, wiederhole, was ich soeben erklärt habe." Jurka fuhr in die Höhe. Das Heft rutschte von seinen Knien und klatschte auf den Fußboden. „Sie haben erklärt... Sie haben erklärt, daß Sie sich soeben versprochen haben." Die Klasse war entzückt. Einige krümmten sich vor Vergnügen. Man lachte offen und gründlich, gar nicht mal, weil die Sache so lustig war, sondern einfach, weil sich endlich ein Grund gefunden hatte, fröhlich zu sein. Sogar der Lehrer unterdrückte nur mit Mühe ein Lächeln. Seine Lippen zitterten bedrohlich, seine Augen wurden rund und heiter. Schließlich war es der letzte Tag vor den Ferien. „Was hast du dort eigentlich unter der Bank, Alenow? Gib einmal her!" „Ich? Wieso? Nichts." Jurka schob das Heft mit dem Fuß zu Dimka. „Polujanow, heb das auf und bring es vor." Dimkas Blicke gingen zwischen dem Lehrer und Jurka unentschlossen hin und her. Endlich hatte er sich entschieden und streckte die Hand nach dem Heft aus. „Viktor Nikolajewitsch, Sie werden verstehen", flehte Jurka, „das kann ich Ihnen nicht zeigen, keinem Menschen. Ehrenwort." „Was ist es?" „Ein Heft." „Gut", entschied der Lehrer, „ich werde dein Heft nicht lesen. Aber bis zum Ende der Stunden lassen wir es auf meinem Tisch liegen." Das wollte Jurka nicht. Er hatte Angst. Erwachsene sind schrecklich klug, aber unberechenbar. Sie verstehen sehr viel und auch sehr wenig. Mit einem Lächeln oder einem einzigen Wort können sie zerstören, woran ein Kind mit ganzem Herzen hängt. Jurka verspürte keine Lust, der Aufforderung nachzukommen. Dimka hatte sich jedoch schon gebückt. Da kroch Petka unter die Bank, riß das Heft an sich und steckte es in die Tasche. Das ging so schnell, daß der Lehrer nur einen flüchtigen Eindruck von etwas Blauem hatte, das auftauchte und wieder verschwand. „Issajew, gib es her." „Das tue ich nicht." „Weshalb nicht?" „Es gehört nicht mir." „Issajew!" Die Stimme des Lehrers klang ruhig, aber von seinem Gesicht war das Lächeln verschwunden. „Hör zu, Issajew. In dieser Klasse gibt es dreißig Schüler. Wenn mir einer nicht gehorcht, denken die anderen, sie brauchen es auch nicht. Ich kann niemandem Sonderrechte einräumen. Du mußt mir das Heft geben." „Als Sie noch zur Schule gingen — Sie hätten es hergegeben?" „Ich hätte es getan. Und du mußt es auch tun." „Ich tue es aber nicht." „Und weshalb nicht?" „Weil es nicht meins ist." Durch die Klasse ging verhaltenes Lachen. Der Lehrer lief rot an. „Issajew, verlaß den Raum." „Warum?" „Hinaus. Sonst gehe ich." Sonst gehe ich. Diese Worte hätten den widerspenstigsten Schüler erweicht. Sie verfehlten ihre Wirkung auf Issajew. „Aber weshalb bloß?" Die Klasse, die still geworden war, blickte erschrocken und ehrerbietig zu Petka auf. „Wenn du nicht unverzüglich den Raum verläßt", sagte der Lehrer langsam, „werde ich deinen Ausschluß aus der Schule beantragen." Jetzt begriff auch Petka, daß er etwas zu weit gegangen war. Aber einfach klein beigeben? Nein, das war nicht nach seinem Geschmack. Er ging bis an die Tür, drehte sich um. „Ich habe Ihnen nichts getan, und Sie haben kein Recht, mich anzuschreien", erklärte er, obwohl Viktor Nikolajewitsch nicht daran gedacht hatte zu schreien. Im Gegenteil, seine Stimme hatte unnatürlich ruhig geklungen. Petka schloß die Tür hinter sich. Der Lehrer hörte, wie er sich entfernte und dabei absichtlich laut mit den Absätzen knallte. „Polujanow, lauf bitte hinter Issajew her. Sage ihm, daß wir beide nach der Stunde zum Direktor gehen." Dimka flog aus der Klasse. Die übrigen Schüler saßen mit gespitzten Ohren. Sie starrten den Lehrer an. Was würde jetzt geschehen? Es geschah nichts, nur daß die Hand mit der Kreide ein wenig zitterte. So wurde die Linie, die Viktor Nikolajewitsch an der Tafel zog, nicht gerade, sondern krumm. Er wischte sie wieder fort, zog eine neue Linie, wischte auch diese aus und unternahm einen dritten Versuch. Nun war endlich alles in Ordnung. „Wir waren also bei der Feststellung stehengeblieben, auf jedem Menschen laste eine Luftsäule von „Soso, darauf pfeifst du", wiederholte der Direktor gedehnt und hart, „nun gut." Er nahm ein Blatt Papier sowie einen Bleistift und legte beides auf den Tisch. „Setz dich. Schreib." „Was soll ich schreiben?" fragte Petka verdutzt. „Folgendes: Ich habe keine Lust, ein Angehöriger der Intelligenz zu werden." Petka wurde unruhig. Ob ihm das noch eine Sonderstrafe einbringen konnte?  „Schreib!" Mit widerstreitenden Gefühlen ergriff der Junge den Bleistift, setzte sich auf den Rand des Stuhls und kam der Aufforderung des Direktors nach. „Ich habe keine Lust, ein Angehöriger der In..." An dieser Stelle stutzte er, dachte ein wenig nach, schüttelte den Kopf und schrieb entschlossen: „.. .tilegenz zu werden." „In Ordnung", meinte der Direktor. „Aber ein gebildeter Mensch, einfach ein gebildeter, möchtest du wohl auch nicht werden? In einem Wort drei Fehler!" Petka war aufrichtig entsetzt. Er vergaß sogar, daß er den Direktor vor sich hatte. „Drei, Piaton Jakowlewitsch, das ist doch ein Witz?" Der Direktor lachte. Er bemerkte Petkas Verwirrung, wollte sich jedoch nicht daran weiden. „Geh jetzt, Issajew. Das nächste Mal denke daran: Ehe man etwas niederschreibt, strengt man seinen Kopf an. Erst denken, dann handeln. Und vergiß nicht, daß unser heutiges Gespräch das letzte ist. Hast du mich verstanden?" „Ja", erwiderte Petka. An der Tür blieb er stehen. Da ihm dämmerte, daß die Angelegenheit offenbar keine Folgen nach sich ziehen werde, fragte er hoffnungsvoll, schon halb im Scherz: „Muß ich meiner Mutter Bescheid sagen, daß sie herkommen soll?" „Verschwinde!" fauchte der Direktor und schlug mit der Faust auf den Tisch, Petka stürmte beglückt hinaus. „Das war mal wieder ganz Issajew", erklärte Platon Jakowlewitsch, während er auf das Geräusch der sich entfernenden Schritte lauschte. „Haben Sie gesehen? Schreit man ihn an, grinst er. Tut er einem leid, fühlt er sich vor den Kopf gestoßen. Sein Vater ist beim Holzflößen umgekommen. Die Mutter hat den ganzen Tag zu tun. Dann ist noch ein kleiner Bruder da. Petka spielt den Herrn im Hause. Arbeit gibt es genug. Er holt Holz aus der Taiga, wäscht ab, bisweilen kocht er auch das Mittagessen. Dabei ist er noch ein Kind. Wenn es ihm zu langweilig wird, rennt er aus dem Haus und vollführt alle möglichen Streiche, schreit herum, wirft den Leuten Frechheiten an den Kopf. In ihren Augen ist er ein Rowdy. Er kann machen, was er will, immer bekommt er das gleiche zu hören: ,Du bist ein Rowdy.' Das hat man ihm so lange eingetrichtert, bis er es schließlich selber glaubte. Jetzt beweist er den Leuten, daß sie recht haben. Letztes Jahr hat er sich mit einem Floß bis kurz vor die Igarka treiben lassen. Wissen Sie, warum? Weil die Mutter ihn beleidigt hatte. Er wollte auf eigenen Füßen stehen und sich seinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Meiner Ansicht nach hat er ein zu stark ausgeprägtes Würdegefühl. Er ist bereit, sich mit der ganzen Welt zu prügeln. Haben Sie noch nicht gemerkt, wie Sie ihn am empfindlichsten treffen können? Indem Sie Ihre Überlegenheit hervorkehren, ihn von oben herab behandeln. Wir Erwachsenen scheuen uns, mit Kindern als mit unseresgleichen umzugehen. Wir haben ein Recht darauf, stolz und selbstsicher aufzutreten, zu lieben, zu hassen. Und sie sollten dieses Recht nicht haben? Aber sie denken und fühlen wie wir, nur ihr Wissen reicht an das der Erwachsenen nicht heran. Dafür duldet ihr Ehrgefühl keinen Kompromiß. Was ihnen mißfällt, lehnen sie bedingungslos ab. Sie bauen an ihrer eigenen Welt. Für Spott gibt es dort keinen Platz. Um von den Kindern als ihresgleichen angesehen zu werden, muß man ein einfacher und aufrichtiger Mensch sein. Betrug können sie nicht vertragen. Ich beurteile mein Verhalten immer danach, wie sie mir entgegentreten, und ich würde mich glücklich schätzen, wenn mich einer von meinen Schülern aufforderte, mit ihnen Fußball zu spielen. Dieser Issajew ist stets im Unrecht, aber eine außerordentlich ehrliche Haut. Viktor Nikolajewitsch, Sie sind noch sehr jung. Ich weiß, Issajew wirkt manchmal unausstehlich. Doch jetzt etwas anderes. Ich verstehe, daß Sie im Augenblick noch schwer zu kämpfen haben. Ihnen zu helfen, gehört zu meinen Pflichten. Ich kann Ihnen nur den einen, sehr wichtigen Rat geben: Verhalten Sie sich jederzeit so, daß Sie von Ihren Schülern zum Fußballspielen eingeladen werden. Entschuldigen Sie, das soll keine Belehrung sein, aber ich verstehe Sie. Mir ist es genauso ergangen." „Ich möchte für alle stets nur das Beste", erwiderte Viktor Nikolajewitsch, nachdem er eine Weile überlegt hatte, „nur — sie begreifen es nicht. Sagen Sie, Platon Jakowlewitsch, bleibt das lange so?" Der Direktor verzog das Gesicht. Er war dermaßen groß und schwer, daß im Takt seines Lachens der Tisch und die daraufstehende Lampe erzitterten und die violette Tinte im Fäßchen kleine Wellen schlug. Erst jetzt glaubte Viktor Nikolajewitsch, daß der Direktor ihn tatsächlich nicht hatte belehren wollen. Petka war wie ein Pfeil den Korridor entlang und durch die Tür gesaust. Als er auf der Straße stand, wurde ihm bewußt, daß die Ferien begonnen hatten. Jurka und Dimka nahmen ihn in Empfang. „Bist du rausgeflogen?" „Ach was. Wir haben uns ein bißchen unterhalten. Über das Heft." „Petka", versprach Jurka gerührt, „du kriegst zwein Sechzehn-Millimeter-Patronen von mir. Du hast mich doch darum gebeten. Erinnerst du dich?" „Was steht eigentlich in deinem Heft?"  Jurka dachte einige Sekunden nach. „Gut", willigte er dann ein, „ich habe es noch keinem gezeigt. Ihr sollt Bescheid wissen. Vorwärts, zum Fluß." Aufgeregt und ausgelassen tollten sie durch die Straße, dann weiter am Ufer entlang. Im Bogen flogen die Büchertaschen die Böschung nach unten, sie selber sausten in einer Staubwolke hinterher. Jetzt waren sie keine Schüler mehr. Vor ihnen lag der Sommer.  VI  Das Geheimnis der Insel Azoris (Aus dem blauen Heft) „Im Norden von Atlantis gab es mächtige Berge. Lange nachdem die Sonne dahinter versunken war, leuchteten ihre Gipfel noch in rötlichem Licht, als seien sie glühend, und erloschen nur allmählich. Aber das Gebirge schien dem Land zu drohen. Die Menschen fürchteten sich vor den Bergen, weil sie schweigend und leblos vor ihnen standen. Nur diejenigen, für die unten kein Platz mehr war, wagten sich hinauf, beispielsweise zum Tode Verurteilte, wenn es ihnen gelang zu fliehen. Einst entkamen zwanzig Sklaven, die der Sonne geopfert werden sollten. Für die Bürger von Atlantis war die Sonne ein unersättlicher Gott und der Mond sein Bruder. Jene zwanzig Sklaven aber hatten wenig Lust, zu Ehren der fremden Götter zu sterben. In der Nacht erdrosselten sie ihre beiden Posten und flohen ins Gebirge. Sie liefen, bis der Morgen graute, höher und höher. Als die Sonne aufging, sahen die Atlantisbürger nur noch zwanzig schwarze Punkte, die an den Felsen zu kleben schienen. Später tauchten die Flüchtlinge im Schnee der Berge auf, ganz winzig schon. Dann verschwanden sie vollends. Keiner nahm die Verfolgung auf, denn es war bekannt, daß von dort niemand zurückkehrte. Zu Ehren der Sonne aber mußten zwanzig andere Menschen sterben.  In diesem wunderschönen und reichen Land gab es viele Sklaven. Zahlreich war die Nachkommenschaft der ersten Generationen, die den Atlantisbürgern gedient hatten. Manche von denen, die als Sklaven geboren wurden, ahnten nichts von ihrem Schicksal, bis sie herangewachsen waren und ihr Rücken das Brandmal erhielt. Von diesem Zeitpunkt an mußten sie arbeiten wie alle anderen. Bisweilen brachten die Schiffe neue Sklaven heran: Menschen mit breiten Schultern, mit Haut wie violett gefärbtes Ebenholz und schwarzem Kraushaar oder stolze, goldbraune Riesen mit feuchten, olivförmigen Samtaugen. Die Schwarzhäutigen kamen aus einem Land mit schwülen Wäldern und glühenden Sandwüsten, die Goldbraunen von den Inseln, die hinter der Meerenge im Osten lagen. Viele der Sklaven waren genauso schlank, muskulös und schön wie die Atlantisbürger. Aber sie mußten in Erdhöhlen vegetieren. Nur den Geschicktesten war es erlaubt, sich Hütten zu bauen. Unter ihnen gab es Waffenschmiede, deren Schwerter mit einem Schlag faustdicke Kupferstangen durchhieben. Weiter wird berichtet von Männern, die beinerne Blumen schnitzten, von Steinmetzen, die riesige Platten so kunstgerecht polierten, daß, wenn man zwei aufeinanderlegte, kein Haar dazwischen Platz hatte, und schließlich von Schmieden, die für sich und ihre Brüder Halsbänder und Ketten schmiedeten. Da war keiner, der nicht von der Heimat geträumt hätte. Die einen erinnerten sich an sie, die anderen, die in Atlantis geboren wurden, erfuhren von ihr schon aus den Wiegenliedern. Nachts waren die Sklaven frei. Der Traum führte sie weit fort aufs Meer. Sie ruderten an bekannte Ufer. Die Wellen erfaßten ihre Boote und setzten sie auf den heimatlichen Strand. Lange lagen sie im feuchten Sand, genossen den Salzgeruch der Luft, erfreuten sich am Anblick des grünlich blauen Waldsaumes und der Rauchsäulen, die über den Wipfeln der Bäume standen. Dort warteten ihre Hütten. Da erhoben sie sich und wanderten weiter, festen Schritts, ohne ein einziges Mal zurückzuschauen. Sie hatten die Freiheit wiedererlangt. Am Morgen erschollen die Rufe der Posten. Sie brachten sämtliche Träumer auf die Beine. Alles begann von vorn. Die Sklaven mußten den Boden umwühlen, Steine behauen, in Fellbehältern Wasser tragen. Am Himmel stand unverwandt die Sonne, schaute ihrem Tun teilnahmslos zu und versengte ihnen den Rücken. Alle schweren Arbeiten wurden von Sklaven verrichtet. Die freien Atlantisbürger taten nur, was leicht war und Freude bereitete. In ihren Liedern priesen sie sich als den weisesten, den größten Volksstamm, der die Erde bewohnte, denn sie glaubten, daß nur ein großes Volk andere Völker unterwerfen kann. Einmal erschien in ihrer Mitte tatsächlich ein wahrhaft großer und weiser Mann, aber er zählte zu den Sklaven. Er war hier geboren, auf der Insel Azoris, ein schlanker Mensch, mit biegsamem Körper und Muskeln, die härter waren als Elfenbein. Hoch trug er den Kopf, gar nicht, wie es seinem Stande entsprach, so daß ihn sein Herr, ein Priester des Sonnentempels, gewiß nicht ins Haus gelassen hätte, wenn es mit seiner Sehkraft ein wenig besser bestellt gewesen wäre. Denn ein Sklave, der seinem Herrn ins Auge blickt, ist ein schlechter Sklave. Der Priester jedoch war alt, sah schlecht und fand keinen Grund, mit ihm unzufrieden zu sein. Der Sklave ersetzte ihm Auge und Ohr. Wenn der Priester seine schwach gewordenen Sinne anstrengte, um heilige Schriftzeichen zu malen, stand der Sklave hinter ihm, gehorsam, zu jedem Dienst bereit. Er wurde Zeuge, wie sein Herr mit den anderen Priestern in Streit geriet, aber niemand bemerkte das Lächeln, das um die Lippen des stillen Lauschers huschte, sooft die Priester Unsinn schwatzten. Während der zehn Jahre, die dieser Sklave bei dem Diener des Sonnengottes verbrachte, lernte er mehr, als der Priester in seinem ganzen Leben gelernt hatte. Er beherrschte zahlreiche Dialekte und entzifferte als erster die Schriftzeichen auf den Steinplatten, die aus einer Zeit stammten, als an die Atlantisbürger noch nicht zu denken war. Ihm gelang es auch, das Geheimnis des steinernen Menschen zu ergründen. Er wußte, weshalb die Gestalt mit der einen Hand zum Himmel wies und die andere zur Erde hielt, als ließe sie etwas durch die Finger rieseln. So erfuhr er von dem unvermeidlichen Schicksal der Atlantisstädte. In den alten Schriften las er über das Schicksal verschwundener Völker, der ehemaligen Bewohner dieses Landes. Dreimal hatten sich auf den beiden Inseln Menschen niedergelassen, dreimal war ein Tag gekommen, an dem das Meer zu brodeln begann, die Erde erbebte und gewaltige Wassermassen gegen die Küste rannten. Aus den Bergen hagelte es Steine und Asche. Ein schwarzer, kochendheißer Regen prasselte auf die Erde. Die Menschen verkrochen sich in ihre Häuser und Höhlen. Die Häuser stürzten ein. In den Höhlen barsten die Gewölbe. Die Natur hatte sich gegen den Menschen erhoben. Sie gehorchte ihm nicht mehr. Wie die Tafeln berichteten, war von den Bergen ein geflügelter Drache aufgestiegen, um die Sonne zu verdunkeln und den Tag in Nacht zu verwandeln. Dann rollte eine Woge heran, die den Himmel verdeckte. Sie wälzte sich bis ans Gebirge und riß beim Zurückfluten alles, was sie auf ihrem Wege fand, mit sich fort ins Meer. Da brachten die Götter, die im Innern der Erde wohnten, vor Zorn die Berge zum Schwanken. Der Boden tat sich auf, stieß feurigen Atem aus. Ganze Inseln mit Städten, Wäldern und allem, was darauf war, versanken im Wasser. Lange währte die Nacht, die Finsternis. Als es endlich Tag wurde, eilten diejenigen, die am Leben geblieben waren, von Entsetzen gepackt davon. Sie ruderten übers Meer, das des Nachts im Licht zweier Monde lag. Die letzten meißelten vor der Flucht ihre Erlebnisse in steinerne Tafeln. Auch schufen sie ein Standbild des Gottes, dessen Zorn sich über ihnen entladen hatte. Die Inschriften sprachen davon, daß der Weg nach Westen führte. Aber es stand auch geschrieben, alle, die dieses Land später besiedelten, würde das gleiche Schicksal ereilen. Als der Sklave dies erfuhr, ergriff ihn derart die Furcht, daß er gegen das Gesetz verstieß und ungefragt seinen Herrn ansprach. ,Noch ist es nicht zu spät', sagte er, ,die See ist ruhig. Wir können fliehen. Befreie mein Volk. Auf fremder Erde werdet Ihr neue Sklaven finden." Als der verblüffte alte Priester aus seiner Erstarrung erwachte, überzeugte er sich davon, daß der Sklave ihn nicht belogen hatte. Da packte ihn kaltes Grauen. ,Du hast es weiter gebracht als ich', sagte er leise, doch aus seiner Stimme klang das Zischen einer Schlange. ,Nun gut. Du hast ergründet, was mir, einem Diener Gottes, zu ergründen nicht gegeben war. Nun gut. Doch soll außer dir niemand das Geheimnis erfahren. Da du ein geschwätziger Sklave bist, wirst du noch heute sterben.' Auf das Dröhnen des Gongs eilte die Wache herbei. Der Sklave wehrte sich verzweifelt. In dieser Minute war er stark wie eine ganze Elefantenherde, denn er wußte, wie nötig ihn sein Volk jetzt brauchte. Dieser Weise war ein Sklave, doch in seinem Herzen wohnte die Liebe zu den Menschen. Sie war es, die ihm diese urgewaltigen Kräfte verlieh. So entkam er ins Gebirge. Zehn der tapfersten Krieger von Atlantis lagen in ihrem Blut. Als die Dämmerung auf das Land sank, schlich sich der Flüchtling hinab in die Behausungen der Sklaven, wo er die Nacht verbrachte. Bevor die Sonne aufging, verschwand er wieder, diesmal für lange Zeit. Seit jenem Tage wußten die Atlantisbürger, was Furcht ist. Sie sangen die alten Lieder, und sie lachten, als wäre nichts geschehen, als hoffte ein jeder, daß man den Warnungen des Sklaven keinen Glauben zu schenken brauchte. Aber in den Häfen lagen abfahrbereit die Schiffe der Priester und des Herrschers. Da die Bürger dies sahen, verstärkte sich in ihren Herzen die Angst, und wenn sie lachten, blieben die Augen ernst. Mit dem Entsetzen wuchs der Zorn auf die Priester, die ihnen bei Todesstrafe verboten hatten, das Land zu verlassen. Um das Volk seine Unzufriedenheit vergessen zu machen, veranstalteten die Gottesdiener Feste und opferten der Sonne noch häufiger als zuvor. Diejenigen aber, die am Fuße der Berge wohnten, vernahmen aus der Erde ein dumpfes Stampfen. Bald hörte es sich an wie metallene Schläge auf Gestein, bald klang es wie das Getöse einer niedergehenden Steinlawine. Alle dachten, das seien die Götter, die dort unten lebten, sie bahnten sich einen Weg durch die Felsen. Von Entsetzen gepackt, verließen die Leute ihre Häuser. Was da in einer Höhle unter den Bergen lebte, war jedoch ein Mensch. Er hatte nur wenig zu essen, häufig quälte ihn der Durst, doch Tag und Nacht schuf er an seinem steinernen Reiter. Er arbeitete schnell, denn an den Höhlenwänden war zu hören, wie es in den tieferen Schichten des Erdinnern rumorte. Daher wußte der Sklave, daß das Ende nahe war. Und eines Tages kehrte er zurück. Er schritt durch die ganze Stadt, doch niemand wagte, sich ihm zu nähern. Er war dorther gekommen, von wo es keine Rückkehr gab. Die Menge folgte ihm auf den Fersen. An der Küste machte er halt. Zu seinen Füßen leuchtete das Meer. ,Bald ist es soweit', erklärte er müde. ,Wie ich sehe, seid ihr nicht dem weisen Rat jener gefolgt, die vor euch hier lebten, sondern im Lande geblieben. Doch nicht euretwegen, nur meines geknechteten Volkes wegen habe ich dies getan. Es kommt der Tag, da die Erde erbebt, das Meer gegen die Küste rennt und die Felsen bersten werden. So war es schon dreimal, so wird es auch ein viertes Mal sein. So steht es geschrieben. Auf einem Berg aber wird sich dann ein steinerner Reiter erheben, um denen, die noch am Leben sind, den Weg zu weisen. Diejenigen jedoch, die nach Osten zu entkommen suchen, werden von den Fluten verschlungen werden, denn wo die Sonne aufgeht, wird das Meer zu brodeln beginnen. So steht es auf den alten Tafeln.' Sie hörten ihn schweigend an. Er war ein Sklave und sein Leben kein Sandkorn wert, aber niemand getraute sich, ihn zu berühren. Ein Jüngling spannte den Bogen. Doch als er schoß, entglitt die Waffe seiner Hand. Der Pfeil streifte den Sklaven nur am Bein. Aus der Wunde sickerte Blut. Als die Atlantisbürger das Blut sahen, begriffen sie, daß ein ganz gewöhnlicher Mensch vor ihnen stand, ein Sklave, der dreifach gegen das Gesetz verstoßen hatte. Da warfen sie sich schweigend, mit wutverzerrten Gesichtern auf ihn, als könnte sein Tod sie von der Furcht vor ihrem unvermeidlichen Untergang befreien, als wäre nur er zum Sterben verdammt, doch sie selber dürften hoffen, ihrem Schicksal zu entgehen. Diejenigen aber, die Sklaven waren wie er, rührten sich nicht von der Stelle. Wie hätten sie ihm helfen sollen ohne Waffen? Zu seinen Füßen leuchtete Meer. Das schäumende Wasser leckte an den Felsen. Von oben wirkten die Wellen winzig wie gekräuselter Sand. Und er stürzte sich hinab. Wer ganz vorn stand, sah, wie sein schwarzer Kopf aus den Fluten auftauchte, dann wieder verschwand, sich erneut an der Oberfläche zeigte, aber schon von der Küste abgetrieben wurde. Schließlich kam der Abend. Die Sonne wurde platt wie eine Scheibe. Sie berührte den Horizont. Ihre Strahlen glitten über die Wasserfläche. Bis die Dunkelheit hereinbrach, erkannten die Atlantisbürger auf den blutroten Wellen einen schwarzen Punkt, der bald hinter einem Schaumkamm verschwand, bald wieder auftauchte und immer kleiner wurde. Dort, wo der Sklave hinschwamm, gab es keine Insel. Nur Meer, nichts als Meer. Endlich sank die Nacht herab." Jurka legte das Heft beiseite. „Und wie geht es weiter?" fragte Petka ungeduldig.  „Hat er sich gerettet?" „Das weiß ich auch nicht. Darüber steht hier nichts." Eine Weile hing jeder seinen Gedanken nach. Jurka war auf allerlei Fragen gefaßt. Es gab vieles, was einem keine Ruhe ließ. Er wußte das aus Erfahrung. „Wo hast du das Heft her?" erkundigte sich Dimka. „Ich habe es gefunden. Auf der Straße. Ja, wo kommt es her? Das habe ich mich auch gefragt. Vielleicht ist ein Schriftsteller vorbeigegangen, der es verloren hat?" Dimka lachte. „Schriftsteller? Bei uns? Was soll ein Schriftsteller in Ust-Kamensk? Die Mücken zählen?" „Da hast du recht", erwiderte Jurka nachdenklich. „Aber dort, in Atlantis, muß es herrlich gewesen sein. Die Insel, das Meer. Ein Leben! Wahrscheinlich kann man dort das ganze Jahr über baden. Wißt ihr, ich hatte ja alles schon gelesen. Es kam mir sehr komisch vor. Was denn, dachte ich, früher sollen die Menschen so edel und kühn gewesen sein? Einer ist sogar vom Felsen gesprungen und losgeschwommen. Ich habe es nicht geglaubt." Dimka wünschte sich: „In diesem Land möchte ich auch leben, aber mit einem Maschinengewehr. Das wäre schön. Stellt euch vor, ich würde die Burschen mit ihren Speeren auf zweihundert Meter rankommen lassen und sie dann mit einer Garbe empfangen. Nach dem Sieg wäre ich bei ihnen Zar oder was Ähnliches." ,,Ja, du würdest einen prächtigen Zaren abgeben", sagte Petka mit Überzeugung. „Früher dachte ich immer: An wen erinnert er mich nur? Heute weiß ich es. An einen Zaren." „Das stimmt aber nicht", protestierte Dimka verwirrt. „Ich bin ein ganz anderer Schlag. Wenn es nach mir gegangen wäre — ich hätte alle Sklaven befreit und danach eine Art Kommunismus errichtet." Wieder schwiegen die Jungen eine Zeitlang. Sie waren seit langem befreundet. Häufig gab es Streit zwischen ihnen. Bisweilen verkrachten sie sich auch. Diesmal waren sie alle von demselben Gedanken beseelt, sahen die gleichen bunten und lichten Bilder. In ihrer Phantasie entstand eine erstrebenswerte Welt voll schöner, kühner Menschen. Vor undenkbar langer Zeit ist Atlantis aus dem Meer aufgetaucht und später wieder darin versunken. Es hat den Menschen ein jahrtausendealtes Rätsel aufgegeben. In Legenden wird dieses Land verherrlicht, in Liedern besungen. Manche von ihnen sind gleichfalls tausend Jahre alt. So ist es nun mal mit vergangener Schönheit. Sie bleibt ewig schön. „Kann es denn nicht auch sein, daß die Insel heute noch da ist? Vielleicht hat sie bisher nur keiner entdeckt?" meinte Petka schließlich. „Am besten, wir suchen den, der das Heft verloren hat", äußerte Dimka. „Er weiß es sicherlich. Natürlich müßten wir vorher alles abschreiben. Besorgst du das, Jurka?" „Schön, das kann ich machen", willigte Jurka ein. „Aber die Hauptsache wißt ihr noch gar nicht." Vor Aufregung richtete er sich hoch und blickte seine Freunde groß an. Dann erzählte er ihnen von dem Menschen, der im Eis eingefroren war, und von dem großen Meer, das sich vor vielen, vielen Jahren in dieser Gegend erstreckt hatte. Dabei geriet er dermaßen in Eifer, daß er mit den Armen fuchtelte. Jurka war von der Wahrheit seiner Worte überzeugt. Diese Überzeugung strahlte auf Petka und Dimka über. Sie glaubten ihrem Freund, weil sie wünschten, daß er recht hatte. Atlantis schien in greifbare Nähe gerückt zu sein. Es war, als brauchte man nur die Hand auszustrecken, um das Märchenland zu berühren. Vor ihnen lag eine Straße, die zu neuen Entdeckungen und unerhörtem Ruhm führte.  VII  Andere Gegenden Die Tunguska ist ein reißender, in seinem engen Felsenbett mühsam gebändigter Fluß mit wunderbar klarem Wasser. Das orangefarbene Boot bewegte sich nach Osten, stromauf. Wäre es in die entgegengesetzte Richtung gefahren, hätte ein Betrachter aus der Ferne meinen können, dort schaukele ein Stück Apfelsinenschale auf den Wellen. Zur Linken und Rechten sprangen steile Felswände empor. An günstigen Stellen zogen die Jungen das Boot mit einem Schlepptau gegen die Strömung. Wo dies nicht möglich war, griffen sie zu den Rudern. Sie ruderten im Takt und zogen gemeinsam, aber Petka war Kapitän. Niemand hatte ihn auf diesen Posten gestellt. Es hatte sich von selbst ergeben. Wer sollte Kapitän sein, wenn nicht er? Sie kamen nur langsam voran. Auf das erste bucklige Kap folgte das zweite, dann das dritte, so ging es weiter, und eins sah immer wie das andere aus. Im Boot lagen eine zerrissene Zeltbahn mit Flicken aus Sackleinen, zwei Kessel, drei Angeln, ein Beutel mit Lebensmitteln. Außerdem ein zerlöcherter Rettungsring, der die halb verwischte Aufschrift „Sach..." trug. Wenn man ihn schüttelte, rieselten schwarze Korkstückchen heraus. Doch neben dem mit Wasserfarbe bemalten Wimpel, der im Bug an einer Stange flatterte, war es gerade dieses altersschwache Ungeheuer von Rettungsring, das den Kahn erst zu einem richtigen Schiff machte. Auf beiden Seiten des Flusses lagen bläulich schimmernde Hügel. Lautlos über die Ufer gleitende Wolkenschatten wischten den goldenen Glanz vom Laub der Bäume. Weit und breit kein Hundegebell, kein Laut, kein Rauchfähnchen. Wer auf einen Hügel klettert und sich umschaut, hat den Eindruck, daß der Himmel am Horizont zur Erde sinkt, um eine riesige, mit Sonnenschein und heißer Sommerluft gefüllte Schale herauszuschneiden, und es scheint, man selber stände im Mittelpunkt dieses unermeßlichen Gefäßes. Jeder Schrei, der über den Fluß hallt, bricht sich an den schwarzen und braunen Felsen. Wenn er als Echo zurückkommt, ist einem, als wäre er inzwischen um die Welt geflogen. Während der ersten Tageshälfte genossen die Jungen ihre Freiheit in vollen Zügen. Es ging laut und fröhlich zu. Sämtliche bekannten Lieder wurden gesungen. Sogar der „Kapitän" vergaß zeitweilig, die Stirn zu runzeln, hüpfte wie die andern munter am Ufer entlang oder stand im Boot, reckte sich und stieß übermütige Schreie aus. Was er in den Sommertag hineinrief, war nicht besonders klug, dafür aber ungewöhnlich laut: „Wir fahren! Hurra! Setzt die Segel! Richt't euch!" Ringsum dehnte sich still und endlos die Taiga. Nein, dieses Stück Erde konnte selbst durch das Triumphgeheul des „Kapitäns" nicht aus dem ewigen Schlummer geschreckt werden. Dafür war die Taiga zu groß. Dann kam der Zeitpunkt, wo die Bootsinsassen müde wurden. Jurka hatte Schwielen an den Händen. Er bewegte die Ruder nur noch mit Widerwillen, als hielte er zwei verendete Katzen zwischen den Fingern. Dimka hatte sich die Schulter an dem Schlepptau wundgescheuert, Petka das Schienbein an einem Stein aufgeschlagen. Wenn es so weiterging, würde in zwei, drei Tagen keiner mehr eine heile Stelle am Körper haben. Doch bekanntlich stellen sich dergleichen Beschwerden nur am Anfang ein. Die Hände mußten sich mit Hornhaut bedecken, die Beine geschickter werden. „Na, dann wollen wir mal essen, was?" schlug Dimka vor, in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, daß er überhaupt nicht hungrig war, nur fürchtete, die Lebensmittel könnten verderben. „Da hat er recht", meinte Jurka und hörte gleich zu rudern auf. „Komm, Petka, wir werfen Anker." Petka erwiderte nichts, spie über Bord und legte sich in die Riemen. Rudern kann er, das muß man ihm lassen, kraftvoll, mit weit nach hinten federndem Oberkörper, und wenn er die Hölzer hochzieht, tanzen hinter dem Heck noch lange Zeit kleine trichterförmige Strudel auf dem Wasser. „Billige Kraftmeierei", brummte Dimka mißbilligend. „Vor uns brauchst du nicht so anzugeben. Wir verstehen selber was von der Sache." „Wer ist hier der Kapitän? Ich?" „Wer sonst?" „Na also. Wir waren uns einig, daß bis vierzehn Uhr gerudert wird. Es ist erst zwölf. Wenn wir uns jetzt schon auf die Vorräte stürzen, werden wir nicht weit kommen." Die Meuterei war niedergeschlagen. Doch bald machte Petka selber schlapp. „Schön", erklärte er eine halbe Stunde später, „legen wir an. Ich bin kein Arbeitsvieh, das für euch alle schuftet." Er steuerte in eine kleine Bucht. Als das Boot festgemacht war, krochen die Jungen auf die glatten, heißen Steine. Es war eine windgeschützte Stelle. Weiter oben dehnte sich ein Waldstück. Die Luft schien zu brodeln. Sie war zum Schneiden dick. Wie durchsichtige Säulen standen die Sonnenstrahlen im Wasser. Zwischen den Steinen huschten blitzende kleine Fische umher. Jurka war sofort entflammt. „Wollen wir nicht angeln?" schlug er vor. „Nein, erst essen", sagte Dimka mit einem Seufzer. Petka nahm die Axt, bog das Gestrüpp auseinander und kroch ans Ufer. „Petka, wohin?" rief Dimka hinterher. „Komm, wir gehen lieber in die Taiga, wenn du Feuer machen willst." „In der Taiga ist es zu schattig. Dort fressen uns die Mücken auf. Ich hole trockene Zweige. Schäle inzwischen Kartoffeln." Den Reisighaufen errichteten sie auf einer Felsplatte. In den Kessel wanderten die geschälten Kartoffeln, eine Handvoll Graupen, ein Stück Wurst. Das Feuer begann zu prasseln. Ruß färbte den Behälter schwarz. Jurka nahm einen Löffel und schöpfte den schmutzigen Schaum von der brodelnden Brühe. Als die Suppe gar war, wurde der Kessel auf einen Stein gesetzt. Die Jungen hockten sich dazu. Jeder brach ein Stück Brot ab. Dann löffelten sie das gelbliche, nach Rauch riechende und sehr wohl schmeckende Etwas andächtig aus dem Behälter. „Jetzt muß abgewaschen werden", sagte Petka nach beendeter Mahlzeit. „Versteht sich", stimmte Dimka zu. Dann streckte er sich auf seiner Steinplatte aus. Jurka war etwas genauer. Er meinte: „Ich bin auch dafür, aber am besten besorgen wir das immer abends. Wir kochen ja doch noch mal." Erst jetzt spürten alle drei, wie im Körper die Muskeln schmerzten. Das Leben eines Reisenden ist schwer. Um so angenehmer empfindet er es, wenn die Stunde kommt, wo er auf dem Rücken liegen kann, um dem hastigen Gemurmel des Wassers zu lauschen und sich bewußt zu werden, daß er sein eigener Herr ist. Über ihm spannt sich der unendliche Himmel, gewaltig und klar, und scheint zu erklingen. Es ist wie das Rauschen einer Muschel: bald leiser, bald lauter. Endlich fallen dem Reisenden die Augen zu. Eine Hand schiebt sich darüber, um sie vor der Sonne zu schützen. „So läßt sich's aushalten", stellte Jurka fest. „Meinetwegen müßte immer Sommer sein. Ach, ich wollte, daß ich laufen und fahren könnte, wohin ich gern möchte. Wenn ich groß bin, sehe ich mir die Welt an. Ein Jahr werde ich arbeiten, ein Jahr unterwegs sein, immer abwechselnd." „Was du dir für Schwachheiten einbildest", ließ sich Petka vernehmen. „Wenn du erwachsen bist, ist es mit dem Reisen Essig. Ich gehe nur bis zur siebenten Klasse. Dann werde ich Fischer. Das heißt also, für mich sind das die letzten Ferien." „Du wolltest doch auf eine Fliegerschule?" „Ich wollte. Aber geht's danach? Meiner Mutter wird es ziemlich sauer. Außerdem habe ich noch Senka am Hals. Der ist erst sechs." „Warten wir mal ab", meinte Dimka schläfrig, ,,ob wir nicht tatsächlich etwas finden. Vielleicht eine alte Stadt, oder wenn nicht das, wenigstens einen Stoßzahn von einem Elefanten. Dann kriegen wir eine Prämie. In diesem Fall gehe ich in die Karpaten. Dort gibt es Obst wie Sand am Meer." „Ich würde auch nicht hierbleiben", murmelte Petka, „aber mit meinen Leuten hätte ich es natürlich schwerer. Ach, Kinder, ist das Leben langweilig in Ust-Kamensk, stimmt's? Woanders sind die Menschen besser. Wer in der Literatur ein bißchen bewandert ist, weiß, wie schön es auf der Welt sein kann. Niemand kommt auf den Gedanken, über uns ein Buch zu schreiben. Das wäre ja auch — überlegt mal: über unser Nest und unser Leben." „Es dürfte schwerfallen", bestätigte Jurka. „Das will ich meinen. Ach", fuhr Petka fort, „wir wohnen eben am Ende der Welt, zwar in einer sogenannten Stadt, aber Industrie gibt's bei uns nicht. Bloß Fische und Holz. Einmal in der Woche kommt ein Dampfer. Natürlich auch nur im Sommer. Und der Winter dauert ein halbes Jahr. Sag mal, Dimka, wo liegen eigentlich deine Karpaten?" Dimka blieb ihm die Antwort schuldig. Das war kein Wunder. Er schlief schon. Petka fand keine Ruhe. Vom vielen Reden war er sonst kein Freund, der draufgängerische und wahrheitsliebende „Kapitän". An diesem Nachmittag aber empfand er besonders deutlich, wie vergänglich der Sommer und diese Stille waren. Ein Jahr noch, dann hatte er die siebente Klasse beendet. Dann würde der „Ernst des Lebens" beginnen. Mit den schönen Ferien war es ein für allemal vorbei. Petka hatte beizeiten gelernt, seinen Verstand zu gebrauchen. „In der Fliegerschule würden sie mich nicht nehmen", sann er. „Ich bin hundertprozentig gesund, das stimmt. Aber man muß die zehnte Klasse beendet haben. Oder ob man woanders bloß den Abschluß der siebenten braucht? Jurka, hörst du?" Doch Jurka war gleichfalls eingeschlafen. Er lag, eine Wange auf den heißen Fels gepreßt, mit schweißfeuchter Stirn neben Dimka. Petka stand auf, ergriff die Schöpfkelle und schaufelte das Wasser aus dem Boot. Das Mittagsschläfchen erstreckte sich auf anderthalb Stunden. Als die Freunde erwachten, hockte Petka auf einem Stein im Fluß. Neben ihm zappelten die Fische, die er inzwischen gefangen hatte. „Sie beißen wohl an?" „Und wie! Dreizehn habe ich schon. Zum Abendbrot gibt's Fischsuppe. Putzen müßt ihr die Biester selber." „Typisch", empörte sich Dimka. „Er angelt und hat sein Vergnügen. Die Arbeit machen wir. Fische fangen ist kein Kunststück. Das kann jeder." Petka zog die Angel ein. „Zeit für die Rückfahrt." „Haben wir denn schon genug?" „Alle holst du sowieso nicht raus", erwiderte Petka gesetzt. „Gegen Abend müssen wir zu Hause sein. Sonst lassen sie uns nicht mehr fort. Schluß für heute. Abfahrt!" Wieder schaukelte auf dem Fluß das Boot, das von fern aussah wie ein Stück Apfelsinenschale. Es war schon kurz vor sechs, als hinter einer Biegung die von einem Steingürtel umgebene Insel auftauchte. Sie lag mitten im Fluß. An ihrer Spitze ragte eine hohe Klippe aus dem Wasser. Sie war mit gradstämmigen Kiefern bewachsen. Die Jungen steuerten an den Steinen vorbei, stiegen aus und kletterten auf den steil abfallenden Felsen. Unten schlängelte sich dunkel die Tunguska heran. Zwischen Festland und Insel sprühte die Sonne goldene Funken hinein. Bald würde an dieser Stelle ein breites, feuriges Band aufleuchten. „Unsere Insel!" rief Jurka aus. „Wir haben sie entdeckt. Wollen wir sie nicht Azoris nennen?" Der „Kapitän" erteilte folgende Anweisung: „Hier wird das Zelt aufgeschlagen. Wir müssen uns beeilen. Es ist schon spät. Morgen kommen wir wieder. An unsern Sachen wird sich niemand vergreifen." Die Jungen stiegen nach unten. Sie ruderten hinüber ans Ufer. Dimka blieb beim Boot. Petka und Jurka kletterten auf einen Hügel. Sie wollten frisches Tannengrün holen. Das eignete sich gut als Unterlage für das Zelt. Auf der Insel gab es nur Kiefern. Die beiden Freunde waren ein Stück über die Kuppe des Hügels gelaufen, als sie ein Mädchen entdeckten. Die Kleine saß unten am Wasser und hatte die Beine unters Kinn gezogen. Weil sie sich nicht bewegte, dachten die Jungen zunächst, es wäre ein Stein. Petka war der erste, der die lose über den Schultern hängende Jacke bemerkte und den dicken, mit einem grünen Band umwickelten Zopf. „Guck mal, wer dort sitzt!" sagte er verwundert. „Das ist doch die, die mit dem Dampfer gekommen ist. Weißt du, die Kuh. Was will sie hier?" Tatsächlich war es mehr als sonderbar, so fern von der Stadt auf einen Menschen zu stoßen, der weder in einem Boot saß noch ein Gewehr über der Schulter trug, sondern einfach am Ufer kauerte und ins Wasser starrte. „Sie hat uns noch nicht gesehen", flüsterte Petka. „Komm, wir bringen ihr das Gruseln bei." „Gut. Aber wie?" Petka blickte sich um. Am Rande des Hanges lag ein Baumstamm, den das Hochwasser angeschwemmt hatte. „Siehst du, den lassen wir auf sie los." „Aber wenn sie was abkriegt?" „Unsinn. Blöd ist sie ja nun auch nicht. So einen Brocken übersieht keiner. Es sind mindestens fünfzig Meter. Bis das Ding unten ist, vergeht eine Weile. Außerdem können wir schreien." Ein Lächeln stahl sich über Jurkas Gesicht. Die Sache war harmlos, und es schadete nichts, wenn dieses eingebildete Mädchen mal einen kleinen Schreck bekam. Die beiden packten den Baumstamm an, stemmten sich mit aller Kraft dagegen und brachten ihn in Bewegung. Er rollte nach unten, langsam zuerst, mit ungleichmäßigen Sprüngen von einem Ende auf das andere holpernd, dann schneller. Seine federnden Wurzeln zappelten in der Luft wie die Beine einer riesigen Spinne. „He, du, schlaf nicht!" rief Petka. Mit einem Sprung war das Mädchen auf den Beinen. Unaufhaltsam rollte der Baum auf sie zu. Losgerissene Erdbrocken und kleine Steine kollerten hinterher. „Paß auf!" schrie Petka aus Leibeskräften, schon gar nicht mehr fröhlich, eher entsetzt. Wie zur Salzsäule erstarrt stand das Mädchen am Fuße des Hangs. Erst als der Baumstamm in bedenklicher Nähe vorübersauste und gleich darauf geräuschvoll ins Wasser schlug, sprang sie ungeschickt zur Seite. „Ist die blöde!" heulte Petka mit einem Unterton von Entzücken. „He, du", grölte er, „du schläfst wohl mit offenen Augen?" „Los", hauchte Jurka. „Los!" Mit großen Sätzen flog Petka den Hang hinab. Jurka folgte in erheblichem Abstand. Er hatte in die entgegengesetzte Richtung laufen wollen. „Sag mal, du bist wohl lebensmüde?" schimpfte Petka, als er vor dem Mädchen stand. „Siehst die Lawine kommen und rührst dich nicht vom Fleck. Uns standen die Haare zu Berge." Jetzt schlenderte auch Dimka herbei. Der Lärm hatte ihn angelockt.  Das Mädchen schwieg. Wie die mich anstiert, dachte Petka, kaltschnäuzig und frech — abgebrüht!  „Wo kommt ihr her?" fragte sie endlich. „Doch nicht aus dem Lager?" „Aus was für einem Lager?" „Nein, ihr seid nicht von uns. Ich kenne euch nicht." Sie stand mit dem Rücken zum Fluß. Die Sonne vergoldete ihr Haar und breitete einen lichten Schleier darüber. Auf dem Wasser schaukelte der Baumstamm. Die Strömung riß ihn hin und her. Seine Wurzeln glichen jetzt noch mehr einer riesigen strampelnden Spinne. Die Jungen umringten das Mädchen und wußten nicht, was sie sagen sollten. Soviel Kaltblütigkeit war ihnen unverständlich. Wenn die „Kuh" wenigstens kreischen oder schimpfen würde. Auf alles wären sie gefaßt gewesen, nur nicht auf diese sonderbare Ruhe. Das Mädchen grübelte. „Doch", sagte sie nach einer Weile an Petka gewandt, „Dich kenne ich. Wir haben uns schon einmal getroffen, gleich nach meiner Ankunft. Aber was ist da eigentlich runtergekommen, ein Stein?" „Hast du es denn nicht gesehen?" „Nein. Ich bin blind." Nie zuvor hatte Dimka seine Freunde so bestürzt gesehen. „Richtig blind?" fragte Jurka dumm. Das Mädchen nickte. Petka, der sich stets brüstete, in keiner Lebenslage die Farbe zu wechseln, errötete bis an die Haarwurzeln. Das Blut stieg ihm so heftig zu Kopf, daß es aussah, als wollten die Wangen platzen. Jurka erging es nicht besser. Nur Dimka, der noch nicht wußte, woran er war, verspürte lediglich Unbehagen. „Also, gehen wir." Petka scharrte schwerfällig auf der Erde. „Gehen wir?" wiederholte er unsicher. Fast klang es, als bäte er das Mädchen um Erlaubnis. „Wir müssen nach Hause. Also, auf Wiedersehen." Die Jungen gingen auf ihr Boot zu, eilig, mit großen Schritten, ohne sich umzusehen. Ihr Aufbruch glich einer Flucht. Nach einigen Schritten blieb Petka stehen. „Wie heißt du?" rief er zurück. „Lena. Kommt ihr wieder?" „Morgen", erwiderte Petka in bestimmtem Ton, „spätestens übermorgen. Schlaf gut." Er hatte ihr eine gute Nacht gewünscht, obwohl die Sonne noch über dem Horizont stand und es ganz hell war. „Komisch." Das war alles, was Dimka sagen konnte, als sie ins Boot kletterten. Er fühlte, daß er etwas hinzufügen mußte, aber ihm fiel beim besten Willen nichts ein. Das apfelsinenfarbene Boot stieß vom Ufer ab. Es schoß durch die feurig glühenden Fluten, der untergehenden Sonne entgegen.  VIII  Lena Die Insel Azoris beherbergte nun ein Zelt. Die drei „Forscher" hatten es am Fuße der Klippe aufgeschlagen. Auf der Sonnenseite lagen leuchtende Flecke. Dort sah das Leinen wie ein Leopardenfell aus.  Der Rettungsring mit der Aufschrift ,,Sach..." hing an einem Ast. Über der Feuerstelle — wie konnte es anders sein — schaukelte ein Kessel. Tropfen einer bräunlichen Brühe spritzten ins Feuer. Ein Reisender unterscheidet sich von den übrigen Menschen dadurch, daß er unbekannte Gebiete durchforscht. Hinzu kommt, daß er immer hungrig ist. Reisende essen sehr viel. Bisweilen stirbt auch mal einer vor Hunger, das jedoch nur selten und höchstens in der Wüste. Nie in der Taiga. Hier wimmelt es in den Flüssen von Fischen. Die gehen auf Würmer, Fliegen, Brot, verdorbenes Fleisch. Auch strolchen zutrauliche Elche herum. Auf den Zedern hocken Auerhähne. Wie könnte da jemand verhungern. Zu Hause speist ein Reisender von sauberen Tellern, mäkelt, fischt jedes Stückchen Zwiebel aus der Suppe, dreht Brotkugeln. In der Taiga verbrennt er sich beim Essen die Zunge. Doch was tut's? Dieses Gemisch von zerkochten Fischgräten, Ruß und angebrannten Graupen dünkt ihn ein ungewöhnlich schmackhaftes Gericht. Das Brot ist mit Kiefernnadeln gespickt. In der Suppe schwimmen tote Ameisen. Als Tischtuch dient ein Sack. Zwischen den Zähnen knirscht der Sand. Aber es schmeckt herrlich. Welche Lust, ein Reisender zu sein! Die Fischsuppe riecht nach Rauch, der Rauch nach Fischsuppe. Ein zerlöchertes Zelt mit Tannengrün als Fußbodenbelag ist sein Haus. Da mag es regnen, bis alles im Wasser fortzuschwimmen droht — wenn der Reisende das Klopfen auf der Leinwand hört, schätzt er sich glücklich, ein Dach über dem Kopf zu haben. Das ist ja auch nicht derselbe Regen, der auf ungepflasterte Straßen trommelt und die Wege in Schlammbäder verwandelt. Genauso wie das Flußwasser mit den grünen Fasern darin etwas anderes ist als das, was zu Hause aus der Leitung kommt. Mit hohlen Händen geschöpft und geräuschvoll geschlürft, schmeckt es köstlich. Und eine gekochte Zwiebel in der Suppe ist keine Zwiebel mehr. Zum erstenmal seit ihrem Bestehen hallte die Insel Azoris von Axtschlägen wider. Da wurden Zweige abgehauen, Pfähle gespitzt. Petka schleppte einen Armvoll Tannenreisig heran. Jeder packte zu. Sogar Dimka, der kein großer Freund vom Arbeiten war, mühte sich redlich und schleifte als Feuerholz zwei dürre Bäumchen über den Boden. Die Insel hatten sie inzwischen nach allen Seiten durchstreift, waren aber noch nirgends auf einen Mammutzahn oder einen Bronzeschild gestoßen. Vielleicht lagen die Ruinen der alten Städte drüben hinter den Hügeln, die das Ufer säumten? Jurka stellte sich vor, wie es wäre, wenn er plötzlich eine rissige, grasüberwucherte Steintreppe fände. Die Stufen würden ihn in die Tiefe führen. Auf eisenbeschlagene Truhen, auf ungeordnete Waffenstapel fällt geheimnisvolles Licht. Er, Jurka, aber schreitet weiter. Wozu braucht er diese Schätze? In einem fernen Winkel der Höhle kauert auf marmornem Sockel ein Götze aus purem Gold. Der erinnert den Eindringling an einen alten Inder. Jurka berührt ihn mit der Hand. Da gerät der Götze in Bewegung. Zwei Steinplatten schieben sich auseinander. Eine zweite Treppe wird sichtbar. Alles vollzieht sich völlig geräuschlos. Die Stufen führen Jurka in die Tiefe. Dunkelheit umfängt ihn. Und da...  „Was meinst du, ob sie kommt?" Jurka blickte verständnislos zu Petka hinüber. „Wer?" „Na sie, Lena."  „Wie soll ich das wissen? Warum bist du so neugierig?" „Was heißt neugierig. Mich interessiert, was sie hier treibt." „Aber warum?" wollte Jurka wissen. „Sie ist doch blind." „Blind." Petka warf dem Freund einen verächtlichen Blick zu. „Bist du ein Esel. Um ein Haar hätten wir sie umgebracht." „Lauf doch zu ihr", entgegnete Jurka wütend. „Du bist ja hier der Kapitän. Nimm das Boot, bitte sehr." „Das mache ich auch." Petka ergriff die Ruder und ging ans Wasser. Lange schaute er zurück, machte sich an den Gabeln zu schaffen. Er wollte nicht allein fahren. Was sollte er zu ihr sagen? Es war so ein dicker Baumstamm gewesen. Lena hatte es sicher nicht vergessen. Noch einmal sah Petka nach oben. Jurka drehte sich um und pfiff „Vaterland, kein Feind soll dich gefährden..." Da stieß Petka entschlossen das Boot ins Wasser und sprang hinein. Er ruderte ans Ufer. Ein schmaler Pfad führte in die Taiga. Auf dem feuchten Boden hatten kleine Absätze deutliche Spuren hinterlassen. Petka lief etwa hundert Meter. Dann erblickte er Lena und blieb stehen. Sie schritt schnell aus — offenbar war ihr der Weg wohlvertraut —, stutzte aber plötzlich, hob den Kopf und lauschte. Auch Petka erstarrte. Er hörte heftiges Fauchen. Sekunden vergingen, ehe er begriff, daß dieses Geräusch von seinem eigenen Atem herrührte. „Wer ist dort?" fragte Lena. Petka zögerte mit der Antwort. Nach einer Weile sagte er: „Ich bin es. Erinnerst du dich, vorgestern haben wir zusammen gesprochen?" „Seid ihr aus Ust-Kamensk?" „Ja." „Was macht ihr hier?" „Wir, wir suchen was. Und du?" „Wir suchen auch was. Erdöl. Ich bin aus dem Lager." Lena trat näher. Petka musterte neugierig ihr Gesicht. Sie hatte graue Augen. Die sahen überhaupt nicht blind aus, sondern waren groß und schön, nur daß sie ein wenig an ihm vorbeischauten. „Erdöl? Nein, wir suchen was anderes. Komm doch mit zu uns", schlug er, für sie unerwartet, vor. „Ist es weit?" „Bis zu der Insel dort drüben, siehst du — das heißt, ich meine, es ist ganz nah", verbesserte sich Petka stotternd. „Vielleicht dreihundert Meter." „Gut. Ich fahre mit. Aber wir bleiben nicht lange? Mich suchen sie immer gleich." Petka ging ans Ufer. Mehrmals drehte er sich um. Das Mädchen kam hinterher. Wiederum setzte ihn Lenas Ruhe in Erstaunen. Sie trat sicher auf, als gäbe es keine herabhängenden Zweige, als wäre dort vorn nicht ein steiler Hang, wo man ausgleiten konnte. Petka hatte Lena sogar in Verdacht, daß sie gar nicht blind war, sondern ihn narrte. „Um mich brauchst du dir keine Gedanken zu machen", beruhigte sie ihn, als er auf sie wartete. „Ich kenne den Weg gut. Gleich kommt ein Zweig. Daran halte ich mich immer fest, wenn es zum Fluß runtergeht." „Dort steht eine Kiefer. Es ist kein Zweig, sondern eine Wurzel", erklärte Petka. „Sie wächst aus der Erde." „Und ich dachte, es wäre ein Zweig." Auf der Insel wurden sie von Jurka und Dimka mit neugierigen Blicken empfangen. Petka stand unschlüssig neben dem Boot. Ob er dem Mädchen die Hand reichen sollte? Er entschied sich für ein Ruder. Das war besser. Lena stieg hastig aus, und sie gingen beide zum Zelt.  „Das sind Dimka und Jurka", stellte Petka vor, indem er in die Richtung zeigte, wo seine Freunde standen. Dimka hob fassungslos die Schultern. Petka drohte mit der Faust. „Was treibt ihr hier bloß?" wunderte sich Lena. Jetzt schnitt auch Jurka eine schreckliche Grimasse. Er schüttelte den Kopf und starrte Petka an: Vergiß nicht, daß es ein Geheimnis ist! „Wir wollten nur eine kleine Reise machen."  Lena lachte. „Nur eine Reise? Gibt es das? Sergej Michailowitsch, Tonja und die anderen reisen auch, aber sie suchen Erdöl. Ihr sucht gar nichts?" Sie ist blind und lacht noch, ging es Jurka durch den Kopf. „Wer sucht Erdöl?" fragte er, um sie von ihrer Frage abzulenken. „Was für eine Tonja?" „Aus unserm Lager. Dort arbeitet eine Expedition. Mein Vater ist auch dabei. Aber nicht für lange. Im Herbst fahren wir nach Odessa zu Professor Filatow. Wenn es mir besser geht, kommen wir wieder." „Bist du krank?" wunderte sich Dimka.  „Ich bin blind. Professor Filatow hat schon vielen Menschen das Augenlicht geschenkt." Von ihrer Blindheit sprach Lena wie von einer leicht zu heilenden Krankheit. Dimka schüttelte den Kopf, behielt aber seine Zweifel für sich. „Der hat noch keinen entlassen, der nicht geheilt war", fuhr das Mädchen fort. „Aus dem ganzen Land kommen sie zu ihm." „Toll", sagte Jurka. In Wahrheit dachte er: Wie kann ein einziger Professor so viele Blinde heilen? Das reden sie ihr nur ein. Lena jedoch vertraute diesem Professor Filatow offenbar vollkommen. Sie sprach natürlich und lächelte ungezwungen, nicht wie jemand, der sich unglücklich fühlt. Bald hörten die Jungen auf, ihr Gesicht zu mustern. Das leichte Unbehagen, das sie bisher empfunden hatten, war gewichen. Als der Kessel vom Feuer kam, wurde Lena eingeladen. Das Mädchen lehnte nicht ab, sondern sagte nur: „Ich habe kein Besteck bei mir." Schon schlugen zwei Aluminiumlöffel vor ihrem Gesicht zusammen. Einen Augenblick später klapperte schüchtern ein dritter dagegen: der von Dimka, und Lena entschied sich für den letzten. „So läßt sich's aushalten", stellte Jurka mit einem Blick in den leerer werdenden Kessel fest. „Schade, daß wir immer nur für einen Tag Verpflegung mitbekommen. Wenn sie uns die doppelte und dreifache Menge gäben, könnten wir ein Stückchen weiter fahren und durch die Taiga wandern. Wenigstens die Ufer müßten wir uns mal näher ansehn, besonders das linke, das ist schön hoch, von oben sieht man alles.'" „Das haben vor uns schon andere besorgt", meinte Dimka trocken. „Erst letztes Jahr wurde dort was ausgemessen und ein Turm gebaut." „Hier gibt es keine Türme", widersprach Jurka. „Freilich", ließ sich Lena vernehmen, „das ist ein geodätisches Zeichen. Sergej Michailowitsch hat eine Karte, dort ist es vermerkt, hat er gesagt." „Kommt mit auf die Klippe", schlug Petka vor. „Wir suchen uns eine Reiseroute aus." Dimka und Jurka blickten Lena an. Ob man sie mitnahm oder besser unten ließ? Der Felsen war steil. Wenn es das Unglück wollte, passierte etwas. Lena legte den Löffel ins Gras. Nichts hätte sie den Jungen abgeschlagen, sie wäre mit ihnen durch die Taiga gelaufen oder durch den Fluß geschwommen. Schon lange war sie ohne richtige Freunde. Die gleichaltrigen Kinder begegneten ihr stets mit Rücksicht. Niemand neckte sie oder hatte Streit mit ihr. Gerade das war für sie die schlimmste Kränkung. Sie fühlte sich zurückgesetzt, ausgestoßen. Lena spürte, daß die Jungen sie jetzt anblickten. Sie ahnte, was in ihnen vorging. „Fahrt ihr mich zurück?" fragte sie leise. Daß das Mädchen haargenau ihre Gedanken erraten hatte, machte Petka und seine Freunde unsicher. „Nein. Warum? Komm doch mit", ließ sich Jurka mit lauter Stimme vernehmen. „Dieser niedliche Felsen, das ist ein Klacks für dich", meinte Dimka. „Wir werden dir schon helfen", versprach Petka. Lena wandte zwar noch ein: „Ich bin euch nur im Weg", aber es klang schon recht fröhlich. Petka explodierte. „Hab dich nicht so. Du bist kein kleines Kind mehr." Klügere Worte hätten sich schwerlich finden lassen, obwohl sie ohne Überlegung hervorgesprudelt waren. Der „Kapitän" hatte eine Art, schnoddrig zu reden. Vor keinem Menschen kannte er Hemmungen. Nun wurden auch Petkas Freunde kühner. Sie ergriffen das Mädchen bei den Armen, der eine links, der andere rechts, und zogen sie die Klippe hinauf. Mehrmals stieß Lena gegen einen Stein, weü sie nicht einfach darüberspringen konnte wie ihre Begleiter. Doch das trübte ihre Freude nicht. Keine Furche zeigte sich auf ihrer Stirn. Im Gegenteil, sie lachte. „Dort auf dem Hügel steht ein Turm", rief Dimka triumphierend. „Ich habe ja gleich gesagt, das linke Ufer ist restlos erforscht." Sie setzten sich auf die Felskuppe. Zum Fluß hin fiel der Felsen senkrecht ab. Am Rande klammerte sich eine krumme Fichte mit ihren Wurzeln verzweifelt ans Gestein. „Ist es hoch?" wollte Lena wissen. Dimka legte sich auf den Bauch. Sein Kopf hing über dem Abgrund. „Nicht besonders. Höchstens..." „Spring runter", forderte ihn Petka auf, „dann weißt du's genau." „Das mußt du mir erst vormachen. Andere aufhetzen kann jeder." „Denkst du, ich würde mich nicht trauen? Wenn es sein müßte." „Und wenn es nicht sein müßte?" fragte Dimka bissig. Petka stand dicht neben Lena. „Gut", sagte er, „ich springe." „Sieh zu, daß du keinen Bauchklatscher machst", empfahl Dimka. Hätte Lena nicht dabeigesessen, wäre daraus wahrscheinlich nichts geworden. Sie hätten gestritten, wer den Sprung in die Tiefe wagen würde und wer nicht, und wären alle drei wieder hinabgestiegen. Nun saß aber Lena dabei. Schweigend zog sich Petka aus, trat an den Rand der Klippe, stand dort für einige Augenblicke gleich einer Bronzestatue vor dem Abgrund, schön anzusehen, fast wie ein junger Atlantisbürger. Jetzt begriff Dimka, daß es kein Spaß war. Doch er schwieg. Dafür erhob Jurka warnend seine Stimme: „Petka, unten sind vielleicht Steine." „Zähle bis drei." „Eins — zwei — drei." Petka stand wie angewurzelt an der Stelle, wo die Klippe steil zum Fluß abfiel. „Nicht so schnell", schimpfte er, „ich muß doch erst einen Fleck aussuchen, wo ich hinspringen kann." Lena lächelte nicht mehr. Sie lauschte auf das Ge-plätscher der Wellen, das aus ziemlicher Entfernung heraufdrang. Es waren mindestens zwölf Meter. „Eins — zwei — zwei einhalb — zwei dreiviertel..." Kraftvoll stieß sich Petka ab und sauste mit den Beinen voran durch die Luft. Er mußte sich viel Schwung geben, um nicht auf den Steinen zu landen, die am Fuße des Felsens im Wasser lagen. Lena lauschte mit vorgestrecktem Hals. Endlich hörte sie den Aufschlag. Die Jungen sahen, wie Petka in einem Schwall von Schaum und Blasen verschwand. Dann tauchte, wohl auf dem Grund des Flusses, ein heller Felck auf. Als sich das Wasser beruhigte, erkannten sie ihren Freund, der wie ein Frosch davonschwamm. Nur Lena sah es nicht. „Wo ist er?" fragte sie. „Alles in Ordnung", erwiderte Jurka. „Gleich kommt er hoch." In zwanzig Meter Entfernung tauchte Petka auf. Er plantschte im Wasser, um den vor ihm treibenden Schaum zu zerteilen, steuerte dann auf die Insel zu. Jurka und Dimka nahmen seine Sachen und rannten hinunter. Petka schwamm mit der Strömung. Bald stieg er an Land — einen Augenblick eher, als seine Freunde zur Stelle waren. „Brrr, ist das Wasser kalt", rief er schon von weitem. „Wie im Winter." Lena, die sie in der Aufregung vergessen hatten, tastete sich nach unten. „Ihr habt sie allein gelassen?" Petka war empört. „Seid ihr nicht bei Troste?" Er streifte hastig die Kleidung über seine nasse Badehose. „Warte", rief er Lena zu, „ich komme schon." Petka lief ihr entgegen. Sie gab ihm die Hand und sagte etwas. Auch er sprach. Nachdem sie eine Weile miteinander geredet hatten, gingen sie weiter, er an ihrer Seite. „Ein Land sucht ihr?" rief Lena aus. „Das habe ich natürlich nicht gewußt. Ich dachte, daß ihr nur so... Wo liegt denn dieses Land?" Jurka, der dies hörte, sah Petka tadelnd an, sagte aber nichts. „Na ja, ich habe es ihr erzählt", brummte Petka, als er Jurkas Blick auffing. „Ist doch nichts dabei. Aber sie weiß noch nicht alles. Ich werde ihr vorlesen. Oder habt ihr was dagegen? Jurka, gib das Heft her." „Das könnte dir passen. Nein, nein, wenn einer liest, dann bin ich es. Wem gehört denn das Heft? Dir vielleicht?" „Es ist unser gemeinsames Eigentum. Komm, gib her!" „Hast du dir gedacht", entgegnete Jurka störrisch und tippte sich an die Stirn. „Ich habe es gefunden, ich lese." Jurka zeigte sich eigensinnig und kampfeslustig. Er glich einer Bruthenne. So kannten sie ihn nicht. Petka begriff, daß er in diesem Fall nichts erreichen würde, und gab nach. „Lena", erklärte Jurka, indem er das Heft aus der Tasche zog, „hiervon weiß noch niemand etwas. Dir werden wir alles erzählen. Nur sage es keinem weiter. Hörst du!" „Sie braucht gar nicht viel zu sagen", wandte Dimka ein. „Zwei Wörter ihrer Freundin ins .Ohr — schon weiß es die ganze Welt." „Ich habe keine Freundin", erwiderte Lena schlicht. Da verstand Dimka, daß er mit Lena nicht umspringen durfte wie mit einem anderen Mädchen. „Lena", fuhr Jurka fort, „noch haben wir nichts gefunden. Wir wissen nicht, wo wir das Land suchen sollen. Vielleicht liegt es auch gar nicht in unserer Gegend. Es ist am besten, wenn ich jetzt anfange." Jurka schlug das Heft auf und las vor. Er las sehr ausdrucksvoll, wie ein Sprecher im Radio. Die Atlantisbürger begannen zu leben, schritten ihren Weg zu Blüte und Untergang. Petka betrachtete aufmerksam Lenas Gesicht. Sooft Jurka stockte, runzelte sie die Stirn. Der ,,Kapitän" rutschte hin und her. Ich würde viel besser lesen, dachte er. Als Jurka bei der Stelle anlangte, wo der Sklave vor dem Abgrund zurückschauderte, zuckte Lena zusammen, als stände sie selber am Rande eines Felsens. Schließlich verlor Petka die Selbstbeherrschung. Er war rasend vor Neid, sprang hoch, hob einen Stein auf und schleuderte ihn aus Leibeskräften gegen den Stamm einer Kiefer. „Was ist denn in dich gefahren?" knurrte Jurka und klappte das Heft zu. „Nichts. Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten." „Palmen", sagte Lena, „wie sehen die aus?" „Ähnlich wie Kiefern", erklärte Jurka, „nur haben sie Blätter auf dem Wipfel, und oben hausen Affen." „Wie eine Kiefer aussieht, weiß ich nicht. Wo wir früher wohnten, gab es viel Fichten. Wenn ich mir einen Baum vorstelle, ist es immer eine Fichte. Sie hat rote und grüne Nadeln." „Grüne im Sommer", sagte Petka, „braune im Herbst. Mußt du schon nach Hause?" „Ich muß nicht. Aber sie sind bestimmt schon unruhig. Fahrt ihr mich rüber?" „Mach ich", entgegnete Jurka eilfertig. „Hast du dir gedacht", fuhr Petka auf. Er tippte sich an die Stirn. „Komm, Lena." ,,Du bist vorhin schon gewesen. Ich möchte auch mal rudern." „Schwachheiten." Petka schüttelte den Kopf. Diesmal gab Jurka nach. Schließlich war nicht er, sondern Petka vom Felsen gesprungen. Das Boot durchschnitt den Fluß. Petka setzte Lena an Land. „Besucht uns im Lager", sagte das Mädchen beim Abschied. Es war eine Einladung. „Wenn ihr diesen Pfad nehmt, könnt ihr uns nicht verfehlen. Er führt direkt ins Lager. Kommt ihr?" „Ja", erwiderte Petka und stieß vom Ufer ab. Er hatte das Boot mit einigen Ruderschlägen auf den Fluß getrieben, als er laut hinzufügte: „Wir kommen unbedingt. Aber alle zusammen." Lena lachte. „So hatte ich es auch gemeint. Alle, nicht nur du." Petka hörte sie nicht mehr. Er hielt auf die Insel zu. Zischend bohrte sich der Bug in die Wellen und zerteilte sie. Wie schön war es, die Ruder in den Händen zu halten, den Widerstand des Wassers zu spüren und dabei zu fühlen, daß es immer schneller ging. Mit Schwung schoß das Boot aus dem Fluß. Es lag fast zur Hälfte auf dem Trockenen.  IX  Von denen, die suchen Noch war Atlantis unentdeckt geblieben. Dabei mußte es ganz in der Nähe liegen. Irgendwo auf dem ehemaligen Meeresboden, wo jetzt die Taiga war. Man mußte tiefer ins Innere des Nadelwaldgürtels vordringen, dann fand man vielleicht, was zu finden allen anderen bisher nicht beschieden war, weil sie nicht gründlich genug gesucht hatten oder zu bequem waren oder nicht zu träumen verstanden. Auf eine zweitägige Reise verzichteten die drei Freunde schweren Herzens. Ihre Eltern hatten angedroht, die Bootsfahrten überhaupt zu unterbinden, wenn die Ausreißer am Abend nicht wieder zu Hause wären. Es gab lange Diskussionen. Die Eltern blieben unerbittlich. Sie waren wie jene, die Atlantis nicht gefunden hatten, weil sie nicht träumen konnten. Wieder näherten sich die Jungen der Insel, auf der ihr zerlöchertes Zelt stand. Diesmal nahmen sie Kurs aufs Ufer. Sie verließen ihr Boot an der Stelle, wo Tage zuvor Lena gesessen hatte. Der Pfad, auf dem die Absätze von Kinderschuhen zahlreiche Spuren hinterlassen hatten, führte auf eine Lichtung. Vorsichtig bogen die Jungen das Gebüsch auseinander. Am Ende der Wiese sahen sie zwei Zelte, daneben ein Holzhäuschen auf Kufen mit davorgespanntem Traktor. Die Teilnehmer der Expedition schienen ausgeflogen zu sein. Der Anblick des Lagers erweckte eine Vorstellung geistiger Leere, Gefühle der Trägheit und Schwere. Nur daß neben dem Häuschen ein Motor lief. Er zitterte und spuckte, als sei er empört über die Zumutung, bei dieser Hitze zu arbeiten. Etwas später bemerkten die Jungen den Mann, der auf der Lichtung neben einem grünen Kasten lag und rauchte. Aus einer Schneise kamen zwei Arbeiter. Sie trugen eine große Rolle, von der ein langer Draht abgespult wurde. Sie bewegten sich schweigend und unentwegt vorwärts, als ahnten sie nicht, daß hinter ihrem Rücken der Draht von der Rolle ins Gras glitt, oder als sei ihnen dies höchst gleichgültig. Als die beiden näher kamen, sah man, daß sie sehr müde waren. An einem in die Erde gerammten Pfahl setzten sie vorsichtig einen runden Behälter von der Größe einer Konservendose ab. Dann wanderten sie weiter. Der Mann neben dem grünen Kasten erhob sich, trat auf die beiden zu und sagte etwas. Einer zeigte auf seine Uhr. Daraufhin ging der Mann wieder zurück, sprach ein paar Worte ins Telefon und gab denen mit der Rolle ein Zeichen, weiterzulaufen. Da stampften sie mit schweren, gleichmäßigen Schritten in den Wald. Wenige Minuten später kam ein Mädchen im Turnhemd über die Lichtung. Die Hosenbeine hatte sie in die Stiefel gestopft. Sie verschwand in der Bretterbude. Nun kam Leben in den Mann am Telefon. Er lag nicht mehr, er kniete und schrie aufgeregt in die Sprechmuschel. Nach dem Gespräch rannte er gleichfalls in die Hütte, kam jedoch wenige Augenblicke später wieder heraus und telefonierte abermals. Es versprach interessant zu werden. Etwas lag in der Luft. Gleich nach dem Mann sprang auch das Mädchen ins Freie. Sie lief an der Leitung entlang, bückte sich mehrmals und betrachtete den Draht aus der Nähe. Dann traten die beiden Männer aus dem Wald. Ihre Rolle war leer. Aus der entgegengesetzten Richtung kamen zwei andere Arbeiter, die gleichfalls eine Rolle trugen. Danach trabte ein jüngerer Mensch in Windjacke herbei und verschwand in der Hütte. Fast im selben Augenblick stürzten zwei Männer heraus. Der eine verfolgte den Draht in der einen Richtung, der zweite in der anderen. Schließlich rannte der Bursche mit der Windjacke zurück in die Taiga. Jetzt geriet alles in Bewegung. Es war, als drehte sich über der Lichtung eine riesige Spirale, die immer weitere Bereiche erfaßte und in deren Zentrum der Mann mit dem Telefon stand. Die Aufregung teilte sich den Jungen mit. Sie hatten es in ihrem Versteck nicht ausgehalten und sich längst aus dem Gras erhoben. Auch sie wollten etwas tun, wollten hin und her hetzen und zupacken. Aber plötzlich kam alles zur Ruhe. Wie durch Zauberschlag verstummte das nervenpeitschende Summen des Motors. Die Jungen sahen sich erstaunt an. Wo war auf einmal der rasende Eifer, mit dem die Menschen sich in die Arbeit gestürzt hatten? Der Mann am Telefon schaute zur Hütte. Fast alle Arbeiter hatten sich inzwischen dort eingefunden. Jemand steckte den Kopf zur Tür heraus. „Fertig?" wurde leise gefragt. In der Taiga war es so still, daß man auch ein Flüstern verstanden hätte. „Fertig." „Los!" Der Mann am Telefon reckte sich in die Höhe, schlug mit der flachen Hand durch die Luft und schrie: „Feuer!" Etwas schien zu bersten. Es klang wie gewaltiges, anhaltendes Dröhnen von Kesselpauken. Unter einem leichten Stoß erzitterte die Erde. Gleich darauf grollte der Donnerschlag einer Explosion durch den Wald. Von den Bäumen erhoben sich die Vögel. Sie stiegen steil in die Höhe, als hätte jemand aus einem Katapult auf sie geschossen. Die Jungen rückten enger zusammen. Auf die erste Sprengung, meinten sie, würde eine zweite folgen, vielleicht sogar in noch größerer Nähe. Sie erwarteten einen ohrenbetäubenden Knall. Doch blieb alles ruhig. Der Motor summte wieder. Der Mann am Telefon zündete ein Streichholz an. Er rauchte. Die Jungen wurden kühner, krochen aus dem Gebüsch und wandten sich an das Mädchen im Turnhemd. Petka kam gleich zur Sache. „Wo ist Lena?" erkundigte er sich. In der Eile vergaß er sogar zu grüßen. Zum Glück blickte der umsichtige Dimka über seine Schulter und sagte: „Guten Tag." „Guten Tag", erwiderte das Mädchen lachend. „Besser spät als nie. Sergej Michailowitsch", rief sie laut, „hier ist eine Delegation, die zu Lena möchte." Ein gutmütig aussehender Mann mit grauer Segeltuchjacke trat aus der Hütte. In seinem runden Gesicht saß eine große Nase. Die Haare waren mit Silberfäden durchzogen. Er hielt einen Federhalter und seine Brille in der Hand. „Na, das ist eine Überraschung", rief er mit einem Blick auf Petkas Matrosenhemd. „Was macht die Kunst, Seemann? Haben uns lange nicht gesehen." Petka, der jederzeit bereit war, sich zu sträuben wie ein Barsch am Angelhaken, lächelte. Er wußte gleichfalls, wer vor ihm stand: der Reisende, der mit dem ersten Schiff gekommen war und sich einen „ungekämmten Köter" geschimpft hatte. „Was soll sie machen?" entgegnete Petka. „Nichts. Aber wo ist Lena?" „Ach, Lena", sagte Sergej Michailowitsch gedehnt. Er schien noch zu überlegen, ob es ratsam sei, den Kindern dieses große Geheimnis anzuvertrauen. „Lena kommt gleich", fuhr er in normalem Tonfall fort, „sie ist nur baden gegangen. Wollt ihr warten?" „Ja, bitte." Petka sprach für alle. „Dann geduldet euch einen Augenblick. Ich habe noch zu tun. Nachher werden wir uns unterhalten. Ich muß doch mal sehen, was ihr für Menschen seid. Einverstanden?" Sergej Michailowitsch ging in eins der Zelte. Drei Klappstühle kamen herausgeflogen. Sie fielen krachend ins Gras. „Setzt euch hin, Jungs", sagte das Mädchen freundlich. Um der Höflichkeit zu genügen, kamen die drei der Aufforderung nach, standen aber gleich wieder auf. „Das macht ihr recht. Ich kann diese Dinger auch nicht leiden. Im Gras sitzt es sich viel besser." Das Mädchen lachte. „Ja, das ist wahr." „Lena hat schon von euch erzählt. Wer ist Petka?" „Ich. Warum?" „Nur so. Von dir hat sie auch erzählt." „Stimmt es, daß Sie Erdöl suchen?" wollte Dimka wissen. „Beinah erraten. Nur kein Erdöl, sondern erdölhaltige Schichten. Manchmal hat man Pech. Hier zum Beispiel gibt es wahrscheinlich keins." „Klar", sagte Jurka. „Aber warum suchen Sie dann erst?"  „Weil man die Fundstätten nicht immer mit Sicherheit bestimmen kann. Wenn man die Lage der Erdschichten untersucht, läßt sich wenigstens voraussagen, wo man vielleicht auf ein Lager stoßen könnte und wo nicht. Später kommen Geologen. Die treiben Bohrlöcher in den Boden. Danach weiß man genau Bescheid." „Ach, dann sind Sie wohl gar keine Geologen?" „Wir sind Geophysiker. Wie soll ich euch das erklären." „Was gibt's da viel zu erklären, Tonja", rief Sergej Michailowitsch aus dem Zelt. „Die Sache ist ganz einfach. Geo heiß Erde, Physik heißt Natur. Wir schlafen auf der Erde, wandern darüber hin und sehen uns ihr Inneres an." „Fast so ist es", bestätigte Tonja lächelnd. „Allerdings beschäftigt uns nicht nur die Erde. Wir interessieren uns auch für den Himmel, das Meer, die Erdbeben." „Erdbeben gibt es — ungeheuer." Jurka seufzte. „Manchmal richten sie Riesenschaden an. Städte werden verschluckt. Sogar ganze Länder. Das kommt vor, nicht?" „Länder? Ich weiß nicht. Das ist mir neu. Und Städte werden nicht verschluckt, sondern zerstört. Höchstens daß mal im Meer versinkt, was gerade ungünstig liegt." Die Jungen sahen sich bedeutsam an. „Werden Sie lange nach Erdöl suchen?" fragte Dimka. „Bis zum Frühjahr", erwiderte Tonja. „Das ganze Leben lang", warf Sergej Michailo-witsch ein, der gerade aus dem Zelt trat. „Und wenn wir tot sind, werden das andere besorgen. Jungs, ihr macht euch keine Vorstellung, wie wenig wir von den Vorgängen wissen, die sich unter unseren Füßen abspielen. Was über unseren Köpfen geschieht, ist viel leichter zu erforschen. Um in den Kosmos vorzudringen, haben wir Raketen. Mit Hilfe der Teleskope betrachten unsere Astronomen Sterne, die Tausende von Lichtjahren entfernt sind. Schon ein Flugzeug steigt zwanzig Kilometer in die Höhe. Der Mensch strebt nach oben. Über unsere eigene Erde aber kriechen wir wie Fliegen über einen Globus. Die Länge des tiefsten Schachtes beträgt wenige Kilometer. Etwa bis zur gleichen Tiefe sind auch Taucher ins Meer gestiegen. Aber das sind doch keine Entfernungen. Der Mars ist sechzig Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Trotzdem bin ich überzeugt, daß wir eher diese sechzig Millionen Kilometer überwinden werden, als nur sechzig ins Innere der Erde vordringen." „Flugzeuge werden auch gebraucht", wandte Petka ein. „Düsenflugzeuge besonders." „Ohne Zweifel." Sergej Michailowitsch mußte lachen. „Habe ich behauptet, daß wir keine brauchen? Du willst wahrscheinlich Flieger werden, was?" Petka seufzte. „Aber ich, Jungs, wißt ihr, was ich möchte? Kräftig mit dem Fuß aufstampfen und wie Rumpelstilzchen in der Erde versinken. Gar nicht allzu tief, an die hundert Kilometer." „Das soll nicht tief sein?" rief Dimka entgeistert. Die anderen lachten. „Ja, hundert Kilometer — aber nur, wenn ich die Garantie habe, daß ich auch wieder an die Oberfläche komme. Sonst wäre es sinnlos. Ich müßte erzählen können, wie es im Erdinnern aussieht. Das weiß eben noch niemand genau." „Ich habe gehört, daß es dort unten einen Kern aus reinem Gold gibt", sagte Dimka. „Reines Gold, nur flüssig soll es sein." „Nein, das ist Unsinn." Sergej Michailowitsch machte eine wegwerfende Handbewegung. Fast im gleichen Augenblick hörten alle das Plätschern, das aus dem Bach kam. Die Jungen drehten sich um. Durch das Wasser kam Lena gewatet. „Lena, Kleine, komm her, du hast Gäste." Sergej Michailowitsch hatte eine nette Art, „Lena, Kleine" zu sagen. Es klang ausgesprochen zärtlich. Er nahm das Mädchen an die Hand. „Wenn Lena etwas aufspüren soll, ist sie einzigartig. Die geborene Pfadfinderin. Ein Stückchen weiter oben hat sie im Bach einen ausgehöhlten Felsen entdeckt, die schönste Badewanne, jederzeit bis zum Rand mit warmem Wasser gefüllt. Außerdem weiß sie immer, wo meine Brille zu finden ist." „Wo haben Sie Ihre Brille jetzt?" fragte Lena lächelnd. „Na wo?" Sergej Michailowitsch klopfte mit der freien Hand auf die Taschen seiner Jacke. „Die habe ich sicher im Morgenrock stecken lassen." Er hielt die Brille in der anderen Hand. Mit einem Bügel stieß er das Mädchen leicht in die Seite. Lena griff sofort zu. „Das habe ich gewußt", jubelte sie.  Sergej Michailowitsch machte ein wütendes Gesicht. Lena lachte. Die Jungen wußten nicht, ob alles nur Spiel war oder ob Sergej Michailowitsch tatsächlich des öfteren seine Brille verlegte. Sie sahen aber, wie er gehorsam den Kopf neigte, als sich Lena reckte, um ihm die Brille aufzusetzen. Da begriffen sie endgültig, daß Sergej Michailowitsch ein guter Mann war und seinen Schützling sehr ins Herz geschlossen hatte. „Kommt Vati bald?" fragte das Mädchen.  „Wahrscheinlich morgen, Lena, Kleine. Aber etwas anderes. Ich habe mich vorhin mit deinen drei Freunden unterhalten. Sie interessieren sich für Gold."  „Erzählen Sie ihnen von den Erdbebenwellen im Meer, Onkel Serjoscha", bat Lena.  „Na schön", willigte Sergej Michailowitsch ein. „Solche Wellen entstehen infolge von Erdbeben, die auf dem Meeresgrund toben. Fern vom Festland sind sie kaum zu bemerken, aber sie haben die Eigenart, den Ozean zu durchqueren, und erreichen in der Nähe einer Küste oder Untiefe eine Höhe bis zu vierzig Metern. Jetzt wird selbstverständlich alles fortgeschwemmt, was ihnen in den Weg kommt, bisweilen ganze Städte. Wenn die Küste nicht besonders hoch ist, dringen sie als reißende Ströme weit ins Innere vor und zerstören auch die festesten Bau„Aber die Stadt kann man hinterher noch finden?" fragte Jurka.  „Selbstverständlich — das heißt, was von ihr übriggeblieben ist. Die Häuser müssen erst wieder gebaut werden."  „Aber man kann die Stelle finden, wo die Stadt gestanden hat", murmelte Dimka triumphierend.  „Die braucht man doch nicht erst zu suchen", meinte Sergej Michailowitsch verwundert. „Städte sind bekanntlich auf Karten verzeichnet."  „Aber die, die nicht drauf sind?" forschte Dimka. „Eine Stadt, die nicht auf der Karte verzeichnet ist, existiert nicht."  Lena schaltete sich ein. „Onkel Serjoscha, ich wollte Sie schon oft fragen, ob solche Welle auch manchmal nach Odessa kommt?" „Nein, Lena, Kleine", erwiderte Sergej Mi-chaüowitsch sanft. „Das Schwarze Meer ist ein Binnenmeer. Dort gibt es das nicht." In der Taiga knackten trockene Zweige. Drei Männer traten auf die Lichtung. Sie sahen verwildert aus. An ihrer Kleidung hingen Spinnweben. „Diese verdammten Spinnweben!" schimpfte der eine. „Im Wald kann man sich nicht retten davor. Guten Tag, Genosse Vorgesetzter." „Guten Tag, Ljoscha. Wie geht's?" Ljoscha winkte ab und machte ein Gesicht, als stände es schlimm wie noch nie. „Mit unserm Abschnitt sind wir fertig."  „Prachtjunge! Und warum bist du so aufgebracht?" „Diese Spinnweben. Man sieht nichts. Dauernd sind die Augen verkleistert." Ljoscha nahm die Mütze ab. Wie Eiszapfen purzelten seine verklebten Haare durcheinander. Unter den Brauen funkelten junge Augen. Mit seinem Bart wirkte er sehr gesetzt. Dabei war er höchstens dreißig. „Wann geht's weiter?" fragte er. „In zwei, drei Tagen. Wo habt ihr Stroganow gelassen?" „Der ist bei den Klamotten geblieben", antwortete Ljoscha. „Höst du, Lena", fuhr er lauter fort. „Dein Vater bewacht unsere Sachen. Er läßt dich schön grüßen."  Die Ankömmlinge legten ihre Jacken ab und wuschen sich am Bach. Sergej Michaüowitsch kehrte zu den Kindern zurück.  „Nun, Lena, bald wirst du deinen Freunden Lebewohl sagen müssen. In drei Tagen brechen wir das Lager ab." „Ziehen Sie weit fort?" erkundigte sich Petka. „Etwa fünfzehn Kilometer." „Kommt ihr uns besuchen?" rief Lena. Petka wiegte den Kopf. „Ich weiß nicht. Wenn wir länger von zu Hause fortbleiben dürften. An einem Tag hin und zurück? Das lohnt nicht. Es ist besser, wir kommen morgen wieder. Wenn es gestattet ist", setzte er mit einem Blick auf Sergej Michailowitsch hinzu. „Natürlich. Unbedingt müßt ihr kommen. Aber jetzt wollen wir uns erst mal stärken. Wie weit bist du, Tonja?"  „Es kocht schon", erwiderte Tonja. Auf einen kleinen Tisch, der zwischen den Zelten stand, wurden Aluminiumnäpfe gesetzt. Bald dampfte darin der Borschtsch. Während es sich alle schmecken ließen, glucksten im Kessel Kartoffelstückchen mit Konservenfleisch. Dann wurde auch das verzehrt.  „Zwei Gänge", murmelte Sergej Michailowitsch, „da seht ihr, wie wir leben." „Auf den zweiten müssen wir allerdings häufig verzichten", ließ sich Ljoscha vernehmen. „Manchmal bleibt sogar der erste aus. Dann hängt einem der knurrende Magen in den Kniekehlen." „Ja, das kommt vor", gab Sergej Michailowitsch zu. Er nickte zu den Jungen hinüber und meinte: „Aus den dreien würden wir noch tüchtige Geophysiker machen, was, Kinder? Schade, daß wir weiter müssen. Denen steht die Abenteuerlust im Gesicht geschrieben. Aber ich glaube, sie wollen wohl lieber zu den Fliegern gehen. Und wenn schon auf der Erde etwas entdeckt werden soll, dann allenfalls Gold oder Diamanten. Hab ich recht? Dabei ist Gold ein Metall der Vergangenheit."  „Wir brauchen kein Gold", erklärte Petka.  „Das Wichtigste ist die Romantik", setzte Jurka hinzu.  Sergej Michailowitsch sah ihn aufmerksam an. „Ja, das ist die Hauptsache", bestätigte er, schwieg eine Weile und fragte dann leise: „Ljoscha, was meinst du, gibt es bei uns Romantik?" Ljoscha lachte. „Diese Romantik habe ich heute sehr deutlich am eigenen Leibe zu spüren gekriegt. In der Taiga war da plötzlich so ein Loch. Ich ahnte nichts Böses und plumpste hinein. Das Wasser reichte mir fast bis an den Hals."  Sergej Michailowitsch lächelte. „Vor Überraschungen dieser Art ist man nie sicher. Wie steht's aber mit wirklicher Romantik? Die gibt es wohl doch nicht."  „Wieso denn nicht?" empörte sich Tonja. „Freilich, die Leute sind verschieden. Es gibt Träumer, mutige Menschen, gute Menschen, Muttersöhnchen, Feiglinge, Schwächlinge, und jeder sieht alles von seiner Warte. Da fällt mir ein kleines Erlebnis aus der Studentenzeit ein. Eines Tages schafften sich meine Eltern, die auf dem Lande wohnten, einen Kater an. Das war ein Tier mit merkwürdigen, verwunderten Augen, die fast etwas Menschliches hatten. Bis der Kater zu uns kam, war er in der Stube gehalten worden. Jetzt durfte er im Freien herumstrolchen. Dort war alles groß und hell: der Himmel, die Sonne, die buschigen Baumkronen. Es gab neuartige Geräusche, unbekannte Gerüche. Wenn Katzen denken können, sagte sich der Kater natürlich: Donnerwetter, das ist ja rasend interessant hier. Aber schon bald hatte er sich an seine neue Umgebung gewöhnt. Nach einer Woche besuchte er bereits die Keller unserer Nachbarn, um sich dort an den Lebensmitteln gütlich zu tun. Das Neue hatte seinen Reiz verloren. Es gibt auch Menschen, die sich sehr schnell an alles gewöhnen, was sie täglich um sich sehen. Nur wer das ganze Leben hindurch die Welt so betrachtet, als sähe er sie zum erstenmal, wer nie und keiner Sache gegenüber gleichgültig wird, entdeckt täglich etwas Neues und Schönes. Für ihn steckt das Leben voller Romantik. Aber weshalb? Weil er selber ein Romantiker ist." „Was wollen Sie damit sagen?" fragte Ljoscha. „Es ist Ihrer Ansicht nach völlig gleichgültig, wo ein Mensch arbeitet und welchen Beruf er ausübt. Entscheidend ist sein Charakter?" „Im allgemeinen ja." Ljoscha lächelte. „Sergej Michailowitsch", sagte er gedehnt, indem er den Jungen zuzwinkerte, „verehrter Genosse Vorgesetzter, meiner Ansicht nach ist das ein klein wenig anders. Es gibt Berufe, die unbedingt Heldentum verlangen. Flieger und Pioniere beispielsweise sind immer mutige Menschen. Daneben kennen wir die gewöhnlichen Berufe, zu denen auch der unsere gehört. Gibt es da keine Unterschiede?" „Ljoscha, für diese Worte werde ich Sie entlassen", drohte Sergej Michailowitsch. „Nein, ohne Scherz. Antworten Sie."  „Was sollen wir uns streiten? Fragen wir lieber unsere jungen Leute. Gefällt dir unsere Arbeit?" wandte sich Sergej Michailowitsch an Jurka. „Ja, sehr", war die Antwort. „Ich finde, fliegen ist gewöhnlich. Ihre Arbeit nicht. Ich muß es wissen. Mein Vater ist Flieger. Acht Stunden am Tage sitzt er in seiner Maschine. Für ihn ist das langweilig." „Selbstverständlich, selbstverständlich", stimmte Sergej Michailowitsch zu. „Und bei Nebel macht es ihm noch weniger Spaß, wie?" „Das stimmt. Aber wenn es sein muß, fliegt er trotzdem."  „Natürlich. Und Sturm mag er sicher auch nicht?"  „Nein, überhaupt nicht."  „Und auf einer kleinen Waldwiese zu landen statt auf einem Flugplatz ist vermutlich gar nicht nach seinem Geschmack?"  „Nein, überhaupt nicht", gab Jurka abermals zu. Er wußte noch nicht, worauf der Geophysiker hinaus wollte.  „Aber er landet auf einer Waldwiese?"  „Natürlich. Was soll er machen? Es ist seine Arbeit."  Petka, der im Gras gelegen hatte, sprang auf die Füße. „Arbeit, Arbeit!" rief er aus. „Und in einem Düsenflugzeug, das schneller ist als der Schall? Ist das auch nur Arbeit?" „Ich spreche doch nicht von Düsenflugzeugen." „Dann nimm meinetwegen eine gewöhnliche Maschine. Flieg mal bei Frost in einem offenen Flugzeug!"  „Was erzählst du mir eigentlich", entgegnete Jurka empört. „Das weiß ich alles besser als du." „Wenn du so schlau bist, dann halte gefälligst den Mund."  „Ich denke nicht daran." „Du sollst den Mund halten, habe ich gesagt!" Petka trat einen Schritt auf Jurka zu. Jurka brachte die linke Schulter nach vorn. Ljoscha freute sich. „Gib's ihm!" stachelte er Petka auf. „Schlag ihn in die Kiemen, wenn ihr anders nicht klar kommt. Dann begreift er's gleich. Immer feste diskutiert mit der Faust!" Die beiden Kampfhähne machten grimmige Gesichter. Wer sah, wie böse sie sich anschielten, konnte unmöglich ernst bleiben. Bald lachten alle. Nur Petka und Jurka nicht. Die setzten sich wieder ins Gras. Zur allgemeinen Belustigung eine Prügelei veranstalten? Nein, das war ihnen doch zu dumm. „Komisch", sagte Sergej Michaüowitsch. „Dem einen gefällt es nicht, im Nebel zu fliegen, aber er fliegt. Ein zweiter hält seinen Beruf für sehr gewöhnlich und arbeitet schon das sechste Jahr in der Taiga. Ein dritter findet das Fliegen langweüig, ein vierter tritt mit geballten Fäusten für die Flieger ein. Fragen wir den fünften. Lena, was meinst du dazu?" Lena antwortete nicht sofort. Schließlich meinte sie: „Ich? Das weiß ich auch nicht. Von mir aus würde ich überall arbeiten, ganz egal wo. Nur..." Sie sprach nicht zu Ende, stand auf und lief ins Zelt. „Da haben wir die Bescherung", brummte Sergej Michailowitsch kleinlaut. „Ich bin täppischer als ein Köter. So gedankenlos daherzureden." Er eilte ihr nach. Damit endete der Streit über Berufe und ihre Romantik, die oftmals — wer weiß warum — hinter den gehört. Gibt es da keine Unterschiede?" „Ljoscha, für diese Worte werde ich Sie entlassen", drohte Sergej Michailowitsch. „Nein, ohne Scherz. Antworten Sie." „Was sollen wir uns streiten? Fragen wir lieber unsere jungen Leute. Gefällt dir unsere Arbeit?" wandte sich Sergej Michailowitsch an Jurka. „Ja, sehr", war die Antwort. „Ich finde, fliegen ist gewöhnlich. Ihre Arbeit nicht. Ich muß es wissen. Mein Vater ist Flieger. Acht Stunden am Tage sitzt er in seiner Maschine. Für ihn ist das langweilig." „Selbstverständlich, selbstverständlich", stimmte Sergej Michailowitsch zu. „Und bei Nebel macht es ihm noch weniger Spaß, wie?"  „Das stimmt. Aber wenn es sein muß, fliegt er trotzdem."  „Natürlich. Und Sturm mag er sicher auch nicht?" „Nein, überhaupt nicht." „Und auf einer kleinen Waldwiese zu landen statt auf einem Flugplatz ist vermutlich gar nicht nach seinem Geschmack?" „Nein, überhaupt nicht", gab Jurka abermals zu. Er wußte noch nicht, worauf der Geophysiker hinaus wollte. „Aber er landet auf einer Waldwiese?" „Natürlich. Was soll er machen? Es ist seine Arbeit." Petka, der im Gras gelegen hatte, sprang auf die Füße. „Arbeit, Arbeit!" rief er aus. „Und in einem Düsenflugzeug, das schneller ist als der Schall? Ist das auch nur Arbeit?"  „Ich spreche doch nicht von Düsenflugzeugen."  „Dann nimm meinetwegen eine gewöhnliche Maschine. Flieg mal bei Frost in einem offenen Flugzeug!"   „Was erzählst du mir eigentlich", entgegnete Jurka empört. „Das weiß ich alles besser als du." „Wenn du so schlau bist, dann halte gefälligst den Mund." „Ich denke nicht daran." „Du sollst den Mund halten, habe ich gesagt!"  Petka trat einen Schritt auf Jurka zu. Jurka brachte die linke Schulter nach vorn.  Ljoscha freute sich. „Gib's ihm!" stachelte er Petka auf. „Schlag ihn in die Kiemen, wenn ihr anders nicht klar kommt. Dann begreift er's gleich. Immer feste diskutiert mit der Faust!"  Die beiden Kampfhähne machten grimmige Gesichter. Wer sah, wie böse sie sich anschielten, konnte unmöglich ernst bleiben. Bald lachten alle. Nur Petka und Jurka nicht. Die setzten sich wieder ins Gras. Zur allgemeinen Belustigung eine Prügelei veranstalten? Nein, das war ihnen doch zu dumm. „Komisch", sagte Sergej Michailowitsch. „Dem einen gefällt es nicht, im Nebel zu fliegen, aber er fliegt. Ein zweiter hält seinen Beruf für sehr gewöhnlich und arbeitet schon das sechste Jahr in der Taiga. Ein dritter findet das Fliegen langweilig, ein vierter tritt mit geballten Fäusten für die Flieger ein. Fragen wir den fünften. Lena, was meinst du dazu?" Lena antwortete nicht sofort. Schließlich meinte sie: „Ich? Das weiß ich auch nicht. Von mir aus würde ich überall arbeiten, ganz egal wo. Nur..." Sie sprach nicht zu Ende, stand auf und lief ins Zelt. „Da haben wir die Bescherung", brummte Sergej Michailowitsch kleinlaut. „Ich bin täppischer als ein Köter. So gedankenlos daherzureden." Er eilte ihr nach. Damit endete der Streit über Berufe und ihre Romantik, die oftmals — wer weiß warum — hinter den sieben Bergen gesucht wird. Beim Abschied sagte Sergej Michailowitsch zu Jurka: ,,Da sind wir uns nun tüchtig in die Haare geraten, aber viel Sinn hat es nicht gehabt. Welcher Beruf am interessantesten ist, wissen wir immer noch nicht. Stimmt's Jurka?" Jurka blickte Sergej Michailowitsch an. Er seufzte. „Wissen Sie, Sergej Michailowitsch, seien Sie mir bitte nicht böse, aber Sie sind ein schlauer Fuchs." Sprach's und lief seinen Freunden nach.  X  Eine Unterweisung im Ringen In Ust-Kamensk gab es zwei Überraschungen. Die eine im Haus der Issajewa. Als Petkas Mutter von der Arbeit heimkehrte und durch einen Türspalt blinzelte, sah sie ihren Großen mit Hose und Matrosenhemd bekleidet am Tisch sitzen. Neben ihm kauerte stirnrunzelnd Senka. Er hatte den Kopf zur Seite geneigt, prustete und bewegte ungeduldig die Ellbogen. „Ist ja gar nicht richtig", zeterte er, „Mama näht ganz anders." Für diese Bemerkung bekam der Kleine vom Großen eins hinter die Ohren. Der Kleine zuckte zusammen, steckte den Klaps jedoch widerspruchslos ein. Brüllen hätte wenig Sinn gehabt. Es war niemand in der Nähe, der ihn bemitleiden konnte. Sie waren beide so emsig bei der Sache, daß sie nicht merkten, wie die Mutter eintrat. Als erster entdeckte Senka sie. Er machte ein freudiges Gesicht. Eine Sekunde später fiel ihm ein, daß Petka ihn geschlagen hatte. Da begann er zu schluchzen. Mutter kam näher, spähte dem Großen über die Schulter und schrie überrascht auf. Petka bemühte sich, einen Knopf an sein Oberhemd zu nähen.  Mutter hätte daran nichts Besonderes gefunden, wenn es nicht gerade ihr Großer gewesen wäre, der sich da mit Zwirn und Nadel versuchte. Aber ausgerechnet Petka, den man nicht anders kannte als mit zerrissenem Kragen, dessen Hemd des Abends verriet, ob am Morgen in Ust-Kamensk jemand den Gartenzaun gestrichen hatte, der seit seiner Bekanntschaft mit den Motorenschlossern in befleckter Hose umherlief, der zu den Fischern ging und auf dem Hemd Hunderte von Schuppen heimbrachte. All diese kleinen Liederlichkeiten hatten ihn nicht gestört. Sie waren in seinen Augen ebenso natürliche Erscheinungen gewesen wie Ölflecke auf einem Schlosseranzug. Und plötzlich sollte ihm ein abgerissener Knopf Kopfschmerzen bereiten? Da stimmte doch etwas nicht. Nach getanem Werk nahm er ein stumpfes Messer und säbelte den Faden durch. Erst als auch dies geschehen war, schaute er zu seiner Mutter auf. „Der war schon lange ab, aber du bist nie dazu gekommen, ihn anzunähen. Sollte ich ewig so rumlaufen?" „Warum hast du mir nicht mal einen Ton gesagt?" entgegnete die Mutter verstört.  „Weil du nicht weißt, wo dir der Kopf steht. Aber wenn du mir einen Gefallen tun willst, Mutti, dann kauf mir ein neues Hemd."  „Seit wann kümmerst du dich um deine Kleidung? Na schön, ich werde dir eins nähen."  „Nicht nähen, Mutti. Das dauert zu lange. Ich brauche es unbedingt schon morgen. Kaufst du mir eins?"  „Warum hat es damit solche Eile?" „Ich brauch es eben." „Warte wenigstens noch drei Tage. Dann gibt es Geld."  „Ach, Mutti, du verstehst mich nicht. Ich brauche es sofort. Meinetwegen nur für morgen. Danach kannst du es wieder verkaufen." Die Mutter schüttelte den Kopf und wunderte sich. Petka ließ nicht locker. Schließlich zog er die Mutter mit sich fort ins Geschäft. Das zweite Ereignis fand am gleichen Tage im Haus der Alenows statt. „Papa", wandte sich Jurka an seinen Vater, „was ist deine Meinung: Kann man einen blinden Menschen heilen?" „Das hängt ganz von der Art der Krankheit ab. In einigen Fällen ist eine Heilung möglich, in anderen nicht." „Wenn er aber aussieht wie ein gesunder Mensch? Sagen wir mal, er hat richtige Augen, und man merkt gar nicht, daß er blind ist?" „Das weiß ich nicht, Jurka. Ich bin kein Arzt. Warum fragst du?" „Weil ich später mal Augenarzt werden will." „Augenarzt?" Vater Alenow mußte lachen. „Weshalb nicht Chirurg oder Nervenarzt?" Jurka war beleidigt. „Ich weiß nicht, was du daran lächerlich findest", sagte er gereizt. „Du kannst dir eben nicht vorstellen, wie das ist, wenn ein Mensch alles sehen möchte und nicht kann." „Jurka, ich wette, du hast wieder ein Buch gelesen. Wie war das, wolltest du nicht viel reisen?"  „Das werde ich auch. Arzt sein und reisen. Die Kranken müssen manchmal zehn Jahre warten, bis sie zu einem Professor kommen können. Ich werde zu ihnen fahren." „Mascha, hast du das gehört? Unser Jurka hat eine neue Leidenschaft entdeckt. Er wird Augenarzt mit Professorentitel und fährt zu seinen Patienten." „Freilich habe ich es gehört", rief Mutter zurück.  „Meine Herren Professoren, darf ich Sie zu Tisch bitten. Gleich wird die Suppe kalt." So war es immer. In den größten Augenblicken seines Lebens, jedesmal wenn Jurka den Wunsch verspürte, edelmütig zu sein, und merkte, daß er vor einer wichtigen, folgenschweren Entscheidung stand, wo er elterlichen Rat brauchte, wurde die Suppe kalt. Er hatte jetzt keinen Appetit, sondern fühlte den Drang in sich, eine Heldentat zu begehen. Da kamen sie mit ihrem Essen. Eltern sind gewöhnt, den Sohn nicht für voll zu nehmen. Sie sehen mit gutmütigem Lächeln auf ihn herab und wollen nicht verstehen, daß er es ernst meint. In ihren Augen ist er ein Phantast, auf dessen Gerede man nur zum Spaß eingeht. Natürlich ist das leichter, als eine vernünftige Antwort zu geben. Vater und Mutter blickten schmunzelnd das Söhnchen an, nicht etwa herablassend, ach wo, eher zärtlich. Aber gerade deswegen sollten sie nie etwas von dem blonden Mädchen erfahren, das immer aussah, als suchte es etwas in der Ferne. Am Abend traf Jurka seinen Freund Petka auf der Straße. Sie sprachen über dies und jenes. Ihre Geheimnisse aber behielten sie für sich, wie es richtigen Männern geziemt. Der eine verriet nichts von seinem neuen Hemd, der andere nichts von seinem Entschluß, Arzt zu werden. Sie suchten Dimka auf, um mit ihm zu vereinbaren, am nächsten Morgen schon eher aufzubrechen. Das Haus von Dimkas Eltern stand am Rande der Stadt, dort, wo die Taiga beginnt. In dieser Gegend war es still. Auf dem Weg stand dünnes Gras. In der Mitte verrieten Autospuren, daß der Tankwagen des Flughafens hier öfter durchfuhr.  Sie fanden Dimka am Zaun sitzend, den Rücken gegen die Latten gelehnt. In der Linken hielt er eine tönerne Katze mit einem Schlitz auf der Stirn. Das war seine Sparbüchse. Mit einem leimbeschmierten Stöckchen stocherte er in dem Spalt.  „Was machst du da eigentlich?"  „Ich will mein Geld zählen. Die Münzen habe ich rausgeschüttelt, aber die Scheine kommen nicht durch. Soll ich die schöne Katze zerschlagen? Das wäre doch ein Jammer." „Wieviel hast du denn?"  „Es werden ungefähr acht Rubel sein."  „Wir haben gar nicht gewußt, daß du so reich bist", sagte Petka. „Als wir für das Boot sammelten, hast du drei Rubel gegeben. Du bist gemein, Dimka." „Das ist nicht wahr. Ich spare für ein Gewehr. Wenn ich genug beisammen habe, seid ihr die ersten, die schießen wollen."  „Du kannst sparen, soviel du willst, aber nicht still und heimlich. Das ist unanständig." „Was hängst du dich in fremde Angelegenheiten!" begehrte Dimka auf. „Ist es dein Geld?" „Einen Augenblick, Petka", platzte Jurka dazwischen. Er befürchtete mit Recht, das Gespräch könnte einen unerwünschten Ausgang nehmen. „Dimka, wir wollen zwei Tage fortbleiben." „Wenn ihr es so gut habt, daß eure Eltern einverstanden sind. Ich darf bestimmt nicht." „Wir dürfen auch nicht. Aber von uns aus kann kommen, was will. Wir fahren eben. Damit basta. Diesmal geht es nicht auf die Insel, sondern in die Taiga. Dort finden wir eher was." „Bestimmt", sagte Dimka gedehnt. „Fragt sich bloß, was. Ich dachte, wir hatten beschlossen, auf der Insel zu bleiben. Schön, fahren wir für zwei Tage, dann setzt es wenigstens was, und dann war alles umsonst." „Wie meinst du das?"  „Nur so." „Nein, sag, wieso war dann alles umsonst?" beharrte Petka. „Wieso, wieso." Dimka zog behutsam einen Dreirubelschein heraus und legte ihn neben sich ins Gras. „Weil ihr nur hinter diesem Mädchen her seid. Da habt ihr ja das richtige Dornröschen gefunden." „Sag das noch einmal."  „Denkst du, ich traue mich nicht?" „Na los!" „Dornröschen." „Los, noch mal!" „Dorn..." Batz! Dimkas Sparbüchse flog ins Gras. Er sprang zur Seite. Dann überkam ihn die Scham, weil er ausgewichen war, und er stürzte sich auf Petka. Ihre Fäuste prallten aufeinander, in den Fingern knackten die Knöchel. Vor Schmerz verdoppelten beide ihre Kräfte. Wie irrsinnig hämmerten sie aufeinander los und fuchtelten blindlings mit den Armen, als wäre es ein Gefecht auf Leben und Tod. Alle Regeln eines ehrlichen Kampfes waren vergessen. Dimka versetzte Petka einen Tritt. Petka packte seinen Gegner am Hals. Als staubbedecktes Knäuel wälzten sich die ehemaligen Freunde auf der Erde. Jurka fühlte sich verpflichtet, einzugreifen. Er bekam einen von Dimkas Füßen zwischen die Finger und zog aus Leibeskräften daran. Zur Strafe erhielt er einen Tritt gegen das Schienbein. Hierauf versuchte er, die beiden Raufbolde an den Schultern auseinanderzuzerren, aber auch dies ohne Erfolg. Er steckte nur einen Nasenstüber ein. Nun verlor er die Geduld. Er wollte Dimka einen Tritt versetzen, traf aber Petka. Das brachte ihn zur Weißglut. Er wandte sich ab und trat beiseite. Den beiden Kämpen ging die Puste aus. Sie mußten die Balgerei unterbrechen und hielten sich nur gegenseitig an den Händen. So lagen sie mitten auf dem Weg. „Willst du das noch einmal sagen?" keuchte Petka heiser. „Dorn...", röchelte Dimka. Schon wälzten sich Beine und Köpfe wieder im Staub. Es war alles sehr schnell gegangen. Auf einmal spürte Petka, daß ihn jemand hochzog. Ohne Überlegung stieß er zu und traf in etwas Weiches. „Womit habe ich das verdient?" hörte er eine vertraute Stimme fragen. Viktor Nikolajewitsch, der Lehrer! „Issajew?" Natürlich Issajew. Eine winzige Kleinigkeit nur brauchte dieser Issajew auszufressen, schon stand garantiert Viktor Nikolajewitsch vor ihm. War es da ein Wunder, wenn Petka auf den Gedanken kam, daß der Lehrer ihn heimlich verfolgte? „Ich komme nicht wieder in die Schule", schrie er zornig. „Ich gehe ab. Warum spionieren Sie hinter mir her? Jetzt sind Ferien." Viktor Nikolajewitsch nahm sich zusammen und entgegnete sanft: „Ich spioniere dir nicht nach. Ich kam zufällig vorbei. Da sah ich, wie ihr euch prügeltet." Abermals fühlte sich Jurka veranlaßt, einzuschreiten. „Das war keine Prügelei, Viktor Nikolajewitsch. Sie hatten einen Streit, wer der Stärkere ist. Dann haben sie es ausprobiert." Viktor Nikolajewitsch blickte von einem zum andern. Er dachte: Laufen mir Schüler über den Weg, ist todsicher dieser Issajew dabei. Was kann ich ihm sagen? Daß man sich nicht rauft? Als ob er das nicht selber wüßte. Soll ich ihm drohen? Aber womit, wenn er schon von sich aus bereit ist, die Schule zu verlassen? Nie zuvor hatte Viktor Nikolajewitsch so brennend wie jetzt gewünscht, dem sonderbaren Burschen ein paar passende Worte zu sagen, damit er ihn verstand und nicht immer nur böse anstarrte. Er dachte: Issajew weiß sehr gut, was recht ist und was nicht, aber er ist noch ein Junge; jeder Junge tut gelegentlich, was er nicht tun dürfte. Der Lehrer Rjabzew suchte nach den passenden Worten und fand sie nicht. Da eilte ihm der ehemalige Schüler Rjabzew zu Hilfe. Der sprach aus ihm, als er sagte: „Soll das ein Ringkampf sein? Ihr müßt euch an die Regeln halten. Sobald einer auf den Schulterblättern liegt, ist der Kampf entschieden. Ihr habt beide schon mehrmals verloren. Meint ihr, ich hätte nicht gesehen, wie ihr euch auf der Straße wälztet?" Die drei Jungen blickten erstaunt ihren Lehrer an. Begriff er wirklich nicht, daß es eine Rauferei gewesen war? „Wir müssen also herausbekommen, wer von euch als erster unten lag", fuhr Viktor Nikolajewitsch beflissen fort. „Ich war noch etwas weit weg, daher konnte ich es nicht recht erkennen. Vielleicht hat Alenow besser gesehen?" „Ich glaube, Dimka", meinte Jurka. Petka, der unter keinen Umständen der Unterlegene sein wollte, knurrte bissig: „Ja, er."  „Nein, du", brauste Dimka auf, „du bist zuerst auf den Rücken gefallen."  „Versucht es noch einmal, ich bin der Schiedsrichter", schlug der Lehrer vor.  Petka und Dimka hatten ihr Mütchen gekühlt und auch genügend blaue Flecke, aber Viktor Nikolajewitsch tat, als wüßte er das nicht. Die beiden nahmen Aufstellung. Jeder legte dem andern die Hände auf die Schultern und schielte ihn von unten her an. Keiner wollte zu Boden gehen, doch die Griffe waren jetzt sanft, sie sollten nicht verletzen. Der Friede schien nicht mehr fern. Eine Zeitlang stampften die Ringer auf der Stelle. Als Dimka stürzte, nahm er Petka mit. Wieder wälzten sie sich im Staub. Petka versuchte, sich über Dimka zu schieben. Ein Schulterblatt berührte schon die Erde, da riß sich Dimka los. Petka gab die letzten Kräfte her, kam auf den Gegner zu liegen und drückte ihn zu Boden. ,,Es war nicht richtig", rief Dimka, indem er sich schüttelte. „Man konnte noch eine Hand unter die Schulterblätter schieben. Ich habe eine Brücke gemacht." „Dimka, das stimmt nicht", entschied Viktor Nikolajewitsch. „Es hat alles seine Richtigkeit. Nach den Regeln bleibt es aber nicht bei einer Partie. Ehe man weiß, wer wirklich der Stärkere ist, müssen etwa fünf Kämpfe ausgetragen werden. Nun, für den Rest braucht ihr mich nicht mehr." „Es sollte doch gar kein Ringkampf sein", murmelte Petka. Der Lehrer lächelte. „Auf Wiedersehen, Champion." Er ging mit großen Schritten weiter. Die Jungen blickten ihm schweigend nach. „Na, Dimka, was ist, bleibst du auch für zwei Tage?" fragte Jurka.  „Was denn sonst? Wenn wir Pech haben, dann alle zusammen."  Petka scharrte mit dem Absatz auf der Erde. „Beruhige dich, wir werden kein Pech haben." „Wie du ihn immer ansiehst", sagte der friedfertige Dimka zu Petka. „Richtig giftig. Dabei ist er gar nicht so. Nur noch sehr jung und unerfahren. Wenn er Erfahrung hätte, würden wir uns bei ihm nicht zu mucksen wagen." „Also, worauf warten wir? Dort liegt deine Sparbüchse. Ist sie kaputt?" „Wennschon", sagte Dimka.  XI Die Expedition bricht auf Als die drei das Lager erreichten, sahen sie, daß der Traktor das Bretterhäuschen bereits fortgezogen hatte. Arbeiter waren damit beschäftigt, die Habseligkeiten der Expedition in Kisten und Säcken zu verstauen. Was sie fertig verpackt und verschnürt hatten, wurde auf die Pferde geladen. Dann ging es zu zweit oder dritt ein Stück in die Taiga. Auf der Lichtung erblickten die Jungen mehrere Akkumulatoren, die mit Schutzhüllen versehenen Geräte, einen verrußten Ofen. Die Zelte waren bereits abgebrochen. Lediglich die rechtwinkligen Flecke des gelben, niedergedrückten Grases erinnerten daran, wo sie gestanden hatten. In diesem Durcheinander kamen sich die Besucher höchst überflüssig vor. Besonders enttäuscht war Petka, der sein neues hellblaues Hemd angezogen hatte. Übrigens kümmerte sich niemand um sie. Lediglich Sergej Michailowitsch nickte ihnen aus der Ferne freundlich zu, und Tonja sagte im Vorübergehen guten Tag. Die Freunde streiften über die Lichtung, wanderten um den ehemaligen Lagerplatz, aber nirgends entdeckten sie Lena. Fragen wollten sie nicht. Die Leute waren alle zu sehr beschäftigt. Endlich kam Tonja zu ihnen.  „Lena ist schon abgerückt, Jungs."  „Wo denn hin?"  „Auf einen anderen Lagerplatz. Dort ist auch ihr Vater."  Die Jungen glaubten, Tonja werde ihnen jetzt sagen, daß Lena auf sie gewartet und beim Abschied gebeten habe, die Gäste ja recht schön zu grüßen. Außerdem hofften sie zu hören, sie sollten doch, wenn irgend möglich, ihre kleine Freundin in der neuen Umgebung besuchen. Tonja sagte jedoch nichts von alledem. Überhaupt benahm sie sich recht merkwürdig. Sie schien verstimmt zu sein, preßte die Lippen aufeinander und blickte die Jungen an, als wäre sie ihnen böse. Jurka hielt es nicht mehr aus. „Hat sie denn nichts bestellt?" fragte er. „Nein." Tonja schwieg eine Weile. Dann erklärte sie: „Wißt ihr, Jungs, Lena ist furchtbar traurig. Professor Filatow ist gestorben. Wir haben es erst gestern erfahren. Er war doch ihre ganze Hoffnung. Wir wollten ihr nichts verraten, aber durch einen dummen Zufall hat sie es gehört." Tonja machte mit den Händen eine Bewegung, die Hilflosigkeit ausdrückte, und entfernte sich. Die Jungen trafen Anstalten, ihr Boot aufzusuchen. Als sie ein paar Schritte gegangen waren, wurden sie angerufen. „Was fällt euch ein, ohne Abschied fortzulaufen", beschwerte sich Sergej Michailowitsch. Er trat heran. „Vielleicht begegnen wir uns nicht noch einmal." „Auf Wiedersehen", sagten sie wie aus einem Munde. „Alles Gute, ihr Helden. Ich werde Lena erzählen, daß ihr hiergewesen seid." Er zog die Brauen zusammen, als sei ihm plötzlich noch etwas eingefallen, und sagte: „Ihr müßt verstehen, der Professor war der einzige Lichtblick in ihrem Leben. Sie ist noch nicht allzulange blind, erst anderthalb Jahre. Seitdem sparen Vater und Tochter für die weite Reise. Eine Mutter hat Lena nicht mehr, und der Vater arbeitet hier, um mehr zu verdienen. Im Herbst wollten sie fahren."  „Daraus wird nun nichts." Petka starrte finster vor sich hin.  „Sie werden trotzdem fahren. Ein Mensch ist gestorben, aber sein Werk lebt", entgegnete Sergej Michailowitsch zuversichtlich. „Da sind die Schüler, da ist die Klinik. Nur liegen die Dinge bei Lena etwas schwierig. Begreift ihr, was es heißt, die Hoffnung zu verlieren? Lena hat an den Professor geglaubt. Versteht ihr? Nicht an sein Werk, sondern an ihn persönlich. Sie wußte: In Odessa lebt ein Professor Filatow, er wird mich binnen eines Monats gesund machen. Nun gibt es diesen Professor nicht mehr. Sie kann sich gar nicht beruhigen. Wir sind schon ganz ratlos." Die besondere Wärme, mit der Sergej Michailowitsch dieses „wir" aussprach, verriet den Jungen, daß Lenas Leid das Leid aller war. Offenbar mußte das so sein, wenn man viel umherzog und ein an Schwierigkeiten reiches Leben führte. Die Leute waren gewöhnt, den Schmerz wie das Brot miteinander zu teilen. „Und ihr, meine Herren Reisenden, habt ihr es noch weit heute?" fragte Sergej Michailowitsch.  „Den Fluß rauf. Werden schon sehen."  „An den Stromschnellen vorbei?" „Ja." „Ihr denkt wohl, daß ihr dort das Gesuchte findet?" „Lena?" fragte Petka. „Atlantis." Jurka horchte auf. „Atlantis?" „Mädchen können nichts für sich behalten", meinte Dimka. „Ich habe es gleich gesagt. Da sieht man, was ein Versprechen wert ist. Sie wollte es keinem erzählen." Sergej Michailowitsch lachte. „Ich bin so gut wie keiner. Bei mir geht das zu einem Ohr rein, zum andern raus. Allerdings werdet ihr Atlantis in dieser Gegend kaum finden. Das liegt im Atlantischen Ozean, im Gebiet der Azoren. Obgleich sich die Gelehrten bis heute nicht einig sind, wo sie nun wirklich suchen sollen. Die einen vermuten es im Mittelmeer, andere im Schwarzen Meer, manche sogar im Eismeer." „Und hier keiner?" fragte Jurka enttäuscht. „Hier?" Sergej Michailowitsch blinzelte. Er blickte den Jungen aufmerksam an und meinte fröhlich: „Ausgeschlossen ist es nicht. Macht nur schön die Augen auf. Hauptsache, ihr verirrt euch nicht. Sonst müßt ihr nachher noch gesucht werden. Da, das schenke ich euch." Er hielt ihnen einen Kompaß hin. „Danke, damit sind wir versorgt." „Mit so etwas nicht." Es war ein Kompaß wie eine Uhr. Er hing an einem Riemen. Nein, so etwas hatten sie tatsächlich nicht aufzuweisen.  „Dann lebt wohl. Vielleicht lauft ihr mir noch einmal über den Weg. Schönen Dank für Lena." „Wieso für Lena?" „Wenn ihr älter seid, werdet ihr es verstehen." Sergej Michailowitsch gab jedem von ihnen die Hand. Dann ging er davon. Wenige Minuten später war die Kette der Arbeiter in der Taiga verschwunden. Die Stimmen klangen schwächer und verhallten schließlich. Dafür hörte man jetzt andere Geräusche: das Rauschen des hohen Grases, das Knarren der Baumstämme, fröhliches Vogelgezwitscher.  Die Gedanken der Jungen begleiteten alle, die fortgezogen waren, Wege und Pfade verschmähend, quer durch den Wald. ,,Wollen wir nicht leise hinterhergehen?" schlug Petka vor. „Vielleicht ist es gar nicht schlimm."  „Hinterhergehen?" fragte Dimka argwöhnisch.  „Na ja."  „Und Atlantis?" gab Jurka zu bedenken. „Der braucht jetzt kein Atlantis", meinte Dimka, „der braucht nur..." Er biß sich auf die Lippen.  Petka hatte schon die Fäuste geballt. Er musterte den Freund, hart und ohne Wimper zucken, wie ein Erwachsener. Daß er nichts sagte, nur mit den Augen sprach, machte seine Drohung besonders gefährlich. Dimka ahnte, daß er in diesem Kampf haushoch unterliegen würde. „Wir wollten zusammen Atlantis suchen", sagte er kleinlaut, „das war vereinbart." Petka machte eine scharfe Kehrtwendung und ging zum Boot.  Es wehte ein kühler Wind. Der Fluß glich einem gegen den Strich gebürsteten Teppich. Graue Wolkenfetzen segelten über den Himmel. Vorzeichen eines nahenden Unwetters. Vor den Stromschnellen nahm die Strömung zu. Die Jungen mußten sich häufiger beim Rudern ablösen. Der Bug zerteilte das Wasser. Niedrige Wellen rasten gegen die Wände des Bootes und zerschellten. Auf dem Fluß zeigten sich trichterförmige Strudel. Mitunter hatten die Jungen das Gefühl, jemand säße unter der Oberfläche, hielte zum Schabernack die Ruder fest und zöge daran. Dann sahen sie die Stromschnellen. Davor lagen schaumgekrönte Steine. Nur in der Mitte des Flußbettes gab es eine schmale Rinne. Die aufgewühlten Wassermassen wälzten sich tosend hindurch. Die Jungen kletterten ans Ufer. Sie waren barfuß und rutschten auf den glitschigen Steinen aus, schleppten aber unentwegt das Boot. „Zurück ist es ein Kinderspiel", verkündete Petka. Die Tunguska tobte so laut, daß er schreien mußte. „Los, runter zur Fahrrinne!" Jurka und Dimka wiegten bedenklich die Köpfe. Sie hatten nichts gegen Abenteuer, aber mit den Stromschnellen war nicht zu spaßen. An dieser Stelle waren schon Kutter gekentert und Menschen ertrunken. „Das Wasser ist gestiegen", schrie Petka. „Wir müssen uns beeilen." Weiter oben hatte es geregnet. Der Fluß schien zu gären. Er trat über die Ufer. Unaufhörlich schwollen die Fluten, rissen morsche, um die Achse kreiselnde Baumstämme mit in die Ferne. Am Unterlauf stauten sich die Nebenflüsse. Auch hinter den Schnellen war die Strömung so stark, daß die Jungen noch lange treideln mußten. Der Wind nahm zu. Vom hohen Ufer aus peitschte er das brodelnde Wasser und trieb es empor. Die Jungen kämpften gegen den Sturm und gegen die Strömung. Endlich hatten sie genug, zogen das Boot aufs Trockene, kletterten die Böschung hoch und gingen durch die Taiga.  XII  Feuer Der Sturm heulte in der Taiga. Er tobte pausenlos, mit unverminderter Gewalt, als wäre am Ozean ein Tor aufgesprungen und das hätte einen noch nie dagewesenen Durchzug verursacht. Schmutzige Schwaden flatterten niedrig über die Kronen der Bäume dahin. Die Kiefern, die auf der Nordseite kahl waren, winkten ihnen mit krummen Zweigen nach. Alles gehorchte dem Sturm — nur die Sonne nicht; sie glomm matt durch die Wolken und schien ein Stückchen weiter nach Norden gerückt zu sein.  Noch nie hatten sich die Jungen so lange in der Taiga aufgehalten. Es war unwegsam, alles andere als gemütlich. Nicht einmal einen Pfad gab es. Stellenweise stand der Wald so dicht, daß die alten Bäume nicht zu Boden stürzen konnten, sondern an den Ästen ihrer Nachbarn hängenblieben und in dieser Lage langsam verfaulten. Auf den Lichtungen wuchs trockenes Gras. Wenn der Sturm über die Halme strich, brachte er sie zum Klingen. Durchs Dickicht irrten blaue Schatten. Weiter entfernt wirkte die Taiga wie erstarrt. In dieser Reglosigkeit lag etwas Ewiges, Bedrückendes. Die Jungen waren in der Nähe geboren und aufgewachsen. Sie kannten die Taiga, fürchteten sie nicht, wußten, daß sie aus Bäumen, Gras, Gestrüpp besteht, daß alles, was in ihr Nase und Ohren besitzt, vor einem Menschen die Flucht ergreift. Nur dem Geduldigen und Behutsamen zeigt sich der Wald, wie er wirklich ist. Angst verspürten die Jungen also nicht. Nie wären sie auf den Gedanken gekommen, daß ihnen etwas zustoßen könnte. Sie wanderten nach Norden, bahnten eine Gasse durch das Gras, das sich hinter ihnen wieder schloß. Natürlich ging es nur langsam voran. Aber schweigend drangen sie unverdrossen vorwärts, bis ihnen schien, daß sie bereits lange unterwegs waren und den Fluß weit hinter sich gelassen haben mußten. In Wahrheit hatten sie zwei Kilometer zurückgelegt. Dimka stöhnte. „Nun laufen wir schon eine Ewigkeit durch die Taiga, und der Erfolg ist gleich Null." „Du hast wohl gedacht, daß dir alles in den Schoß fällt?" fragte Petka. „Mir knurrt der Magen." Dimka konnte einem auf die Nerven fallen. „Und die Kartoffeln haben wir im Boot gelassen. Die Graupen ebenfalls. Wenn es regnet, sind sie hin. Bin dafür, daß wir umkehren." Sie waren alle seit langem müde und hungrig, nur hatte sich bisher niemand eine Blöße geben wollen. Als Dimka zu reden anfing, fühlten sich die beiden anderen erleichtert. Sie waren durchaus dafür, eine Rast einzulegen, ließen sich, wo sie standen, umsinken und verharrten einige Minuten ausgestreckt, schweigend im Gras. Zum erstenmal hatte Jurka das Gefühl, mit dem Spiel gehe es bald zu Ende, obwohl er noch meinte, das Suchen müßte eine Freude sein, wenn man wenigstens von Zeit zu Zeit einen kleinen Erfolg sähe. Petka dagegen bedauerte, daß sie nicht doch nach Osten gewandert waren. Bei einem pausenlosen Marsch durch die Taiga hätten sie die Expedition vielleicht eingeholt. Er stellte sich vor, wie er zu Lena sagen würde, sie müsse unbedingt nach Odessa fahren, da Hoffen und Suchen immer noch besser seien, als untätig herumzusitzen. Dimka aber dachte an die Karpaten. Wie es hieß, gab es dort sogar im Winter Obst, soviel das Herz begehrte. Weiter wußte er nichts von dieser verlockenden Gegend, nicht einmal, wo er sie auf dem Atlas suchen sollte. Sie lagen müde im Gras. Jeder hing seinen Gedanken nach. Auf einmal merkten alle, daß etwas nicht stimmte. Sie spitzten die Ohren. War das ein komisches Knacken und Knistern, als kribbele, als wimmele der ganze Wald. Nachdem Petka „guckt mal!" geschrien und nach oben gezeigt hatte, sahen auch Dimka und Jurka die Eichhörnchen, die über ihnen von Ast zu Ast turnten, unzählig viele, in verschiedenen Tönungen: rostbraune, rötlich schimmernde, fuchsige mit dunklen Schwänzen, dunkelbraune mit Längsstreifen auf den Rücken. Es war, als habe der Wind diese riesige Herde hergetrieben. Gewandt, mit sicheren Sprüngen wechselten die Tiere von Baum zu Baum. Wo der Abstand sehr groß war, glitten sie spiralig den Stamm hinab, liefen ein Stück auf ebener Erde, hastig in den Bewegungen, nervös, scheinbar ziellos und doch in eine Richtung. Sie alle folgten dem gleichen Wunsch, recht bald den Fluß zu erreichen. Eine Eichhörnchenwanderung in diesem Ausmaß hatten die Jungen noch nicht erlebt. Sie sprangen auf die Füße. Sogleich gabelte sich der Strom der wandernden Tiere, huschte links und rechts an dem Hindernis vorbei, ohne einen Augenblick im rasenden Lauf innezuhalten. „Sie fliehen", flüsterte Dimka. „Wovor haben sie Angst?" „Sind das viel!" staunte Jurka. Wenige Sekunden später brach ein Elch durchs Dickicht, schwer beladen mit seinem Geweih, lautlos. Die Jungen würdigte er keines Blickes, tat, als wären es Bäume und keine Menschen. Petka und seine Freunde kamen aus dem Staunen nicht heraus. Sie waren schrecklich aufgeregt. Der Wald gab seine Geheimnisse preis. Eine unbekannte Kraft hatte sich der Tiere bemächtigt, ein Zauber, der größer sein mußte als die Furcht vor den Menschen. „Was haben sie nur?" fragte Petka. Es war die letzte Frage. Sie spürten Brandgeruch, sahen auch bald den Rauch, der über die Bäume quoll, dünn und durchsichtig zuerst. Kurze Zeit darauf verschwammen die Umrisse der Stämme. Dort, woher der Wind kam, brannte es. Noch stand der Fluchtweg offen. Aber die Jungen schritten dichter an das Feuer heran. Sie wollten den Brand sehen, bevor sie umkehrten. Je weiter sie vorrückten, desto dichter wurde der Rauch. Der Wind zerwühlte die Nadelbüschel der Bäume. Darunter regte sich kein Lüftchen. In einer Senke standen die Schwaden wie Wasser in einem See. Die Freunde wateten hindurch. Sie waren froh, als sie eine höher gelegene Stelle erreichten. Zu ihren Füßen schwieg alles. Dieses Schweigen hatte mit der geheimnisvollen Stille, die sonst im Wald herrschte, nicht das geringste gemein. In weitem Umkreis war die Taiga von ihren Bewohnern verlassen. Blauer Rauch hing in der Luft, schwebte um die Bäume, die wie betäubt die Zweige hängen ließen, zum Umfallen schwach, teilnahmslos. Die Jungen erwarteten, einen emporsprühenden Funkenregen zu sehen, eine lodernde Feuersbrunst, die boshafte Munterkeit um sich fressender Flammen, deren Anblick bange machte und fröhlich zugleich. Doch sie sahen nichts als Rauch. Anfangs waren sie enttäuscht. Dann wurde ihnen unheimlich. Der Rauch schien die Welt zu füllen. Er war überall, wohin sie sich wandten. Die weißlichen Schwaden und der still in den Bodensenken stehende Nebel nahmen kein Ende. „Jetzt kriegen mich keine zehn Pferde weiter", erklärte Jurka.  Sie blieben stehen.  „Ich habe schon Ohrensausen von dem Qualm", jammerte Dimka. Petka überlegte. ,,Na gut", sagte er dann, „dort vorn gibt's sicher auch nichts anderes zu sehen." Es sollte ein ehrenvoller Rückzug werden, kam jedoch ganz anders, als die Jungen gedacht hatten. Kaum waren sie umgekehrt, begann die Nebelwand zu schwanken. Der Rauch quoll über die Niederungen hinaus, die Streifen und Schwaden gerieten in Bewegung. Zuerst vermuteten die Jungen, der Wind, der sich gelegt hatte, käme wieder auf und fegte erneut durch den Wald. Dann bemerkten sie, daß in allem, was geschah, ein gewisses System lag, als hätte jemand die Bewegungen aufeinander abgestimmt. Nun wurde klar: Der Rauch war zum Angriff übergegangen. Er drang von allen Seiten auf die Jungen ein. Die hatten auf einmal große Eile und zogen es vor zu rennen, Schulter an Schulter, um einander nicht zu verlieren, denn was jetzt jeder von ihnen am meisten fürchtete, war, alleingelassen zu werden. Als Dimka strauchelte, versuchte er sich zu fangen, schlug aber der Länge nach hin. Seine Freunde liefen weiter, zwei, drei Schritte, nicht mehr, doch Dimka kam es vor, als hätten sie sich, während er auf dem Boden lag, unendlich weit und auf alle Ewigkeit von ihm entfernt. „Halt", schrie er, „Petka, Jurka!" Die Freunde blieben stehen. Dimka, der sich hochgerappelt hatte, kam schnaufend heran. „Ihr Esel", schrie er, „habt ihr nicht gesehen, daß ich gefallen bin?" „Brülle nicht!" wies ihn Petka zurecht. „Haben wir dich im Stich gelassen? Du siehst doch, daß wir warten." Sie liefen weiter. Vor ihnen war die Welt in weißen, bitter schmeckenden Nebel getaucht. Unmöglich, noch einmal anzuhalten. Die Angst beherrschte sie vollkommen und jagte einen wie den andern unerbittlich vorwärts, aufs Geratewohl, dorthin, wo es heller wurde. Noch rannten sie zu dritt. Dann kam die Stelle, wo Jurka abbog. Er lief zwei, drei Meter zur Seite, weil die Krone eines umgestürzten Baumes ihm den Weg versperrte. Nicht eine Sekunde ließ er die Kameraden aus dem Auge — bis sein Fuß ins Leere trat und er in eine Mulde stürzte. Seine Finger spürten die trockene, weiche Taigaerde. Jurka hatte sich nicht weh getan. Er befand sich in einem Zustand, wo man keinen Schmerz mehr empfindet. Im Nu war er wieder auf den Beinen und schrie in den trüben, grauen Nebel, der über ihm schwamm: „Hier bin ich. Wartet, ich klettere raus." Niemand antwortete. Da warf er sich verzweifelt auf den steil ansteigenden Boden. Unter seinen Sohlen gab die Erde nach. Er rutschte, lief noch tiefer herab, um unten nach einem Ausweg zu suchen, rannte, was die Kräfte hielten, aber die Mulde nahm kein Ende. Als das Wasser aufspritzte, wurde ihm bewußt, daß er in einem Bach stand. Er fühlte seine Einsamkeit, begriff: Ich bin allein — allein im brennenden Wald. Grund genug, um zu weinen. Das hätte er vielleicht auch getan, wäre die Zeit nicht zu kostbar gewesen. Da er nicht verweilen durfte und es bergab leichter war, folgte er dem Lauf des Baches. So wählte er durch Zufall, aus keinem anderen Grunde, als um es bequemer zu haben, die Richtung, in der die Rettung lag. Eine halbe Stunde später führte ihn der Bach an den Fluß. Dort stand das Boot. Es schien auf ihn zu warten. Am Ufer spürte er den kalten Wind, der ihm heftig um die Ohren sauste. Das war wie im Traum, wie ein großes, unfaßbares Wunder. Dann fielen ihm Dimka und Petka ein. Es wollte ihm scheinen, nicht seine Freunde hätten ihn, sondern er habe sie im Stich gelassen. Er dachte daran, daß es schrecklich und einfach unmöglich wäre, ohne sie nach Hause zu kommen, und er beschloß, hier zu warten — sei es einen ganzen Monat. Endlich kamen die Tränen. Jetzt hatte er genügend Zeit zu weinen.  Daß Jurka verschwunden war, merkten Dimka und Petka fast gleichzeitig. „Halt", schrie Petka, „wo ist Jurka?" „Eben war er noch hier." „Los, zurück!" „Geh du, ich warte hier", erwiderte Dimka. Petka machte kehrt. Er erinnerte sich: Als der Baum im Weg lag, waren er und Dimka drübergeklettert. Jurka hatte einen Bogen gemacht. Petka ging um den Baum herum. Er sah die Mulde und suchte. Unten war niemand.  „Jurka!" rief er.  Der Rauch dämpfte seine Stimme. Im Wald war alles wie taub. Kein Echo klang zurück. Petka kehrte um. „Nichts. Komm mit, wir suchen beide." „Wie können wir suchen?" stieß Dimka hastig hervor. „Siehst du nicht, was hier los ist? Wir kommen selber nicht mehr raus. Weißt du, Petka, er wird schon vor uns sein." Diese Erklärung leuchtete Petka ein. Er glaubte, daß Dimka recht hatte, ja er war davon überzeugt — weil er wünschte, daß es so sei. Auf einer Stelle stehen war schlimmer als sich bewegen. Sie liefen weiter. Der Qualm wurde dichter. Er schien aus dem Boden zu steigen. Die Stämme waren dick verschleiert, sahen unwirklich aus, verschwommen, trübe, grau. Bald wußten die Jungen nicht mehr, ob die Richtung noch stimmte. Sie drehten sich in einem großen Kreis. Den Punkt, der am weitesten vom Feuer entfernt war, hatten sie längst durchlaufen. Sie näherten sich der Brandstätte. Bald wurde es heller. Das machte ihnen neuen Mut. Sie stürzten förmlich vorwärts. Der Rauch war jetzt nur noch hinter ihnen. Sie sahen die Flammen. Dicht über dem Waldboden brannte das Feuer nur spärlich, es kroch träge von Busch zu Busch, auf gewundenen Bahnen, immer dort entlang, wo es Nahrung fand. Doch oben in den Kiefern und Zedern sprang es von Wipfel zu Wipfel, und in der Tiefe des Waldes loderte es mit dunkelroten Zungen empor, wie aus einem riesenhaften Scheiterhaufen. Der Rauch stieg in die Höhe, wurde über den Bäumen vom Wind erfaßt und nach unten gedrückt. Hinter den Kindern ging er in dichten Schwaden zu Boden. Die beiden standen auf einer großen Lichtung. Auch hier war die Luft heiß, kratzte in der Kehle, stach die Gesichter wie mit tausend Nadeln. Die Haut war zum Zerreißen gespannt. Dimka und Petka wandten sich ab. Sie rasten zurück in den schmutzig weißen Nebel, aus dem sie gekommen waren. Beim Rennen klopfte in den Schläfen das Blut, immer ärger, immer lauter, je länger sie liefen. Unerwartet verlor Petka das Gleichgewicht. Mit vollem Schwung stürzte er in einen Strauch. Die Zweige waren biegsam und frisch. Er klammerte sich daran fest, hing sekundenlang reglos über der Erde. „Dimka!" Dimka wandte den Kopf. Er blieb stehen, um zu sehen, was los war, kam sogar einen Schritt zurück. „Dimka!" rief Petka noch einmal, aber jetzt klang seine Stimme merkwürdig dumpf und schwach. Dimka fürchtete sich vor dieser Stimme. Ein heftiges, unwiderstehliches Mitleid mit sich selber überkam ihn. Wenn nun plötzlich auch er hilflos im Gebüsch liegen und so schrecklich schreien müßte? Soweit durfte es nicht kommen. Noch konnte er fortrennen, fliehen. Zwar schmerzte der Kopf, in den Schläfen hämmerte das Blut, aber er würde sich retten. Die Angst trieb ihn unerbittlich vorwärts. Aufs neue begann er den sinn- und endlosen Lauf im Kreis.  Petka sah seinen Rücken. Bald verschwand auch der. Da rappelte er sich, von namenlosem Entsetzen gepackt, hoch, ließ die Zweige fahren und fühlte, wie unter ihm der Boden zu rasen begann. Auch Petka lief im Kreis. Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als er stolperte und hinschlug. Seine Hand griff in etwas Warmes, Weiches. Das war Dimka. Die beiden großen Kreise hatten sich an diesem Punkt geschnitten. Dimka war bewußtlos. Vielleicht ist er tot, dachte Petka, aber die Freude darüber, daß er nun nicht mehr allein zu sein brauchte, überwog alles. Er knuffte und schüttelte den Freund. Dimka rührte sich nicht. Schließlich schleifte Petka ihn an den Armen fort. Er war selber schwach und alles andere als ein Held, aber er brauchte Dimka. Einen Freund bei sich zu wissen — wenn auch einen reglosen und stummen wie jetzt Dimka —, war immer noch besser als allein zu sein. Nach hundert Schritten verließen Petka die Kräfte. Er sank neben Dimka auf den Waldboden. So lagen sie beide in der Taiga, hörten nichts von dem Scharren der Schaufeln, vom Klopfen der Äxte. Sie sahen die Menschen nicht, die herbeigeeilt waren, um eine Schneise zu schlagen und dem Feuer Einhalt zu gebieten, vernahmen die Stimmen nicht, die ihre Namen riefen. Undeutlich wie im Traum spürte Petka, daß ihn jemand an den Schultern rüttelte. „Alenow", klang es an sein Ohr, „Alenow", schwach, leise, als summte eine Mücke. Noch immer wurde er geschüttelt. Als Petka endlich die Augen aufschlug, erblickte er über sich das Gesicht des Lehrers. Daran war weder etwas Erfreuliches noch etwas Besonderes. Viktor Nikolajewitsch hatte ein wachsames Auge auf Issajew. Petka wußte das aus Erfahrung. „Alenow — Petka, wo ist Alenow? Hörst du? Wo ist Jurka Alenow?" „Dort", flüsterte Petka kaum hörbar. „Wo? Zeig es mir." Es war nur noch ein Piepsen. Dann wurde es still. Das Gesicht des Lehrers verwandelte sich in das der Mutter und verschwand.  XIII  Wasser Derselbe Wind, der das Feuer durch den Wald gejagt hatte, schob vom Ozean drohende Regenwolken heran. Über der Tunguska färbte sich der Himmel grau. Im Gebiet des Mittellaufs gingen schwere Regengüsse nieder. Die Mitteilungen der Wetterwarten waren an diesen Tagen einförmig und kurz. „Regen", meldete Tura. „Regen", hieß es in Iskup. „Regen", bestätigte trostlos auch Bachta. Das Wasser rann in alle Mulden und Senken. Es floß in die angeschwollenen Bäche. Die Bäche wurden zu Flüßchen, die Flüßchen zu Flüssen. Die Flüsse ergossen sich in die Tunguska, die ihre trübe, stark gestiegene Flut hastig auf den Jenissei zuwälzte, um die ungeheure Bürde loszuwerden. Von den Wolken blieb Ust-Kamensk verschont, die zogen weiter östlich vorüber, nicht aber vom Regenwetter. Dafür sorgte die Tunguska. Sie erreichte einen Stand fast wie im Frühling, wirbelte die an ihren Ufern lagernden Holzstapel durcheinander, riß einen zur Reparatur aufgestellten Kutter um, würde, falls das so weiterging, oberhalb der Stromschnellen sicher noch das Tau einer Barke kappen. Auf dieser Barke befand sich Lena. Sie saß inmitten von Drahtrollen, Schlafsäcken und Kissen in der kleinen Kajüte und lauschte dem Glucksen des Wassers, dem Klappern des Sperrholzes auf dem Dach. Die Barke legte sich auf eine Seite, rutschte scharrend über die Steine, stieß gegen das Ufer. Lena biß sich auf die Lippen.,,Von mir aus", flüsterte sie, „von mir aus. So ist es richtig." Sie fühlte sich einsam. Vor einer Stunde war Ljoschas Zelt zusammengeklappt. Ljoscha hatte das sehr lustig gefunden. Gelacht hat er, dachte Lena empört.  Professor Filatow ist tot, alles ist stehengeblieben, kalt und still geworden, er aber hat gelacht. Die anderen hatten in Ljoschas Lachen eingestimmt.  Da hatte sich Lena zutiefst gekränkt gefühlt, mit keinem mehr sprechen wollen und die Einsamkeit gesucht.  „Von mir aus", flüsterte sie wieder und legte in diese Worte alles hinein, was sie empfand: ihren Ärger über den Wind, der auf dem Dach mit dem Sperrholz klapperte, ihren Zorn auf Ljoscha — und auf Sergej Michailowitsch, der den dummen Einfall gehabt hatte, das Lager an einen Ort zu verlegen, wohin Petka und seine Freunde bestimmt nicht zu Besuch kommen konnten.  Alles war wie verhext auf der Welt.  Während Lena noch darüber nachdachte, wie schlecht es jetzt war, merkte sie, daß die Barke nicht mehr hin und her gestoßen wurde. Das Brett, das mit dem andern Ende auf dem Ufer lag, polterte gegen die Bootswand und schlug ins Wasser.  „Von mir aus", wiederholte Lena, diesmal ohne den Sinn der Worte zu erfassen.  Sie tastete sich an Deck. Was für eine merkwürdige Stille auf einmal eingetreten war. Die Steine knirschten nicht mehr, der Wind schwieg, die Sperrholzplatte hatte zu klappern aufgehört. Nur die Wellen schwappten noch mit bösem, kurzem Klatschen gegen die Wände. Lena wußte, daß die Strömung das Schiff losgerissen hatte, ängstigte sich jedoch nicht sonderlich. Sie schwamm auf einem Fluß, nicht im Meer. Über kurz oder lang mußte die Barke wieder ans Ufer getrieben werden. Es war alles halb so schlimm. Während Lena diese Überlegung anstellte, ließ Sergej Michailowitsch alles stehen und liegen, um am Fluß nach dem Rechten zu sehen. An seiner Seite schritt Ljoscha. Er sollte die Schlafsäcke von der Barke holen. Als sie das Ufer erreichten, wunderten sie sich, daß die Barke nirgends zu sehen war. Zunächst glaubten sie, sich in der Stelle geirrt zu haben. Ljoscha lachte sogar auf. „Eine Fata Morgana", rief er, „und was für eine! Bei einer gewöhnlichen Fata Morgana erblickt man, was gar nicht vorhanden ist. Wie sich zeigt, kann es auch umgekehrt sein. Was sagen Sie dazu, Genosse Vorgesetzter?" „Das ist keine Fata Morgana", entgegnete Sergej Michailowitsch, der blaß geworden war, und deutete auf das um einen Baumstamm geschlungene Tauende. „Die Stromschnellen, Ljoscha." Sie sahen den Fluß hinunter und entdeckten die Barke, die mit der Strömung trieb. Ohne noch ein Wort zu verlieren, setzten sich beide Männer in Bewegung. Die Schuhsohlen quietschten auf dem Sand. Sie rannten mit kurzen Trippelschritten wie auf einer Eisbahn, stolperten über Steine, fielen hin. Noch wußten sie nicht, was zu tun war, sondern folgten einfach dem Drang, näher an die Barke heranzukommen. „ Quer durch die Taiga", keuchte Ljoscha. An dieser Stelle machte die Tunguska einen weiten Bogen. Um den Weg abzuschneiden, schlugen sich die Männer durch dorniges Gebüsch. Ihre Hemden gingen in Fetzen. Ein Zweig, den Ljoscha zurückschnellen ließ, traf Sergej Michailowitsch mitten ins Gesicht. Gut, daß es nicht in die Augen ging, dachte er mechanisch, sonst würden wir es bestimmt nicht schaffen. Völlig zerschunden kollerten sie die Böschung hinunter. Am Ufer lag ein Boot. Ohne sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wie es an diese Stelle gekommen sein mochte, sprangen sie hinein und stießen ab. „Sergej Michailowitsch", schrie Jurka aufgeregt, „wo wollen Sie hin?"  Erst jetzt gewahrten sie den Jungen, der zusammengekauert im Heckteil hockte. „Los, raus mit dir!" schrie Sergej Michailowitsch. Das war leichter gesagt als getan. Die Barke näherte sich den Stromschnellen und das Ruderboot der Barke. Man durfte keine Minute verlieren. Sie würden entweder zu viert umkommen oder gemeinsam das Ufer erreichen. Als das kleine, schon bedenklich mit Wasser gefüllte Fahrzeug gegen die Barke rannte, war Lena nicht auf Deck. Sergej Michailowitsch angelte nach oben, stieß sich mit den Beinen vom Bootsrand ab und landete mit Schwung auf der Barke. Infolge des Stoßes legte sich das Boot auf die Seite und schöpfte noch mehr Wasser. Ein verzweifelter Ruderschlag Ljoschas brachte das Boot wieder an die Barke heran. Abermals schwappte Wasser über den niedrigen Rand. Ljoscha half Jurka hinaufzuklettern, griff in den Ankerring und schwang sich gleichfalls an Bord. Als Sergej Michailowitsch und Lena aus der Kajüte kamen, schaukelte das orangefarbene Boot bereits in großer Entfernung. Die Strömung nahm zu. In rasender Hast jagten die Ufer vorüber. Die Stromschnellen waren nicht mehr fern. „Den Anker werfen!" schrie Sergej Michailowitsch.  Eilfertig packte Ljoscha zu. Der Anker flog über Bord. Ein Ruck lief durch die Barke. Die Kette spannte sich straff, erschlaffte jedoch gleich wieder. Eine Sekunde später erschütterte ein erneuter Stoß das Deck. Abermals riß sich die Barke los und trieb weiter auf die Stromschnellen zu. Der selbstgefertigte Anker scharrte über den Grund. Er faßte nicht. Sergej Michailowitsch stand mit zusammengepreßten Lippen neben Lena, die spürte, wie seine Hand hart wurde. Im Bug lehnte Ljoscha. Er sprach pausenlos vor sich hin und glich einem Schamanen, der Beschwörungsformeln durch die Zähne murmelte. Die Strömung trieb das Boot dichter ans rechte Ufer heran. Dort wurde es flacher, der Grund war steinig. Wiederum straffte sich die Ankerkette. Sie klirrte. Die Barke drehte sich am Ort. Das Wasser sprudelte gegen den Bug. Die Ufer standen still. Schaumflocken huschten vorbei, halb untergesunkene Äste und Zweige. Bis zu den Stromschnellen war es kein Kilometer mehr. Jeder der vier Menschen an Deck beurteilte die Lage auf seine Weise. Sergej Michailowitsch starrte ernst und finster in die Taiga. Er hoffte auf ein Wunder. Jurka schloß die Augen, weil er die reißende Strömung nicht mehr sehen konnte. Ljoscha fluchte. Lena begriff noch nicht, was vorgefallen war. Tief und dumpf sang die straff gespannte Ankerkette. Der Wind eilte der Strömung zu Hilfe. Nochmals riß sich die Barke los und trieb etwa fünfzig Meter weiter, bis sie wieder stillstand. Ein Kreuz ist das mit dem Anker, dachte Ljoscha, so ein Murks. „Warum gehen wir nicht an Land?" fragte Lena. „Gleich, Kleine, gleich", antwortete Sergej Michailowitsch eilfertig. „Einstweilen liegen wir vor Anker. Wir müssen überlegen, an welchem Ufer wir festmachen können."  Als er sah, daß Jurka eine mißmutige Grimasse zog, legte er einen Finger auf die Lippen. Das sollte heißen: Halt mir ja den Mund! Jurka wiegte kraftlos den Kopf. Entsetzt, zugleich voller Hoffnung blickte er Sergej Michailowitsch an. Der wußte auch keinen Rat. Er winkte den Jungen heran und forderte ihn auf, sich neben Lena zu setzen. „Warte", raunte er ihm zu, bemüht, seiner Stimme einen festen Klang zu geben, „wir werden uns schon etwas ausdenken." Danach ging er zu Ljoscha. „Wie hast du mich bloß gefunden?" fragte Lena erstaunt. „Und wo sind die anderen?" „Ich — ich kam zufällig vorbei — und — und da sah ich die Barke — und — und da dachte ich, daß du hier bist." „Und wo sind Petka und Dimka?" „Zu Hause", log Jurka. Er dachte: Hauptsache, daß Lena jetzt nichts merkt. Er hatte Angst, schluckte sie aber tapfer hinunter. Immer wieder schlug ihm das Gewissen. Er kam sich schlecht vor, weil er die Freunde »im Stich gelassen hatte. Sein einziger Trost war der Gedanke, daß er einen Teil seiner Schuld tilgen könnte, wenn er jetzt besonders tapfer wäre. „Wir waren im Lager", sagte er schnell und so laut, daß die Furcht nicht durchklang, „trafen dich leider nicht an. Sergej Michailowitsch hat uns einen Kompaß geschenkt. Wenn du in unsere Siedlung kommst, mußt du mich besuchen. Ich habe einen Freund. Er heißt Pawel und spielt Gitarre." „Warum schreist du so?" fragte Lena. „Ich habe nun mal ein lautes Organ", erwiderte Jurka. Im Bug der Barke berieten sich Sergej Michailowitsch und Ljoscha. Jurka sah, daß sich Sergej Michailowitsch bis auf die Turnhose auszog und wieder herüberkam.  „Lena, Kleine, ich schwimme ans Ufer. Weißt du wir haben keine Ruder, und das kleine Boot von den Jungen ist längst abgetrieben. Ich werde drüben ein Tau befestigen. Die Strömung trägt euch ans Ufer." Lena schauderte zusammen. „Das Wasser ist eiskalt." „Heiß ist es nicht", gab Sergej Michailowitsch zu, „aber ich werde schon nicht erfrieren. Als Junge habe ich immer brav meinen Lebertran getrunken. Das kommt mir heute zugute." Er tat sehr aufgeräumt, lächelte sogar. Nur seine Augen verrieten, wie ihm wirklich zumute war. Jurka sah ihn furchtsam an. Dann wanderte sein Blick flußab. Vor den Strdmschnellen schimmerten schaumbedeckte Steine. Sergej Michailowitsch wußte, was in dem Jungen vorging.  „Trinkst du Lebertran, Jurka?" fragte er.  Jurka schwieg. Er war nicht zum Scherzen aufgelegt. Sergej Michailowitsch erwartete auch keine Antwort. Beim Erzählen hatte er sich einen dicken Strick um die Hüften gebunden.  Jetzt trat er ans Ende des Decks. Einen Augenblick schien es Jurka, er wollte den Spaß nur auf die Spitze treiben. Dann freilich, als Sergej Michailowitsch tatsächlich sprang, bekam er eine Gänsehaut. Die Strömung riß den Schwimmer fort. Als sein Kopf wieder auftauchte, sah man, daß er dem Ufer zustrebte. Die Welle, die sich beim Aufschlag gebildet hatte, trieb schon vor ihm. Jurka meinte, im Vergleich zur Geschwindigkeit des Wassers seien die Armbewegungen viel zu langsam. Der Strick spannte sich in einem weiten Bogen. Wie irrsinnig zerrte die Strömung daran, und Ljoscha gab nach. Den Strick länger festzuhalten, hätte bedeutet, Sergej Michailowitsch am Weiterschwimmen zu hindern. Eine Minute verstrich, vielleicht auch mehr. Weit von der Barke entfernt, kurz vor den Steinen, zeigten sich auf den Wellen zwei Arme und ein Kopf. Der Strick zog in einer geraden Linie hinterher. Dann bemerkte Jurka, daß Sergej Michailowitsch nicht mehr auf das Ufer zuschwamm, sondern in die Flußmitte getrieben wurde. Bis der Schwimmer die Stelle erreicht hatte, wo das Wasser schäumte und brodelte, sah er die Arme, die sich in langsamem, gleichmäßigem Rhythmus aus dem Wasser hoben.  Dann war von Sergej Michailowitsch nichts mehr zu erblicken.  „Ist er schon am Ufer?" fragte Lena.  „Er hat sich losgebunden", erwiderte Ljoscha niedergeschlagen. „Ljoscha!" schrie Jurka, weiter nichts, nur dieses eine Wort, doch Ljoscha regte sich auf und begann gleichfalls zu schreien. „Was heißt Ljoscha? Was willst du damit sagen? Ich kann nicht schwimmen. Verstehst du? Ich bin in der Steppe aufgewachsen. Hast du gehört? Denkst du, ich hätte es sonst nicht selber besorgt!" Er schwieg eine Weile. Als er wieder sprach, klang seine Stimme böse: „Dann gehen wir eben hier zugrunde. Ich kann es auch nicht ändern." Lena stand mit zitternden Lippen dabei. „Wo ist Onkel Serjoscha?" fragte sie. Jurka sah sie an. Er empfand keine Angst mehr. In ihm regte sich eine große Wut, genau wie in Ljoscha, ein unbändiger Zorn auf den reißenden Fluß, die Stromschnellen, den untauglichen selbstgefertigten Anker. Jurka verspürte den Wunsch, von der Barke zu springen und mit geballten Fäusten auf die verhaßten Wellen einzuschlagen. „Ich kann schwimmen", sagte er.  „Na und?" meinte Ljoscha gleichmütig. Kaum hatte er es gesagt, horchte er auf und flüsterte: „Was denn, Junge, du willst es doch nicht etwa versuchen?" „Ich bin ein guter Schwimmer", erwiderte Jurka. „Ich weiß genau Bescheid. Man muß in der Fahrrinne bleiben und nicht mit Gewalt ans Ufer wollen. Da kommt man schon durch. Ich hole Hilfe."  „Ja", sprach Ljoscha leise, „tu das." Er beugte sich zu Jurka herab, um ihm ins Ohr zu flüstern:  „Schwimme, Junge, schwimme. Hier gehen wir doch bloß vor die Hunde. Vielleicht kannst du das Mädchen retten."  Für einen Augenblick bedauerte Jurka, daß Lena ihn jetzt nicht sehen konnte. Aber als er am Heck stand, hatte er wieder Angst. Der Fluß zischte und tobte wie ein gereiztes Ungeheuer. „Gleich springe ich", sagte Jurka kleinlaut. Ljoscha stand an seiner Seite. Er machte keine Bewegung, sagte weder „spring!" noch „spring nicht!" Und Jurka löste sich vom Deck. Als er aus dem Wasser auftauchte, sah er zurück. Die Barke erschien ihm winzig wie ein Spielzeugschiff. Er schwamm. Wieder zogen die Ufer vorbei. Die Unterwasserströmung knuffte ihn in den Leib wie mit aufgeblasenen Luftballons. Unweit von ihm drehte sich ein Strudel, kreiselte auf ihn zu. Jurka strebte zur Seite, aber der Strudel folgte, holte ihn ein, glitt an seinen Beinen weiter und zerrann.  Jurka richtete den Blick nach vorn, wo zwischen den Steinen die enge Rinne auftauchen mußte. Hinter den Wellen war nichts zu sehen. Er fühlte nur, daß die Strömung zunahm. Sie schmiegte sich fest an den Körper wie Gummi und drang mit tausend kalten Wirbeln auf ihn ein.  Dann kam die Pforte auf ihn zu. Ganz dicht standen die beiden steinernen Wände beieinander. Dahinter verschwanden die Ufer. Hoch spritzte der Schaum in die Luft. Er peitschte das Gesicht. Da — unmittelbar vor den Augen war ein Felsblock, groß, glatt, und verschwand hinter dem Gischt einer daraufprallenden Welle. Unbeweglich, eine Säule gleich, stand das weiße Wasser vor dem Stein. Als Jurka ans Land getrieben wurde und aus dem Wasser stieg, sah er diese Gischtsäule noch vor sich. Sie stand erstarrt in der Luft, als hätte er sie mit einer Kamera aufs Bild gebannt. Wäre er gefragt worden, ob es schlimm gewesen sei, durch die Stromschnellen zu schwimmen, hätte er keine Antwort gewußt. Er konnte nicht sagen, ob er Angst gehabt hatte, erinnerte sich überhaupt an nichts als an die eigenartige Empfindung der zunehmenden Geschwindigkeit, an das ins Gesicht klatschende Wasser und jene sonderbare, reglos in der Luft stehende Gischtsäule, die den Felsblock verdeckte. Jurka lief über eine Landzunge, kroch die Böschung hoch, war schon in der Taiga. Weil er es so eilig hatte, übersah er die Fußspur, die sich nicht weit entfernt von seiner eigenen durch den Sand zog.  XIV  Sturm Der Wind, der die Wolken herbeitrieb, fegte auch über den Jenissej. Auf der kilometerbreiten Fläche konnte er sich nach Herzenslust austoben. Wo die Tunguska mündete und Strömung mit Strömung zusammenstieß, schlugen die Wellen besonders hoch. Hier herrschte ein wildes Getümmel von aufeinanderprallenden Wassermassen. Ein großer Teil der Wogen wurde den Jenissej hinuntergetrieben, aber es gab auch welche, die ins Bett der Tunguska rollten. Sie überstürzten sich förmlich, schössen die Anlegestelle empor und teilten weithin schallende Schläge aus. Das Rumoren des Sturmes störte den Hafenmeister bei der Arbeit. Er saß im zweiten Stock in seinem Zimmer und konnte sich nicht konzentrieren. Vor ihm stand die Schreibmaschine, die er sich für einen halben Tag geliehen hatte. Pawel verfaßte seine neueste Eingabe. Draußen schlugen die Wellen gegen den Uferrand. Das Geräusch veranlaßte den Hafenmeister, die Stirn zu runzeln und aufzustehen. Er wanderte durchs Zimmer, setzte sich wieder auf die Kante des Stuhls. Unsicher tippten seine Finger die letzten Wörter. Nach vollbrachtem Werk las er das Gesuch noch einmal durch und schickte sich an, den Briefbogen auszuspannen. Wenn es hierzu nicht kam, so nur, weil in diesem Augenblick, ohne anzuklopfen, der Matrose ins Zimmer platzte.  „Die Boje, Pawel, die rote Boje hat sich losgerissen. Sie ist abgetrieben. Fehlt nur, daß jemand die Fahrrinne nicht kennt. Dann gibt's Ärger."  Der Hafenmeister nahm den Feldstecher und eüte nach draußen. Weit von der Anlegestelle entfernt schaukelte eine rote Pyramide auf dem Wasser. Sie bewegte sich auf das linke Ufer zu. Es wäre halb so schlimm gewesen, wenn dort unten nicht eine Sandbank läge. Darauf konnte die Boje hängenbleiben. Ein Dampfer, der ordnungsgemäß zwischen Ufer und Markierungszeichen hindurchsteuern wollte, mußte unweigerlich auf Grund laufen.  Pawel verzog finster das Gesicht. „Schöne Bescherung. Wir müssen sofort hinfahren."  Der Matrose widersprach. „Wie denn? Bei diesem Sturm? An Rudern ist überhaupt nicht zu denken.  Außerdem — was geht es uns an? Soll sich der Wasserschutz darum kümmern." „Wenn wir es bemerkt haben, geht es uns sehr viel´an.  „Das stimmt ja, im allgemeinen. Aber bei diesem Sturm?" „Hol die Ruder", befahl der Hafenmeister. Er wollte allein fahren. Der Matrose, der mit den Rudern zurückkam, kratzte sich den Nacken und trat von einem Fuß auf den andern. Schließlich sprang auch er ins Boot. „Was soll das!" rief Pawel. „Steig aus, ich schaffe das ohne dich." Er war jetzt heiter, fühlte sich mutig und stark. Der Matrose erhob zwar noch Einwände, aber Pawel blieb bei seiner Forderung. Er war der Chef hier. So kam es, daß Pawel ohne den Matrosen fuhr. Auf dem Wasser wurde der Wind stärker. Der Hafenmeister hatte Mühe, die Richtung zu halten, obwohl er fast immer nur mit einem Ruder arbeitete. Nichts ist tückischer als die unberechenbaren Flußwellen. Sie sind kurz und steil und haben keinen Rhythmus, dem sich das Boot anpassen könnte. Während der Bug einen Wasserkamm durchschneidet, schwappt von hinten ein zweiter heran, schießt zischend über das Heck und ergießt sich auf den Ruderer. Der Wind peitschte die Wasserfläche, zerwühlte die Wellen, trieb einen Tropfenschleier vor sich her. Das Boot bäumte sich auf. Ohnmächtig glitten die Ruder durchs Wasser. Beim Zurückziehen spürte Pawel den hartnäckigen Widerstand der Luft. O ja, das war ein Sturm!  Unruhig flatterten die Möwen. Papierschnitzeln gleich jagte der Wind sie über den Fluß. Mit dem Jackenärmel wischte sich Pawel das Wasser vom Gesicht, blickte den fortstiebenden Tröpfchen nach und lachte. Nicht einmal die Möwen kamen gegen diesen Sturm an. Das schwerste Stück Arbeit bestand darin, die Boje zurückzubringen. Zum Glück wurde die Fahrt jetzt vom Wind begünstigt. Sonst hätte es Pawel nicht geschafft. Während er den Anker an der Boje befestigte, drang viel Wasser ins Boot, das nur noch träge auf den Wellen schaukelte. Er durfte die Ruder nicht aus den Händen legen. Das Wasser schoß hin und her, drückte bald auf die eine, bald auf die andere Seite. Als die Boje wieder an ihrer alten Stelle schwamm, nahm Pawel Kurs auf die Anlegestelle. Da geschah es. Unbemerkt war eine hohe Welle herangewogt. Sie prallte gegen das Boot, bäumte sich auf und stand einen Augenblick lang als blasige, durchsichtige Mauer über dem Hafenmeister. Als sie zusammenfiel, bekam Pawel einen großen Schwapp auf die Beine. Das Boot war jetzt so schwer, daß er es nicht mehr richtig steuern konnte. Auch die nachfolgende Welle ergoß sich über den Rand. Durch den Aufprall wurde der Hafenmeister gegen die Wand geschleudert. Das Boot kenterte. Ist das Wasser warm, dachte Pawel, als er von einer neuen Welle ein Stück fortgetragen wurde. Er tauchte hindurch, schwamm zum Boot zurück, schob sich mit dem Oberkörper auf den Kiel und krallte seine Finger in die glitschigen, wassergetränkten Bretter.  Er hob den Kopf, sah das schwankende Ufer. In der Ferne, hinter vielen zerfetzten Wellen, tanzte die Anlegestelle. Auch jetzt fürchtete er sich nicht. Die Wogen ließen ihm keine Ruhe. Sie rollten heran, schlugen ihm ins Gesicht, ergossen sich auf seine Schultern. Verzweifelt, unter Aufbietung aller Kräfte, hielt er sich fest, aber die Finger erlahmten allmählich. Pawel war kein guter Schwimmer. Er preßte die Wangen gegen das rauhe Holz, hoffte, daß man ihn vom Ufer aus bemerken und hereinholen werde. Endlich fand er in einer Fuge Halt. Nun war ihm wohler. Er richtete sich mit dem Atmen nach den Wellen und brauchte, wenn sie über ihn hinwegschossen, kein Wasser mehr zu schlucken.  Nahte noch immer keine Hilfe? Er hob den Kopf und erblickte das einzige Boot in Ust-Kamensk, das einen apfelsinenroten Anstrich trug. Es war gleichfalls gekentert. Wenn eine Welle darüber schlug, leuchtete die Farbe auf. Pawel dachte an die hellen Kuppeln von Atlantis, an das verwunderte, zugleich triumphierende Gesicht Jurkas, an die Stange mit dem Wimpel. Doch jetzt war das orangefarbene Boot leer. Hilflos trieb es auf dem Fluß. Etwas Schreckliches mußte geschehen sein, ein Unglück. Er durfte nicht warten, mußte unverzüglich Menschen auf die Beine bringen, um die Kinder zu suchen. Aber die Menschen waren am Ufer. Und das Ufer war mehr als einen Kilometer entfernt. Der Mann, der soeben noch die letzten Kräfte angespannt hatte, um nicht vom Boot fortgerissen zu werden, der froh gewesen war, als seine Finger diesen Spalt fanden, löste jetzt den Griff. Mit Mühe streifte er die Schuhe ab. Sie sanken auf den Grund. Die Jacke folgte ihnen. Und dann schwamm Pawel wie nie zuvor. Er preßte die Zähne zusammen, schluckte Wasser, blieb mit den Füßen in den Löchern der zerfetzten Hose hängen — aber er schwamm den Rekord seines Lebens. Und doch — was waren alle Anstrengungen im Vergleich zu jener Strecke, die es zu bezwingen galt! Trunken schwankte das Ufer mit allem, was darauf stand, nebelhaft verschwommen auf- und niederhüpfend, immer stärker, immer schneller, bis Pawel nicht mehr wußte, wo die Wolken waren, wo die zappligen, das Gesicht peinigenden Wellen. Als er zum letzten Mal emporgehoben wurde, erblickte er einen Kutter, der etwa so weit von ihm entfernt war wie das Ufer. Dann verließen ihn die Kräfte. Seine Sinne schwanden. Der Kutter schwankte im Sturm, glitt stundenlang über den Fluß. Die beiden Boote wurden aufgelesen. Als sich die Nacht herabsenkte, fuhr er zurück.  XV  Mehrere bedeutsame Entdeckungen Die Stadt Ust-Kamensk hat zwei Leben. Erstens ist sie ein Teil des ganzen Landes. Zeitungen und Radio sorgen dafür, daß dies nicht vergessen wird. Die Zeitungen treffen mit fünftägiger Verspätung ein, aber sie werden nicht achtlos in die Ecke geworfen, sondern nach dem Lesen sorgfältig zusammengefaltet und aufgehoben. Einen Radioapparat gibt es fast in jedem Haus. Trotzdem sitzt man am Ersten Mai nicht daheim im Sessel, sondern steht auf einem öffentlichen Platz neben den Lautsprechersäulen, um gemeinsam der Übertragung aus Moskau zu lauschen. Niemand hat diese Sitte eingeführt. Trotzdem folgt ihr jeder. Die Post kommt mit dem Dampfer oder per Flugzeug. Die Flugzeuge sind immer in Eile; kaum gelandet, rollen sie wieder über die Bahn und steigen auf. Zweitens aber ist Ust-Kamensk ein Stück Welt für sich: Taiga, Wasser, Fische aus dem Jenissej. Große Bedeutung besitzt die Stadt als Umschlagsort für zahlreiche Lebensmittel und Bedarfsgüter, die von hier in Hunderte Dörfchen und Siedlungen wandern. Für das Eigenleben von Ust-Kamensk gibt es einen besonderen Kalender. Darin heißt es: „Das geschah zwei Tage vor Ankunft der ,Irtysch'" oder „Erinnerst du dich nicht, als der Elch in die Siedlung kam?" Nach dem diesjährigen Sommer wird man noch lange Zeit sagen: „Als die Barke der Expedition in den Stromschnellen zerschellte", oder,,Als sich der Lehrer das Gesicht verbrannte." Der Einwohner von Ust-Kamensk ist kein Freund vieler Worte. Während der Winterszeit gefriert das Quecksilber in den Thermometern. Der Jenissej spielt mit den Fischerbooten und bringt sie zum Kentern. Schon die einfachen, alltäglichen Verrichtungen erfordern ganzen Einsatz. Dies ist der Grund, weshalb in Ust-Kamensk Vokabeln wie „Mut" oder „Heldentum" unbekannt sind. Wenn hier jemand gelobt werden soll, heißt es: „Das hat er richtig gemacht." „Richtig" ist die höchste Auszeichnung, die hier ein Mensch erwerben kann. Von Viktor Nikolajewitsch sagt man seit damals: „Der ist richtig." Von Sergej Michailowitsch: „Richtig, daß er losgeschwommen ist, sonst wären sie alle umgekommen." Von Jurka sprechen die Leute in der gleichen Weise, nur daß sie bei ihm noch hinzusetzen: „So ein Bursche!", weil Jurka ein Junge ist, von dem man schwerlich dasselbe verlangen kann wie von einem Erwachsenen.  An jenem Tage, als er durch die Stromschnellen geschwommen war, suchte Viktor Nikolajewitsch zwei Stunden lang nach den Jungen. Als er aus der Taiga zurückkehrte, hatte er viele Brandwunden am Körper, seine Kleidung war zerfetzt, die Schuhe befanden sich in einem Zustand, daß man mit Sicherheit sagen konnte, sie würden nie wieder so schön grau aussehen, wie früher. Jurka, in durchnäßter Turnhose und von oben bis unten mit Kratzern bedeckt, war in die Siedlung gelaufen.  Auf der Dienststelle der Miliz traf er Sergej Michailowitsch, der ihn mit sonderbarer, unerträglich ruhiger Brummelstimme empfing: „Was suchst du hier? Scher dich nach Hause, sonst holst du dir einen Schnupfen." „Sie sitzen hier rum?" keuchte Jurka außer sich vor Entrüstung. „Und die anderen warten." „Warten? Wieso?" „Na, auf der Tunguska." Jetzt war es an Sergej Michailowitsch, sich zu  wundern. „Wovon sprichst du?" Er ist verrückt geworden, dachte Jurka entsetzt, er schlürft hier sein Glas Tee und sieht völlig normal aus, aber er hat etwas abgekriegt. „Und Sie sitzen hier rum", keuchte er nochmals. „Ich begreife nicht, was du willst", erwiderte Sergej Michailowitsch. „Komm, ich bringe dich nach Hause. Die Aufregung war zuviel für dich." Jurka blickte sich verzweifelt nach allen Seiten um. Als er sah, daß sonst niemand im Raum war, rannte er zur Tür, aber Sergej Michailowitsch erwischte ihn an der Hand und sagte sanft: „Jurka, versuch doch einmal, dich zu erinnern. Ein Hubschrauber ist gekommen, hörst du, ein Hubschrauber, der hat euch alle fortgeholt. Vor ein paar Minuten wurde hier angerufen und Bescheid gegeben. Der Hubschrauber hat alle an Bord genommen. Du bist auch im Hubschrauber gewesen. Erinnerst du dich jetzt?" „Das ist nicht wahr!" rief Jurka. „Ich bin geschwommen. Wir dachten, Sie sind ertrunken." Nun begriff Sergej Michailowitsch endlich, was geschehen war. Er ließ Jurkas Hand los und schüttelte ihn an den Schultern. „Ach, so ist das? Jurka sei mir nicht böse, entschuldige. Das konnte ich nicht ahnen."  Ljoscha und Lena hatte der Hubschrauber tatsächlich aus ihrer mißlichen Lage befreit. Eineinhalb Stunden später trieben die Trümmer der Barke an Ust-Kamensk vorbei. Nur den Hafenmeister fand niemand. Der Matrose, der mit dem Fernglas beobachtet hatte, wie das Boot umschlug und Pawel sich daran festklammerte, rief einen Kutter zu Hilfe. Als der Kutter kam, war es zu spät. Kein Mensch wußte, weshalb Pawel ertrunken war. Eine halbe Stunde hätte er doch auf dem gekenterten Boot aushalten müssen, selbst bei diesem Sturm. So viel geschah an einem einzigen Tag in Ust-Kamensk, das dort liegt, wo sich zwei mächtige sibirische Flüsse vereinen. Auf diesen Tag folgten andere. Sie brachten neue Ereignisse, neue, bedeutsame Entdeckungen. So wird es weitergehen, bis abermals der Winter kommt und mit seinem Schnee das Städtchen zudeckt, das dann wieder schlafmützig gähnend auf den Sommer wartet. Doch zunächst geschah folgendes: Die Eltern empfingen Jurka mit großer Freude. Nie im Leben wird seine Mutter die Qualen vergessen, die sie durchstehen mußte. Wenn sie daran denkt, steigen ihr noch heute heiße Tränen in die Augen, teils aus Mitleid mit Jurka und sich selber, teils aus Freude darüber, daß noch einmal alles gut gegangen ist, während es doch viel schlimmer hätte auslaufen können. Gleich als sie ihren Sohn wiederhatte, wurde ein riesiges Schloß besorgt. Damit legte sie das orangefarbene Boot an eine schwere Kette. Jurka aber wurde strengstens untersagt, jemals wieder an den Fluß zu laufen, falls er nicht wollte, daß seine Mutter vorzeitig an einem Herzschlag sterbe. Vom Vater erfuhr Jurka, wie Petka und Dimka aus dem brennenden Wald gerettet wurden Drei Tage später stand Petka unter dem Fenster auf der Straße und beschwor den Freund, herauszukommen. Jurka schüttelte den Kopf. „Das geht nicht, ich bin eingeschlossen." Da rieb sich Petka verzweifelt den Hals, was heißen sollte: Du mußt kommen, es ist ungeheuer wichtig. Das war zuviel für Jurka. Er kletterte durchs Fenster. Petka erzählte ihm, daß Pawel ertrunken sei. Jurka ging neben dem Freund durch die Straße. Alle Häuser waren winzig klein geworden, als betrachtete er sie durch ein umgedrehtes Fernglas. Ohne es zu merken, schlug er die Richtung zu Dimka ein. So war es seit eh und je gewesen: Was sie unternahmen, unternahmen sie zu dritt. Heute aber meinte Petka geringschätzig: „Den brauchen wir nicht." Jurka überhörte, was der Freund sagte. Seine Gedanken weilten bei Pawel, der ihm ein lieber Kamerad gewesen war. Wie oft hatten sie in seinem Zimmer von großen Seefahrten geplaudert, ohne bei diesem unerschöpflichen Thema je zu ermüden. Pawel war der einzige Mensch gewesen, der Jurka verstanden und seine verworrenen Pläne ernst genommen hatte. Wortlos kam Dimka durchs Fenster geklettert. Offenbar war er eingeschlossen.  „Schade", lautete seine erste Bemerkung, als er draußen stand. „Meinst du nicht?"  „Halt ja die Klappe", entgegnete Petka, „dich geht es am allerwenigsten an."  Dimka zuckte zusammen, schwieg aber, als wäre es Petkas gutes Recht, ihm so über den Mund zu fahren.  Jurka hatte wieder nichts gehört. Vor dem Häuschen am Hafen trafen sie seinen alten Feind, den Matrosen. Zu viert gingen sie die Treppe hoch.  In der Schreibmaschine steckte ein Briefbogen, Pawels engzeilig geschriebenes Gesuch. „Hier hat er gesessen und getippt, als ich eintrat", erklärte der Matrose. „Es ist nicht seine Maschine. Er hat sie sich geliehen. Wißt ihr nicht, von wem?" Jurka spannte den Bogen aus. Er überflog die ersten vier Zeilen. „Lies vor", sagte der Matrose. „Das interessiert alle." Jurka fand, daß der Matrose recht hatte, und las:  „An den Leiter der Jenissej-Schiffahrtsgesellschaft  Gesuch Ich wurde im Jahre 1936 im Dorf Maima geboren. Das ist in der Taiga. Um das Ziel der siebenten Klasse zu erreichen, mußte ich eine Schule besuchen, die fünf Kilometer von unserem Dorf entfernt lag. Da ich den festen Willen hatte, etwas zu lernen, versäumte ich im Herbst und bei Schlammwetter keine einzige Stunde, höchstens im Winter bei starkem Frost. Mein Vater hatte eine schlechte Schulbildung genossen, aber er war ein guter Jäger. Er brachte mir schon beizeiten das Schießen bei. Bald traf ich ein Eichhörnchen nicht schlechter als ein Erwachsener. Wenn ich durch die Taiga wanderte, dachte ich immer darüber nach, wie es später sein werde. Sie, Genosse Vorgesetzter, haben früher bestimmt auch oft überlegt, welchen Beruf Sie ergreifen sollten. Ich änderte meine Pläne häufig und konnte mich für nichts richtig entscheiden. Ich weiß, daß man beharrlich auf ein Ziel zusteuern muß, wenn man etwas erreichen will. Lange Zeit hatte ich jedoch kein festes Ziel. Ich werde gleich erklären, warum. Wir lebten in der öden Taiga. Ringsum war nichts als Wald. Höchstens sah man mal einen Dampfer auf dem Fluß oder eine Barke, und bisweilen kam auch ein Flugzeug über unser Dorf. Natürlich las ich viele Bücher. In der Schule hörte ich, daß es verschiedene Staaten gibt. Aber über das Leben zu hören und zu lesen ist etwas anderes, als alles mit eigenen Augen zu sehen. Bei uns in der Taiga gibt es Blumen, die wir die ,Unzertrennlichen' nennen. Das tun wir deshalb, weil sie immer paarweise aus einer Wurzel sprießen, und nie verwelkt eine allein, jedesmal auch die andere. Im Frühjahr kommen die Unzertrennlichen heraus. Sie blühen nur kurze Zeit, haben aber einen wunderschönen und kräftigen Duft.  Ich könnte zehn Seiten schreiben, Genosse Vorgesetzter, nur über diese Blumen. Sie würden es lesen, aber am Ende doch nicht wissen, wie sie aussehen und riechen oder welche Farbe sie haben. Das ist ein eigenartiger Duft. Wenn man ihn kennenlernen will, muß man dorthin gehen, wo die Unzertrennlichen wachsen. Ich denke, daß es mit vielem grad ist wie mit diesen Blumen. So manches hat etwas Besonderes und Einmaliges an sich. Ein Lehrbuch oder eine Unterweisung nutzt da nicht viel. Man muß es mit eigenen Augen gesehen haben. Ich bin aber in der Taiga aufgewachsen, hab wenig kennengelernt. Im Leben fand ich mich daher schlecht zurecht, ich hatte kein richtiges Ziel. Als ich das erstemal einen Traktor sah, stand mein Entschluß fest. Ich mußte Traktorist werden. Das weiß ich noch wie heute. Dann kamen Geologen ins Dorf, und ich wollte natürlich Geologe werden. So war es stets. Wenn ich etwas Neues kennenlernte, änderte sich mein Berufswunsch. In unserem Land gibt es vielleicht hunderttausend verschiedene Berufe. Wie soll man da den richtigen herausfinden?  Aber es soll doch ein Beruf fürs ganze Leben sein. Nach Abschluß der siebenten Klasse erhielt ich die Möglichkeit, eine Fachschule für Flußschiffahrt zu besuchen. Ich fragte meinen Vater, ob ich den Vorschlag annehmen sollte oder nicht. Er sagte: ,Als ich in deinem Alter war, habe ich meine ersten langen Hosen angezogen. Und du willst gleich Kapitän werden. Grünschnabel. Arbeite erst im Kolchos.' Meine Mutter aber sagte: Jawohl, Junge, geh zur Flußschiffahrt, dort wirst du gut bezahlt.'  Auf der Fachschule hatte ich lauter Einsen und Zweien. Jetzt glaubte ich, den richtigen Beruf gefunden zu haben. Im Sommer kamen wir alle zum Praktikum auf das Motorschiff ,Ural'. Wir fuhren den Jenissej runter bis zum Meer. Ich sah die Ozeanriesen, die dort vor Anker lagen. Wenn sie in See stachen, stand ich am Kai und blickte ihnen lange nach. Denken Sie nicht, sehr geehrter Genosse Vorgesetzter, daß es mir nur das Spiel der Wellen und die übrige Romantik angetan haben. Ich weiß nicht, wie man es erklären soll, aber mein Gefühl sagt mir, daß ich erst dann Ruhe finden werde, wenn ich auf einen Überseedampfer komme. Als ich die Schule beendet hatte, wurde ich in Ust-Kamensk als Hafenmeister eingesetzt. Sie wissen natürlich genausogut wie jeder andere, daß hier von einem richtigen Hafen überhaupt nicht die Rede sein kann und daß die Bezeichnung ,Hafenmeister' folglich nur als reine Ironie aufzufassen ist. Arbeit gibt es für mich herzlich wenig, während der Winterszeit gar nicht. Auf diesen Posten sollte man einen Invaliden stellen, der nicht mehr schwimmen kann. Mich aber bitte ich zur Seeschiffahrt zu versetzen, wenn auch als einfachen Matrosen. Ich ersuche Sie inständig, meine Bitte nicht abzuschlagen. Als Kommunist müßten Sie verstehen, daß ich ohne Meer nicht leben kann. Mit den besten Grüßen P. A. Syrjanow, Hafenmeister." „Das schicke ich an die Zeitung", verkündete der Matrose, als Jurka geendet hatte. „Das müssen sie drucken." Jurka dachte daran, daß sich Pawel ein ganzes Jahr lang erfolglos bemüht hatte, Pfeife rauchen zu lernen. Dieser Gedanke erschien ihm häßlich und fehl am Platze. Er versuchte ihn zu verscheuchen, aber es gelang ihm nicht. Wie ein Gespenst verfolgte ihn die Vorstellung dieser Pfeife mit dem Ring am Mundstück, obwohl es sicher weitaus Wichtigeres gab. Ein wenig später mußte Jurka daran denken, daß sich Pawel täglich mehrmals rasiert hatte. Der Bart wollte indes nicht wachsen. Zum Gaudium aller hatte Pawel in der Illusion gelebt, man müsse die zarten Stoppeln immer wieder abschaben, damit sie sich kräftigen. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, Seemann zu werden, und um dieses Ziel zu erreichen, keine Mühe gescheut: Anträge geschrieben, bei Wind und Wetter seinen Körper gestählt. Trotz allem war er der Hafenmeister geblieben. Auf einmal verspürte Jurka den Wunsch, durch Ust-Kamensk zu laufen, von Haus zu Haus, und allen Pawels Brief vorzulesen, damit jeder Einwohner der Stadt erfuhr, was für ein Mensch der Hafenmeister gewesen war. Und das war die erste Entdeckung. In flammenden Worten wollte er von seinem toten Freund berichten. Als die Jungen in der Siedlung anlangten, fragte Jurka: „Glaubt ihr, daß es in die Zeitung kommt?" „Aber klar", erwiderte Dimka ohne Zögern. „Das wäre ja noch schöner."  „Du halt den Mund", murmelte Petka vor sich hin. „Dich geht es einen großen Dreck an." Diesmal wurde Jurka aufmerksam. Er wunderte sich, daß Dimka alles schweigend einsteckte. Früher wäre das unmöglich gewesen.  Lena kehrte in die Taiga zurück. Mit ihr gingen Sergej Michailowitsch und Ljoscha. Atlantis war noch immer unentdeckt. Das blaue Heft lag auf dem Fensterbrett. Die Erwachsenen machten sich ihre Gedanken und lächelten. Es ist schön, an seine eigene Kindheit erinnert zu werden. Eines Tages erteilte Frau Issajewa ihrem Großen einen Rat: „Ihr müßtet euren Lehrer mal besuchen. Er sieht ganz entstellt aus, der Ärmste, so hat er sich verbrannt." „Daran haben wir auch schon gedacht", entgegnete Petka. „Es ist mir nur furchtbar peinlich." „ Warum peinlich?" „Du verstehst auch gar nichts", meinte der Große. Trotzdem gingen sie ins Krankenhaus. Durch die Straßen schritten sie wie in alten Tagen, Schulter an Schulter. Dennoch stellte Jurka fest: Zwischen Dimka und Petka stimmt etwas nicht. Dimka benahm sich urkomisch, war abwechselnd fröhlich und ernst, beides ohne erkennbaren Grund. Sobald Petka den Mund öffnete, wurde er mucksmäuschenstill und kuschte sich wie ein Hündchen. Den richtigen Dimka schien es nicht mehr zu geben. Der dort ging, tat nur so, als wäre er Dimka. „Ihr seid wie Hund und Katze", sagte Jurka. Dimka biß sich auf die Lippen. Er schielte Petka an. „Das bildest du dir ein", behauptete Petka. Sogleich eilte ihm Dimka zu Hilfe: „Wir haben keinen Grund, uns zu streiten. Wer hat dir das eingeflüstert?"  Ins Krankenzimmer gingen sie zu zweit. Petka blieb draußen. Er stand unter dem Fenster. Der Lehrer lag, mit vielen Binden umwickelt, im Bett. „Guten Tag, Viktor Nikolajewitsch", grüßte Dimka höflich. „Wie geht es Ihnen?" „Ich danke euch, schon viel besser", erwiderte der Lehrer noch höflicher und machte ein freundliches Gesicht. „Nehmen Sie Platz, meine Herren Diplomaten." Die beiden setzten sich zaghaft auf den Rand des Bettes gegenüber. „Wenn die Schwester das sieht, fällt sie aus allen Wolken. Wenn der Arzt wüßte, daß ihr hier seid, wäre es noch schlimmer. Aber abgesehen davon — wie kommt's denn, daß ihr mich besucht?" „Ich kann nichts dafür", rechtfertigte sich Dimka verwirrt. „Es war Petkas und Jurkas Einfall. Ich wollte kein Spielverderber sein. Außerdem brauchen Sie nicht zu denken, daß uns jemand gesehen hat. Wir haben uns wie harmlose Spaziergänger benommen." Von draußen quetschte Petka die Nase gegen die Scheibe. Als er merkte, daß der Lehrer ihn gesehen hatte, verschwand er.  Viktor Nikolajewitsch mußte lachen. „Na, ihr beiden", sagte er fröhlich, „dann macht mal das Fenster auf." Jurka tat, wie ihm geheißen. Dimka hörte, daß er mit Petka flüsterte: „Das geht doch nicht. — Aber, hab dich nicht so. — Nein, wirklich, es geht nicht. — Er hat dich doch schon gesehen." Schließlich tauchte Petkas verwirrtes Gesicht wieder auf. „Ach, du bist das?" fragte der Lehrer. ,,Na, dann tritt näher."  „Ja, gern", brummte Petka leise, „ich kam zufällig vorbei." „Du bist mir wohl immer noch böse, Issajew? Wollen wir nicht endlich Frieden schließen?" „Böse? Ihnen? Wie kommen Sie darauf?" Petka war starr vor Staunen. „Früher hatte ich den Eindruck. Aber das ist jetzt unwichtig. Erzählt mir lieber, warum ihr ins Feuer gerannt seid." „Das war keine Absicht", sagte Dimka. „Wir haben was gesucht." „Was denn?" Dimka blickte fragend zu Jurka hinüber. Sollte er es verraten oder nicht?  „Atlantis", erwiderte er, als Jurka nickte. Jetzt wird sich der Lehrer aber wundern, dachten die Freunde. Daß er vor Erstaunen sogar den Kopf aus dem Kissen hob, hätten sie freilich nicht erwartet. „Atlantis?" fragte Viktor Nikolajewitsch. „Warum gerade Atlantis?" „Atlantis, wissen Sie", erklärte Jurka bereitwillig, „das ist ein Land. Eigentlich müßte man sagen, es war eins. Vor langer Zeit, ich glaube, es ist schon mehrere tausend Jahre her, versank dieses Land im Meer. Da dachten wir uns, vielleicht hat Atlantis in unserer Gegend gelegen, hier war ja früher Wasser. Aber Sibirien kommt nicht in Frage, nur der Atlantische Ozean. Trotzdem, schön muß es dort gewesen sein, wunderschön, das steht fest. Alles war aus Gold und Marmor." „Ich weiß", sagte Viktor Nikolajewitsch nachdenklich. „Mich würde eins interessieren. Sagt mal, habt ihr vielleicht ein blaues Heft gefunden? Auf einem Berg der Insel Azoris..." „Auf einem Berg der Insel Azoris steht ein steinerner Reiter, der das Gesicht dem Meer zuwendet und mit der Hand nach Westen zeigt", deklamierte Jurka. Er wußte den ersten Satz auswendig. „Richtig", bestätigte der Lehrer, „ein steinerner Reiter. Jetzt ist mir auch klar, was für ein Heft das war, das ihr mir nicht zeigen wolltet. Ich hatte es in die Manteltasche gesteckt. Bei meiner Ankunft muß ich es verloren haben." „Seht ihr, es gehört keinem Schriftsteller", rief Dimka erfreut. Er dachte an ihr Gespräch von neulich. „Das habe ich euch gleich gesagt." Jurka überhörte die Bemerkung. „Stimmt denn aber alles, was in Ihrem Heft steht?" wollte er von Viktor Nikolajewitsch wissen. Er stellte sich Marmorpaläste und Türme vor, die ganze schneeweiße Stadt über dem blauen Meer. Der Lehrer schien seine Gedanken zu erraten: „Ja, das stimmt, Jungs", sagte er, „oder es stimmt auch nicht, wie man's nimmt. Früher träumte ich davon, Atlantis zu entdecken. In den Büchern wurde viel gemutmaßt. Wirkliche Anhaltspunkte gab es fast gar nicht. Weil ich so viele Fragen hatte und keine Antwort darauf fand, nahm ich die Phantasie zu Hilfe." „Dann haben Sie wohl alles erfunden?" fragte Jurka enttäuscht. „Aber nein. Atlantis hat tatsächlich existiert. Versteht ihr? Nur weiß eben niemand, wie es dort ausgesehen hat. Da habe ich versucht, mir ein Bild zu machen, das meinen eigenen Wünschen entsprach. Später, als ich älter wurde, begriff ich, daß es viel interessanter ist, wirklich etwas zu entdecken, als nur zu träumen. Aber das versteht ihr jetzt nicht, nein? Ich will versuchen, euch alles zu erklären." „Das ist nicht nötig", fiel ihm Jurka ins Wort. „Ich weiß genau, was Sie meinen. Ich hatte einen Freund, Pawel Alexejewitsch. Er war sehr mutig und wollte als Seemann auf ein Schiff gehen. Kein Mensch wußte, wie mutig er war. Jetzt werden die Zeitungen von ihm schreiben." Die Jungen blickten den Lehrer an, als sähen sie ihn zum erstenmal. Ihnen schien, daß dort im Bett ebenfalls ein Junge säße, der sich zum Spiel ein Land ausgedacht hatte. Auch er hatte gesucht — und nichts gefunden. Vielleicht kam er ihnen deshalb jetzt einfacher und verständlicher vor. Das war die zweite Entdeckung, auch wenn sie sich's noch nicht eingestehen wollten. — Als sie aus dem Krankenhaus ins Freie traten, sagte Petka: „Daß es sein Heft ist, hätte ich nie für möglich gehalten." Am Abend dauerte es lange, bis Jurka müde wurde. Er schritt durchs Zimmer und wollte aller Welt erzählen, was sich zugetragen hatte. Da er aber nicht wußte, wem er sich anvertrauen sollte, rückte er schließlich einen Stuhl an den Tisch und griff nach dem Notizblock. Lange kaute Jurka am Bleistift. Dann schrieb er: „Unser Städtchen heißt Ust-Kamensk. Im Winter ist es sehr kalt, und im Sommer gibt es viele Mücken, weil wir am Jenissej und an der Tunguska liegen."  Beim Schreiben merkte er, daß ihm der Bleistift nicht gehorchte. Die Sätze, die er aufs Papier kritzelte, waren anders als seine Gedanken. Er wollte kräftiger schreiben, die Menschen packen. Seine Worte sollten dröhnen wie Trompeten.  Er strich alles durch und begann von vorn. Aber auch die neuen Sätze erschienen ihm kümmerlich und schwach. Sie wirkten kindlich. Man müßte lernen, wie ein Erwachsener zu schreiben. Gegen Mitternacht kam die Mutter. Sie steckte ihn ins Bett. „Weißt du, Mutti, was ich einmal werden möchte?" fragte er. „Schriftsteller." Es war seine dritte Entdeckung.  XVI  Der Weg Ende August färbten sich die Taigaseen dunkel. Auf dem Wasser schwammen Blätter: goldene Schiffchen mit gezackten Rändern, per frühe Herbst strich die Bäume an. In bunten Flammen verbrannte die sommerliche Pracht des Waldes. Die Sonne wärmte nicht mehr. Kalter Wind fegte übers Land. Die Schiffe, die aus dem Norden kamen, heulten mit verschnupftem Baß, als hätte an der Küste schon der Winter seinen Einzug gehalten. Ende August wollte Lena abreisen. Zusammen mit ihrem Vater und Sergej Michailowitsch traf sie in Ust-Kamensk ein. Als die drei Ankömmlinge sich nach dem Haus der Alenows durchgefragt hatten, war es schon Abend. Erstaunt sah Lenas Vater den verlegenen Jungen an, drückte ihm lange die Hand und murmelte: „So siehst du also aus. Ich hätte mir dich anders vorgestellt, größer und älter." Nachher saßen Jurka und Lena vor dem Haus auf einem Balken. Jurka erzählte von dem Waldbrand und vom Hafenmeister.  Lena war schmal geworden seit ihrer letzten Begegnung. Der volle Zopf, der ihr über die linke Schulter hing, wirkte unnatürlich lang. Sie machte einen zerfahrenen Eindruck, lächelte höflich, aber traurig und hörte nicht aufmerksam genug zu. Vielleicht fiel ihr der Abschied schwer? Ab und zu bewegte sie die Lippen, als wollte sie seine Worte wiederholen. Als Jurka dies bemerkte, dachte er, daß es schön sein müßte, mit Lena in eine Klasse zu gehen. Dann fragte er sich, wie er eigentlich aussehe. Gut? Er verspürte den Wunsch, ein hübscher Junge zu sein. Als er ihr sein großes Geheimnis anvertraute, den letzten Entschluß, Schriftsteller zu werden, geschah es in der Erwartung, einen Begeisterungssturm auszulösen. Lena nahm die Neuigkeit ohne jede Gemütsbewegung auf. Sie verzog nicht einmal die Lippen, als sie sagte: „Ach? Petka hat mir erzählt, daß er Flieger werden will. Das ist auch ein schöner Beruf." Jurka war entsetzt.  Etwas später kam Petka. Er setzte sich zu ihnen, als wäre es sein Balken. „Guten Abend, Lena." „Guten Abend", erwiderte das Mädchen, „morgen reise ich ab." „Mit der ,Irtysch'", sagte Petka. „Kommst du zum Hafen?" fragte Lena. „Ehrensache, daß wir kommen." „Das Schiff geht um neun." „Um neun Uhr zwanzig", verbesserte Petka. Hierauf verstummte das Gespräch. Jurka meinte, die beiden schwiegen, weil er dabeisaß. Er war tief gekränkt, stand auf und ging ins Haus. Sie hielten ihn nicht zurück. Als er Minuten später durchs Fenster lugte, saßen beide auf der gleichen Stelle. Sie schwiegen noch immer. Als er zum zweitenmal ans Fenster trat, war der Balken leer. Das setzt allem die Krone auf, fand Jurka. Zu Tode beleidigt verkroch er sich ins Bett, ohne vorher die Sachen auszuziehen. Übrigens schlief er traumlos und fest. Am Morgen kam Petka, um ihn abzuholen. Sie gingen zusammen zum Hafen. Sergej Michailowitsch, Lena und ihr Vater waren bereits da. Dimka hatte sich nicht eingefunden. „Wo bleibt Dimka?" fragte Lena. Sogleich waren alle aufgeregt und äußerten die verschiedensten Vermutungen, wo Dimka stecken könnte und warum er nicht gekommen war, als hätte es im Augenblick nichts Wichtigeres gegeben. Die Dampfersirene heulte einmal. „Also", sagte Sergej Michailowitsch, „verabschieden wir uns. Dimka kommt sicher nicht mehr."  Lenas Vater drückte ihm kräftig die Hand. „Dann bleib gesund. Ich danke dir für alles."  „Und was soll nun werden, wo geht es anschließend hin?" fragte Sergej Michailowitsch. „Wieder zu uns?"  „Das weiß ich noch nicht genau. Daheim habe ich ein Haus. Das kann man natürlich verkaufen."  „Wieso weißt du es plötzlich noch nicht?" meldete sich Lena. „Bei uns gibt es keine zehnklassige Schule, nicht einmal eine siebenklassige. Ich will lernen." „Ich sage ja, das Haus können wir verkaufen." Jurka kam dem Mädchen zu Hilfe. „Unsere Schule ist ganz große Klasse."  Die Dampfersirene heulte zweimal.  Lena ging mit ihrem Vater über die Schiffstreppe. Oben angekommen, stellten sie sich an die Reling.  Die Dampf ersirene heulte dreimal. Die Maschine stöhnte auf. Ein Zittern lief durch das Schiff. Unter dem Heck schäumte und brodelte das Wasser.  Der Abstand zum Ufer betrug schon einen halben Meter, als Petka an Jurka und Sergej Michailowitsch vorübersauste. Mit einem Satz war er an Bord. „Die Adresse", schrie er Lena ins Ohr, „ich habe vergessen, dir die Adresse zu geben. Swerdlowstraße achtzehn." Ein zweiter Sprung brachte ihn auf die Anlegestelle zurück. An Bord lärmten und lachten die Leute. Aus dem Lautsprecher am Mast plärrte Marschmusik. Alle anderen Geräusche gingen darin unter. Bald fuhr der Dampfer in den Jenissej ein. Vom Wasser stiegen die Möwen auf, ihm das Geleit zu geben. Jetzt erst traf im Hafen Dimka ein, schweißbedeckt, außer Atem, das Gesicht gerötet vom schnellen Lauf. Fassungslos und beleidigt sah er die anderen an. „Ist das dumm!" jammerte er. „Fünf Rubel habe ich für den da ausgegeben und auch noch ein Halsband gekauft." Er knöpfte das Hemd auf. Ein Hündchen kam zum Vorschein. Es war schmutzig wie eine Kröte. „Extra nach Surguticha bin ich gelaufen. Es ist ein echter Eskimohund. So was gibt es hier nicht. Lena hätte sich bestimmt gefreut." „Ja, den wirst du nun behalten müssen", schnarrte Sergej Michailowitsch. „Das ist nicht so schlimm. Unterwegs hätte er doch nur gestört." Dimka war gekränkt. „In einem Jahr bellt er die Vögel an." Sergej Michailowitsch lachte, widersprach aber nicht.  „Na, dann lebt wohl, Jungs", verabschiedetet er sich.  „Ich habe noch einen weiten Weg vor mir."  „Wo stecken Sie jetzt?" „Vierzig Kilometer von hier. Im Frühjahr kommen wir wieder. Dann sehen wir uns. Ich werde euch erzählen, was wir inzwischen gefunden haben, und ihr berichtet über eure Erfolge." „Wir suchen nichts mehr", entgegnete Jurka.  „Warum nicht? Das wäre ein Fehler. Sucht weiter, gebt nur acht, daß ihr euch nicht zu weit von der Stadt entfernt. Ich sage immer, die Welt ist groß, aber rund. Jedes Städtchen, selbst das kleinste und unscheinbarste, steht, von einem entgegengesetzten Punktaus betrachtet, auf der höchsten Stelle. Auch euer Ust-Kamensk." Die Kinder begleiteten Sergej Michailowitsch bis zur ersten Blinkanlage. „Ich werde trotzdem weiterlernen", verkündete Petka, nachdem sie sich verabschiedet hatten, „unter allen Umständen. Ich habe keine andere Möglichkeit. Mit dem Abschluß der siebenten Klasse komme ich nie in eine Fliegerschule. Ich habe mich genau erkundigt und heut mit meiner Mutter gesprochen. Wißt ihr, was sie sagt? ,Als ob ich je dagegen gewesen wäre, nur du hast dir in den Kopf gesetzt, nach der siebenten abzugehen.' Dabei kamen ihr die Tränen. Als ich ihr erklärte, daß ich von der Schule gehen wollte, hat sie auch geweint. Da soll sich ein Mensch rausfinden." „Mein Entschluß steht ebenfalls fest", behauptete Jurka. „Er ist endgültig. Aber vorläufig spreche ich nicht darüber. Sonst lacht ihr mich aus. Es ist noch zu früh." Dimka jammerte: „Und ich habe mein ganzes Geld verplempert. Wenn es wenigstens nicht umsonst gewesen wäre." „Jetzt tut dir's wohl leid?" höhnte Petka. „Ach was!" empörte sich Dimka. „Wo ich aufs Geld spucke wie auf sonst was. Der Hund ist mir mehr wert. Aber knauserig bin ich deswegen nicht. Von mir aus verschenke ich ihn sogar. Willst du ihn haben? Das Halsband kriegst du dazu. Bitte." Er zog das Hündchen hervor und streckte den Arm aus. Petka beachtete es nicht. Da hielt ihm Dimka den kleinen Kerl direkt vors Gesicht. Petka schob ihn sanft zurück. Dimka stieß mit der Schulter zu. Petka schubste, und Dimka rempelte kräftig Petka an. Die Knuffe wurden stärker. Trotzdem war es keine Rauferei, sondern ein Schritt zum Frieden. Jurka erfuhr nicht, weshalb sie sich verkracht hatten. Alle drei kletterten die Böschung hoch und nahmen den Weg, der in den Wald führte. Sie sahen runter auf den Jenissej. Kähne fuhren stromauf, eine lange Reihe. In geringem Abstand folgte ein zweiter Zug. Auf den Decks standen Traktoren, Lastwagen, mit Planen verdeckte Maschinen. Petka wunderte sich. „Sie kommen in die Tunguska. Warum eigentlich? Früher sind sie immer vorbeigefahren." „Ach, wer weiß", meinte Dimka leichthin. „Sie werden wohl eine Straße bauen. Ich habe euch ja schon gesagt, daß sie letztes Jahr die Taiga vermessen wollten. In Baikit hat man Erz gefunden, so viel, daß es für die ganze Sowjetunion reicht und noch was übrigbleibt." „Das ist Schwindel. Bis Baikit sind es hundert Kilometer. Wie wollen sie durch die Taiga kommen?" „Ich habe euch doch gesagt, daß eine Straße gebaut wird. Die ist eins, zwei, drei fertig bei den Maschinen, die wir haben." „Los, die Schiffe müssen wir uns aus der Nähe angucken." „Ja, runter!" Die Jungen liefen zur Anlegestelle zurück, schneller und schneller, neuen Entdeckungen entgegen. Wer hätte da langsam gehen können?  Ende Diamantenpfade In der Mitte der Bucht hörte Wenka auf zu rudern. Er lauschte. Das Geräusch, das von der nahen Insel her an sein Ohr drang, war lauter geworden. Durch die Fäuste blickte Wenka über das Sonnenfunken sprühende Wasser. Zuerst sah er die Masten. Dann tauchte eine niedrige Deckkabine über den Steinen auf. Zum Schluß kroch der ganze Trawler ums Kap. Anfangs behielt das Schiff seinen Kurs bei. Nach einer Weile schwenkte es auf die Sonnenstraße ein, die zu dem Boot führte. Wenka lachte, legte sich in die Ruder und begann zu kurven. Auch der Trawler vollführte eine Schwenkung, bis er abermals auf den Bug des Bootes zielte. Wenka gebrauchte nur das rechte Ruder. Danach wurde auf dem Trawler das Steuer scharf in die gleiche Richtung geworfen. Das Boot war jedoch wendiger, es fuhr in einem kleinen Kreis, das Schiff in einem großen. Der Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen betrug noch immer hundert Meter. „Wenka, du bist ein Schuft!" erklang es vom Trawler durch das Sprachrohr. „Halt an, sonst ramme ich dich!"  Es war eine Kapitulation. Wenka lachte wieder. Er ließ die Ruder fahren. In weitem Bogen glitt der Trawler auf das Boot zu. Aus der Deckkabine kam der Steuermann, ein Bursche in braunem Sweater und mit Turnschuhen an den nackten Füßen. „Wenka", rief er drohend, „willst du mit uns Katze und Maus spielen?" „Ich habe gar nicht gewußt, daß ihr in der Nähe wart", erwiderte Wenka mit ernstem Gesicht. „Bei der ,Möwe' ist das anders. Die hört man schon von weitem." Die Matrosen an Bord feixten. Der Steuermann hatte früher auf der „Möwe" gedient und war wegen seiner Schlafmützigkeit auf den Trawler versetzt worden. „Verschwinde!" knurrte der Steuermann. „Schön", erwiderte Wenka, „mache ich." Er bewegte die Ruder. Langsam entfernte sich sein Boot von dem Trawler. Das behagte dem Steuermann wenig. Er schlug einen anderen Ton an. „Warte doch!! Trägst du Briefe aus?" „Natürlich." „Für mich ist nichts dabei?" „O doch."  „Wirklich?" „Wirklich." „Und wenn du lügst?" „Und wenn ich nicht lüge?" fragte Wenka. „Was ist es denn für eine Handschrift?" rief einer der Matrosen. „Eine männliche?" Auf dem Trawler wurde gelacht. Über einen Monat war das Schiff auf der unruhigen Barentssee gekreuzt. Jetzt ging es heim. Die Männer waren bereit, sich über den dümmsten Witz zu freuen. „Eine Frauenhandschrift", antwortete Wenka. Er wußte, daß der Steuermann, der aus einer anderen Gegend stammte, Post von einer gewissen Jelena Bogatkina aus Kalinin erwartete. „Was wird im Kino gespielt?" „Jetzt läuft ein deutscher Film", erwiderte Wenka, „für Jugendliche unter sechzehn nicht zugelassen." „Und in dem andern?" „Ein italienischer, auch erst ab sechzehn." Der Steuermann lachte. „Pech für dich." „Was heißt Pech?" Wenka tat erstaunt. „Ich war schon drin. Es ist großer Quatsch. Nichts als Knutschen." Die leichte Brise trieb das Boot vom Trawler ab. Man mußte wieder schreien. Wenka fühlte sich geschmeichelt. Seinetwegen hatte das Schiff in der Mitte der Bucht gestoppt. Von ihm, ausgerechnet von ihm wollte die Mannschaft sämtliche Neuigkeiten erfahren. Als nach vielem Hin und Her die Sirene heulte und der Trawler seine Fahrt zum Heimathafen fortsetzte, fiel Wenka ein, daß er vergessen hatte zu fragen, wann das Schiff seines Vaters vom Fang zurückkehrte. Er stöhnte, wendete und ruderte weiter. Der Bug bohrte sich durch die Sonnenstraße. Hinter dem Heck glitzerten Tausende scharfkantiger Funken. Die Sonnenstraße sah aus, als wäre ein Verschwender hier entlanggekommen und hätte Diamanten und Edelsteine hingeschüttet, damit ein lichtsprühender Pfad entstand. Hinter dem Halbrund der Bucht erhoben sich blaue Berge. An ihrem Fuße standen die Gebäude des Staatlichen Fischkombinats. Wenka brauchte noch eine Stunde, um das Ufer zu erreichen. Als er angekommen war, nahm er das in Wachstuch gehüllte Paket mit den Briefen und sprang aus dem Boot. Offenbar hatten ihn die Leute schon von weitem erspäht. Als er durch die Häuserreihen schritt, wurden zu beiden Seiten die Fenster aufgerissen. „Wenka, ist für mich nichts dabei?" „Leider nein." „Hast du was für mich?" „Nein, nein, heute kriegt nur einer was." Aus der Werkstatt kam Ilja Sykow, ein Maschinist, heraus. „Tag, Seemann. Bist du zu den Briefträgern übergelaufen?" „Jawohl", erwiderte Wenka. „Ilja Iwanowitsch, wo finde ich Schawrow? Ich habe einen Einschreibebrief für ihn. Er soll wohl hier arbeiten. Ich habe ihn nie gesehen." „Zeig mal her." Der Maschinist drehte den Brief in der Hand. Um besser sehen zu können, ließ er das Licht darauffallen. Über sein Gesicht huschte ein zufriedenes und — wie es Wenka schien — schadenfrohes Lächeln. „Sieh mal an", meinte er, ,,P. E. Schawrow. Ja, das hat seine Richtigkeit. Da hat sie ihn also doch noch aufgespürt." Er beugte sich zu Wenka herab und flüsterte ihm ins Ohr: „Er ist in der Werkstatt, bringt gerade Schwimmer an. Geh rein und laß ihn eigenhändig unterschreiben. Er wird bestimmt versuchen, die Annahme zu verweigern. Du mußt Rückgrat zeigen." „Warum will er den Brief nicht haben?" wunderte sich Wenka. „Das ist seine Art. Ein komischer Kerl." In der Werkstatt war ein Netz aufgespannt. Davor stand ein Mann, der dreißig Jahre alt sein mochte. Da er bis zum Gürtel nackt war, konnte Wenka die Tätowierung auf seiner Brust erkennen: eine Katze, die eine Maus jagt. „Guten Tag", grüßte Wenka, „Sie haben Post." Der Mann streckte die Hand aus, warf einen Blick auf den Absender und reichte den Brief zurück. „Wer sagt dir denn, daß er an mich gerichtet ist?" „Dort steht P. E. Schawrow. Das sind Sie." „Na und?" „Na ja, das ist eben Ihr Brief", erklärte Wenka unsicher. „Und wer bist du?" „Wie soll ich das sagen?" „Doch nicht der Briefträger?" „Ach wo, ich helfe nur aus." „Wenn du nicht der Briefträger bist, brauchst du dir keine grauen Haare wachsen zu lassen. Verwandte habe ich nicht, und ich wüßte nicht, wer mir schreiben sollte. Also, es hat mich sehr gefreut." „Aber Sie sind doch P. E. Schawrow?" vergewisserte sich Wenka leise. „Ob ich P. E. bin oder XYZ, das kann dir doch völlig gleichgültig sein." Geknickt schlich Wenka davon. ,,Er war wohl sauer?" fragte Sykow. „Er will den Brief nicht haben", erwiderte Wenka zerknirscht. Sykow trat an die Werkstattür und sprach in das Halbdunkel hinein: ,,Paschka, warum machst du es dem Jungen so schwer? Er tut nur seine Pflicht. Nimm den Brief. Ja?" „Seit wann hast du mir Vorschriften zu machen?" Paschkas Stimme klang böse. „Kümmere dich darum, daß dein Motor in Ordnung ist. Ob ich den Brief annehme oder nicht, geht dich einen Dreck an." Sykow lachte. „Falls ich dir nicht genüge, trommeln wir die Brigade zusammen. Wenn die Jungs dich vornehmen, wirst du schon sehen, wen es angeht." Schawrow warf Wenka eine giftigen Blick zu und stiefelte hinaus. Wenka, der kein Wort verstand, spürte, wie ihm der Gaumen trocken wurde. Er fühlte sich ungerecht behandelt. So war bisher noch niemand mit ihm umgesprungen.  „Du darfst nicht lockerlassen", ermutigte ihn Sykow. „Das ist jetzt sehr wichtig. Klar?"  „Ich habe die Nase voll", sagte Wenka.  „Wie du meinst. Nur mußt du wissen, daß er in Leningrad einen fünfjährigen Sohn hat. Weil er kein Geld schicken will, verkriecht sich der Bursche vor seiner Frau und dem Kleinen. Neulich hat er geprahlt, daß sie ihn hier nicht finden werden. Wie du siehst, hat seine Frau es trotzdem geschafft. Sie ist viel zu gut, schickt ihm noch Briefe, statt die Angelegenheit dem Gericht zu übergeben."  Stimmte denn das alles? Wenka blickte Sykow an. Der Maschinist machte ein ernstes Gesicht. Da gab es also tatsächlich einen Mann, der sich verborgen hielt, weil ihm das Geld leid tat, das er Frau und Kind schicken sollte! Wie war so etwas möglich? Wenka stellte sich vor, was wäre, wenn sein Vater plötzlich auf den Gedanken käme, sich zu verstecken, und die Mutter am Tisch säße, um einen Brief zu schreiben Aber das war Unsinn. Vater würde dergleichen nie fertigbringen. Wenka preßte den Brief in der Hand, die auf einmal feucht geworden war, und rannte los, um Schawrow zu suchen. Er traf ihn im Wohnheim, allein. „Nehmen Sie bitte den Brief", sagte Wenka. Schawrow lachte. Er ging an die Tür und machte sie zu. „Du bist doch ein kluger Junge", begann er heiter, „noch dazu einer mit Charakter. Weißt du, wir machen es folgendermaßen. Du schreibst ,Empfänger verzogen' auf die Quittung. Schon ist alles in Butter. Na komm, sei kein Spielverderber." „Nein, das geht nicht." „Du brauchst nicht zu denken, daß es umsonst sein soll. Das verlangt kein Mensch." Schawrow kniff ein Auge zu. „Da, steck ein, das ist deins." Auf dem Tisch lag ein Jagdmesser mit roter Scheide und einem Griff aus Kunststoff. Auf der Klinge war eine Rinne angebracht. Damit das Blut abfließen kann, überlegte Wenka. Er brauchte nur die Hand auszustrecken, und schon gehörte das Messer für immer ihm. Der Gedanke an die Blutrinne ließ ihn erschauern. „Nehmen Sie den Brief", flehte er, „ich muß weiter." „Wie du willst." Schawrow ließ das Messer im Tischkasten verschwinden. „Warte einen Augenblick." Er ging hinaus. Wenka wartete eine halbe Stunde. Als noch immer niemand kam, verließ er das Heim. Von der Außentreppe aus sah er die Menschen, die bei den Booten standen und sich anschickten, auszufahren. Zwischen den vielen Köpfen leuchtete Schawrows weiße Schirmmütze. Mit einem Satz war Wenka unten. Er lief zum Ufer. „Nehmen Sie den Brief", rief er Schawrow zu, als er die Boote erreicht hatte. „Mach nicht solchen Lärm", zischte Schawrow ungehalten. „Gib ihn mir morgen." Wenka war tief gekränkt. Mit bleichem Gesicht stand er vor Schawrow, hielt den Brief in der ausgestreckten Hand und wiederholte: „Nehmen Sie ihn, nehmen Sie ihn!" Viel hätte nicht gefehlt und er wäre in Tränen ausgebrochen. Die Fischer merkten, daß etwas nicht stimmte. Sie kamen heran. Mit ernsten Augen betrachteten sie den Jungen und den Mann. Noch begriff niemand von ihnen, was vorging. „Also gib her!" Schawrow lachte auf. Mit einer schwungvollen Unterschrift bestätigte er den Empfang des Briefes. „Dann ist mein Lohn eben futsch." Wenka steckte die Quittung ein. Als er zu seinem Boot ging, rief ihm Schawrow nach: „Hast du das Messer nicht gestohlen? Sonst rück's raus. Ich werde nachsehen." „Paschka, halt die Luft an", wies ihn ein Fischer zurecht. „Laß den Wenka in Frieden. — Na, Postbote, weiter hast du nichts?" Der „Postbote" drehte sich nicht um. Er schüttelte den Kopf. Inzwischen hatte die Ebbe begonnen. Das Meer war zurückgegangen. Wenkas Boot lag auf dem Trockenen. Der Junge stemmte eine Schulter gegen den Rand, er schob und stieß, mußte jedoch einsehen, daß er allein nichts ausrichten konnte. Das Boot rührte sich nicht von der Stelle. Bis zum Wasser waren es drei Meter. Da gab er sich geschlagen, kletterte hinein und setzte sich auf die Bank. Immer weiter wich das Meer vom Ufer zurück. Er kniff die Lippen zusammen und schaute griesgrämig zu. Es war wie das unentwegte Vorrücken eines Minutenzeigers — eine Bewegung, die man bemerkt und gleichzeitig nicht bemerkt. Man braucht nur eine Weile die Augen zu schließen und dann wieder zu öffnen, um zu sehen, daß der Zeiger inzwischen auf den nächsten Strich gerückt ist. Während Wenka noch seinen Betrachtungen nachhing, rief jemand: „Sonnst dich wohl, Postbote?" Wenka fuhr herum. Hinter ihm standen zwei Frauen, die er nicht kannte. Sie trugen einen Korb mit Salz, setzten ihn am Strand ab und lachten spöttisch. Wenka starrte mürrisch vor sich hin. Von der Ebbe überrascht zu werden ist eine Schande für jeden Seemann, auch wenn er nichts dafür kann. Doch die Frauen waren gar nicht so. Sie griffen in die Rudergabeln und schoben das Boot mitsamt dem auf der Bank hockenden „Briefträger" ins Meer. „Schönen Dank auch", riefen sie ihm nach. Endlich kam Wenka zu sich. „Ja, schönen Dank", murmelte er verwirrt. Die Frauen hoben lachend den Korb an. Wieder war da der Pfad, zog wie ein feuriger Schweif hinter dem Boot her. Ständig begleitete er Wenka. Der ruderte, ohne sich umzublicken. Die Richtung stimmte, solange die Bootsspur auf dem diamantenen Pfad blieb und es schien, als habe er ihn selber angelegt. Über der Hügelkette, die das Ufer säumte, hingen reglose Haufenwolken. Man hätte sie für eine Fortsetzung des Höhenzuges halten können. Von den Hängen ergossen sich Lichtströme aufs Meer. War das ein Blitzen und Gefunkel überall! Wenka fand, Menschen wie Schawrow dürfte es nicht geben, dann wäre die Welt noch schöner. Dreißig Meter vom Boot entfernt stieß der Kopf einer Robbe aus dem Wasser. Das Tier blickte Wenka mit scheuen, in ewiger Furcht geweiteten Augen an. „Hier ist ein Brief für Sie, ich bitte um Ihre Unterschrift!" schrie Wenka hinüber. Lautlos tauchte der Robbenkopf unter, war plötzlich verschwunden, wie in Nichts aufgelöst. Wenka spürte Erleichterung. Er wurde fröhlich, als hätte er es Schawrow tüchtig gegeben. Das Boot fuhr am Ufer entlang. In der Ferne erhob sich eine bewaldete Insel, schien schaukelnd und schwankend auf dem Meer zu treiben. An dieser Stelle wußte Wenka jedesmal, wieviel Ruderschläge noch zu tun waren. „Tausendzweihundert", murmelte er vor sich hin und begann zu zählen: „Eins — und zwei — und drei..." Als er bei sechshundert angelangt war, blickte er wieder hinüber. Noch immer trennte ihn eine große Strecke von der Insel. Wenkas Bewegungen wurden ruhiger. Er zog die Ruder langsam durch und hielt sie eine Weile in der Luft, bevor er sie erneut ins Wasser senkte. „Tausendeinhundert und..." Endlich war zu hören, wie im Rücken die Wellen mit leisem Geplätscher ans Ufer rollten, was bedeutete, daß die Entfernung bis zur Insel noch dreißig Meter betrug. Jetzt ruderte Wenka hastig, mit kurzen Schlägen. „Hundertundeins — hundertundzwei..." Bei tausendeinhundertsiebenundneunzig schurrte das Boot über die Ufersteine. Zufrieden streckte Wenka den schmerzenden Rücken. Das letztemal hatte er sich um zehn Ruderschläge verrechnet. Er kletterte auf das mit Flechten bedeckte Geröll und wickelte sein Essen aus: zwei mit Steinbutt belegte Butterschnitten — Frühstück und Mittagbrot. Er verspeiste beides auf einmal. Während der Mahlzeit lag er auf dem Bauch und spürte, wie die Wärme der erhitzten Kiesel durch die Kleidung drang. Mit behaglichem Schmatzen plätscherten Wellen gegen die Steine, spritzen an ihnen hoch und wichen zurück ins Meer. Wenn Wenka die Augen schloß, war ihm, als zittere und schwanke das Geröll unter seinem Körper gleich dem Boot, mit dem er hergerudert war. Er hätte gern ein wenig geschlafen, aber dazu war keine Zeit. Um die Müdigkeit abzuschütteln, stand er auf und hüpfte mehrere Male an der gleichen Stelle. Als sich das Boot fünfhundert Meter von der Insel entfernt hatte, begann Wenka wieder zu zählen, allerdings ohne ein einziges Mal den Kopf zu heben und sich zu orientieren. Die Folge war, daß er auf eine ganz zufällige Zahl kam: siebenhundertdreiunddreißig. Der Strand war steinig. Hinter einem schmalen Uferstreifen begann die steile, von Felsblöcken übersäte Böschung. Hier gab es keinen Pfad, Wenka mußte auf allen vieren kriechen und sich an den drahtigen Wacholderbüschen festklammern. Als die höchste Stelle erreicht war, verschnaufte er ein wenig. Dann begann der Abstieg. Um nicht ins Rutschen zu kommen, rannte er von Stein zu Stein. Vor einem Häuschen — der zeitweiligen Unterkunft einer Feldmesserabteilung — standen mehrere Arbeiter. Als sie Wenka bemerkten, beugte sich einer über das Dreibeinstativ und richtete das Beobachtungsfernrohr des Theodoliten auf den näher kommenden Jungen. ,,Wir grüßen die Post", rief er. „Aber warum läufst du denn nicht wie ein normaler Mensch?"  „Wie laufe ich sonst?" fragte Wenka.  „Guck mal hier durch." Wenka stellte sich ans Fernrohr. Anfangs begriff er gar nichts. Himmel und Erde waren vertauscht. Die Wolken segelten unten, die Hügel standen kopf, wie Eiszapfen hingen daran die Tannen. Na, ich danke, dachte Wenka, ich muß eine sehr komische Figur abgegeben haben. „Gehen Sie doch auch mal ein Stück", bat er, „vielleicht bis zu diesem Stein dort." „Wir haben das Gehen satt", erwiderte der Arbeiter, der neben dem Fernrohr stand, „seit dem Frühjahr ziehen wir durch die Gegend. — Für wen hast du was mitgebracht?" „Für Lisunow." „Also für mich." In Wenkas Hand raschelte ein zerknitterter Brief. Lisunow riß den Umschlag auf. Beim Lesen schien er allmählich zu entrücken. Ein ungläubiges Lächeln stahl sich über sein Gesicht. Wenka befürchtete, auch Lisunow könnte den Brief sogleich zurückweisen. Auf einmal wurden ihm alle diese Menschen zuwider. Außerdem war er wütend, weil Lisunow ihn in dieser komischen Stellung gesehen hatte. Das Lächeln wurde breiter. Lisunow meckerte los, leise zuerst, dann lauter. Schließlich riß er sich die Mütze vom Kopf und schleuderte sie auf die Erde. „Briefträger", jubelte er, „was sagst du nun dazu? Ist das nicht wunderbar! Wie soll man es anders nennen?" „Ein Einschreiben", bemerkte Wenka, um Mißverständnissen auf alle Fälle vorzubeugen. „Hier müssen Sie Ihren Namen hinsetzen."  „Mit meinem Blut werde ich unterschreiben", rief Lisunow. „Kinder, stellt euch vor. Mein Schwesterchen war gerade aus den Windeln raus, und eine Kälte war das. Im Thermometer gefror das Quecksilber. Es war noch Krieg. Der Zug fuhr ab. Meine Schwester kam nicht mit. Wo haben wir nicht hingeschrieben! An den Rundfunk, an die Zeitungen. Alles umsonst. Jetzt ist sie da. Die ,Komsomolka' hat sie gefunden." Lisunow überstürzte sich, als säße er im Kino und sollte die Szenen eines vor seinen Augen abrollenden Films beschreiben. „Das kostet eine Kleinigkeit", sagte jemand, der hinter Wenka stand. Lisunow sah und hörte nichts mehr. „Inzwischen hat sie sogar geheiratet", rief er, außer sich vor Freude. „Ganze vier Jahre alt war sie damals. Jetzt wohnt sie mit ihrem Mann bei uns in Murmansk. Ist das nicht ein Wunder?" Er reichte Wenka ein Foto. Darauf sah man ein schlankes Mädchen in gestreiftem Kleid. Sie lehnte an einem Gemälde mit weißhäuptigen Bergen, die an Sektflaschen erinnerten. Ein Reiter sprengte durchs Gebirge, und eine „TU" flog darüber hinweg. Am Fuße der Berge wogte das Meer. Ein Ozeandampfer schaukelte auf den Wellen. Das Mädchen guckte ängstlich, als fürchte es, der Reiter könnte lebendig werden und den Säbel erheben. Während Wenka noch die Fotografie betrachtete, trat der Abteilungsleiter aus dem Häuschen. „Kommt, Genossen, es ist Zeit", sagte er. „Nanu, Lisunow, du bist ja heute so gut gelaunt?" „Ich habe auch allen Grund. Meine kleine Schwester ist gefunden worden." „Soso", meinte der Abteilungsleiter, „na, dann mußt du etwas springen lassen. — Hast du den Brief gebracht?" wandte er sich an Wenka. „Jawohl." „Tüchtig, tüchtig. Wie heißt du?" Wenka runzelte die Stirn. Die nächsten Fragen würden lauten: Wie alt bist du? In welche Klasse gehst du? Wie sieht dein Zeugnis aus? Erstaunlich, wie sehr sich die Erwachsenen in ihrem Denken gleichen. Der Abteilungsleiter machte eine Ausnahme. Er drang nicht weiter in Wenka, sondern sagte nur mit strenger Miene: „Das nächste Mal bin ich aber dran. Hast du gehört?" „Wenn etwas dabei ist, bringe ich es mit."  „Ich muß gleich ein Telegramm schicken", sprudelte Lisunow hervor, ergriff Wenka am Arm und dreht ihn zu sich herum. „Kannst du es aufgeben?"  „Aber ja."  „Diktiere, ich schreibe", schlug der Abteilungsleiter vor. Er zog ein Notizbuch aus der Kartentasche. „Ja, vielleicht so: .Willkommen, mein liebes Schwesterchen. Punkt.'" „Wozu Punkt?" fragte Wenka. „Einer kostet drei Kopeken." „Trotzdem, mit Punkten ist es besser", entgegnete Lisunow in feierlichem Ton, „es gehört sich so." Als das Telegramm diktiert war, drückte er Wenka drei Rubel in die Hand. „So viel macht das nicht", erklärte Wenka. „Geben Sie mir einen Rubel, der reicht bestimmt. Wenn ich etwas rauskriege, bringe ich es Ihnen." „Nein, nimm. Den Rest behältst du für Bonbons. Sollst deine Reise nicht umsonst gemacht haben." „Das geht nicht", erwiderte Wenka, „wir arbeiten ohne Bezahlung." „Was heißt wir?" „Unsere ganze Klasse. Wir haben einen Beschluß gefaßt. Jeder leistet in den Ferien zehn gute Taten." „Und wieviel hast du schon begangen?" wollte der Abteilungsleiter wissen. „Das kann ich nicht sagen. Bei denen, die in der Stadt eingesetzt sind, zählen die Briefe. Sie haben bereits mehr als tausend ausgetragen. Dazu kommen noch Zeitungen. Sie haben ihre Verpflichtung längst erfüllt." „Und wieviel Briefe sind bisher durch deine Hände gegangen?" „Erst sechzehn." „Nicht gerade eine Menge", gab der Abteilungsleiter zu. Er schielte Wenka von der Seite an. „Es ist nicht meine Schuld", erwiderte der. „Komm her." Der Abteilungsleiter holte die Karte aus der Tasche und breitete sie auf einer Stufe aus. „Zeig uns mal deine heutige Reiseroute. Ich möchte wissen, wo du überall gewesen bist." „Zuerst im Staatlichen Fischkombinat." Durch die blaue Fläche der Bucht zog der Bleistift eine Linie. „Dann bist du zu uns gekommen?" „Ja." Eine zweite Linie kroch am Ufer entlang und endete auf einer Bergkuppe. „Und anschließend geht's nach Hause?" „Ja." Eine dritte Linie durchschnitt die Bucht. Sie verband sich mit der ersten und zweiten. „Das sind zweiundzwanzig bis dreiundzwanzig Kilometer", stellte der Abteilungsleiter fest. „Und wieviel Briefe hast du ausgetragen?" „Zwei." „Wie werden die berechnet? Als eine Tat, als eine halbe, als vier?" „Das weiß ich nicht", gestand Wenka. „Das Postboot hat einen Motorschaden. Da bin ich eingesprungen." Die Arbeiter lachten. Sechzehn Briefe, dachte Wenka, wie wenig das ist! Er bekam einen Schreck. Im Herbst sollten sämtliche Schüler auf einer Versammlung über ihre Taten berichten. Wie würde er dastehen? Wenka blickte Lisunow an. Der war wieder mit seinem Brief beschäftigt. Beim Lesen zog er beide Brauen in die Höhe und schüttelte fassungslos den Kopf. Das Lächeln wich nicht von seinem Gesicht. Wenka seufzte, steckte den Dreirubelschein tiefer in die Tasche und wanderte den Hügel hinab. Er hatte die Hälfte des Weges zurückgelegt, als Lisunow rief: „Wenka, bleib gesund. Schönen Dank, Wenka!" Auf dem Pfad, der ins Gebirge führte, standen sieben Menschen. Sie winkten. Die abgekühlte Abendsonne sank müde der Hügelkette entgegen. Die Berge nahmen ein tieferes Blau an. Von den Inseln krochen lange Schatten aufs Wasser. Doch hinter dem Boot lag wie vordem der glitzernde Diamantenpfad. Nur die von den Riemen hinterlassenen Strudel gähnten darin als schwarze Trichter. Im Takt der Ruderschläge klang es über die still gewordene Bucht: „Zweitausendzweihundertfünf — zweitausendzweihundertsechs — zweitausend-zweihundertsieben..."  Wie ein Kompaß funktioniert Ende Mai trieb die letzte Eisscholle auf dem Fluß. Sie strahlte in blendendem Glanz wie der Frühling. Kerzengerade schoß das junge Gras empor. Die Zedern, die steinhart gefroren waren, tauten auf. Sogar das vom Treibeis niedergerissene Gesträuch am Ufer bekam junge Triebe und wurde wieder grün. Auf der Erde dampften die braunen Blätter des Vorjahres. In der Wärme rollten sie sich zu kleinen Röhren zusammen. Es dampften die silbrig bemoosten Stämme der Bäume, die herabgefallenen Nadeln. Die Luft war ein einziger wallender Brodem. Unter den Zweigen der Fichten standen die Sonnenstrahlenbündel wie bläuliche Säulen. Im Winter hat die Taiga hundert Wege. Man geht, wo es einem gefällt. Wenn der Frühling kommt, liegt Windbruch im dichten Gras. Fallen lauern allerorts. Fußangeln, über die der Wanderer stolpert. Die Wiesen haben sich in Sümpfe verwandelt, die Lichtungen in Seen. Ein Marsch durch die Taiga ist reich an Hindernissen und beschwerlich. Ein Junge kam aus dem Wald. Er stand auf einer sonnigen Lichtung, rückte mit einer Bewegung der Schultern den Rucksack zurecht und blickte kopfschüttelnd zurück. Unwillen spiegelte sich in seinem Gesicht. Er spie aus. „Willst du dort übernachten?" rief er. „Seeen-jaaa, ich kooo-me", ertönte es aus der Taiga zur Antwort. Hinter einem Baum kam ein zweiter Junge hervor, gleichfalls mit einem Rucksack auf dem Rücken, schmächtig wie Senja, der auf ihn wartete, jedoch um einige Jahre jünger. Er kniete nieder, ließ sich auf die Hände fallen, schnaufte.  „Heiß", ächzte er, lächelte aber. „Mal ist es dir zu warm, mal frierst du. Wir könnten längst zu Hause sein." „Man tut, was man kann", meinte der jüngere, ohne die unfreundliche Bemerkung des älteren übelzunehmen. „Aber ich bin kein D-Zug." Er berauschte sich an dem Vergleich und wiederholte: „Kein D-Zug." „Red nicht soviel", schimpfte sein Bruder Senja, „komm lieber." „Ist das eine Hitze", sagte der andere und stöhnte, „zum Umkommen." Er streifte den Kragen seiner wattierten Jacke zurück und reckte den Hals. „Bleib dort, bis du Wurzeln schlägst", sagte Senja und schritt weiter. Sein Bruder riß sich die Mütze vom Kopf. „Dann machen wir es eben so", schrie er. „Besser?" „Besser", knurrte Senja, ohne den Kopf zu wenden. — Sie wanderten bereits drei Stunden durch die Taiga. Im Rucksack schleppte jeder von ihnen acht Kilogramm Mehl. Die Last hatten sie gleichmäßig verteilt, aber ihre Kräfte waren unterschiedlich. Der jüngere wurde rasch müde und blieb wieder zurück. Die Verkaufsstelle auf dem Baugelände, wohin sie von der Mutter nach Mehl geschickt worden waren, hatte zwei Sorten angeboten: weißes und schneeweißes. Sie hatten das schneeweiße genommen und ihr gesamtes Geld ausgegeben. Hin waren sie mit dem Dampfer gefahren. Zurück mußten sie durch die Taiga laufen. Der Morgentau war noch nicht verdunstet. Aus jedem Tropfen strahlten kleine Sonnen. Dem jüngeren tat es leid, daß sie von den Grashalmen geschüttelt wurden und unter seinen Absätzen verschwanden. Des langen Schweigens überdrüssig, meinte er: „Senja, hoffentlich geht alles gut. Mutter hat gesagt, wir sollen Mehl zu dreißig nehmen." „Und wir haben fünfziger genommen, was ist dabei", erwiderte Senja. Der jüngere hob den Rucksack an. Er rannte einige Schritte, um den Bruder einzuholen. Auf dem nassen Laub rutschte er aus und fiel hin. Der Rucksag schlug ihm in den Rücken. Eine weiße Wolke stob in die Luft. Die Erde sah aus wie gepudert.  Der Junge lag still, drückte eine Gesichtshälfte ins Gras und beobachtete, wie die Mehlstäubchen sich auf die zitternden Tautropfen setzten, wie sie langsam dunkel wurden. Aufzustehen fehlte ihm die Kraft. Erst als der Bruder umkehrte, sprang der Kleine hoch. Er guckte an sich herab und schüttelte die Blätter von der Jacke. „Dich habe ich zum letztenmal mitgenommen. Verstanden?" Der Kleine prüfte schweigend nach, ob die Schnur am Rucksack noch fest saß, und trottete weiter hinter dem Bruder her. Eine Zeitlang war nichts zu hören als das Rascheln des Laubes und das Knacken der Zweige, die unter den Schuhsohlen zerbrachen. Allmählich glättete sich das Gesicht des jüngeren, die Sorgenfalten verschwanden. Ein Gedanke beschäftigte ihn. Er lächelte vor sich hin. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und fragte: „Senja, kannst du mir verraten, warum die Großen immer die Kleinen ausschimpfen? Weshalb ist das so? Sag mal." Senja antwortete nicht. Eine halbe Stunde später erklang es hinter seinem Rücken: „Seeen-jaaa, warte maaal!" Senja blieb stehen. Er hörte das Geräusch eiliger Schritte und hastige Atemzüge. Obwohl der Bruder offensichtlich das Letzte hergab, empfand er beim Anblick des krebsrot angelaufenen Jungen, der mit den Füßen immer wieder in dem langen Gras hängenblieb, nichts als Zorn. Er war selber erschöpft, wollte sich aber nichts anmerken lassen. Um seine eigene Schwäche zu verbergen, tat er besonders barsch. „Na los", knurrte er, „wird's bald! Oder bist du schon müde?" „Du hast es gut', keuchte der jüngere, „mit deinen Stiefeln. Du kannst lachen. In meinen Schuhen quietscht schon das Wasser. Hörst du es?" Aus seiner Stimme klang kein Groll. Die älteren schreien und kommandieren herum. So ist es nun mal, damit muß man sich abfinden. Der Mensch gewöhnt sich an alles. Senja warf einen Blick auf die nassen Schuhe des Bruders und betrachtete seine derben, gediegenen Lederstiefel. Zum erstenmal, seit sie die Baustelle verlassen hatten, wußte er nicht, was er sagen sollte. „Schön", meinte er nach einigem Grübeln, „zieh die Dinger aus. Wir machen uns ein Lagerfeuer." Wenige Minuten später saßen sie mit ausgestreckten Beinen vor den lodernden Flammen. Wieder suchte der Kleine eine Gelegenheit, mit dem Großen ins Gespräch zu kommen. „Senja", piepste er, „zu Hause wirst du etwas abkriegen. Wenn du nach Tabak riechst, sagt Mutter bestimmt: ,Hauche mich an.' Machst du das?" Senja, der an einer riesigen, ungeschickt gedrehten Zigarre lutschte, schüttelte unwillig den Kopf. Dabei verschluckte er sich am Rauch. „Meinetwegen kannst du ruhig qualmen", fuhr der Kleine eifrig fort, „ich verrate nichts. Aber sie wird es selber merken. Senja, stimmt es, daß im Faulgrund die Mücken Lakschejews Kuh aufgefressen haben?" „Hier gibt's auch genug von den Biestern", erwiderte Senja und stieß eine gewaltige Rauchwolke von sich, bemüht, genau in die Mitte des dichten Mücken-schwarms zu treffen. „Die Kuh haben sie völlig ausgesaugt. Nur die Hörner und das Fell sind übriggeblieben." „Die Knochen nicht?" „Doch, die wahrscheinlich auch. Allerdings hat sie keiner gesehen. Lakschejew selber ist nicht auf den Faulgrund gegangen. Er hat am Rand gestanden und rübergeguckt. Nun sagt er: ,In der Mitte liegen die Hörner.' Vielleicht waren es keine Hörner, sondern ein trockener Ast." „Das ist.auch möglich", gab der Kleine zu. „Jedenfalls ist er seine Kuh los."  „Auf den Faulgrund wagt sich jetzt keiner. Höchstens bei Sturm. Wenn es windstill ist, geht's einem wie Lakschejews Kuh. Es ist Mückenzeit." „Ja, die Mücken schlüpfen jetzt aus", bestätigte der Kleine. „Würdest du dich hintrauen?" „Ich schon, aber nicht mit dir", brauste Senja wütend auf. „Du lahmer Esel, du", fügte er giftig hinzu. Der Kleine ließ nicht locker. „Aber allein", fragte er, „allein würdest du hingehn?" „Nun halt endlich den Mund. Dein Gequassel regt mich auf", war die Antwort. Senja wollte nicht lügen, doch die Wahrheit zu gestehen, fehlte ihm der Mut. Der Juni ist Mückenmonat. Wenn man auf einen Fleck gerät, wo es schattig und feucht ist, steigt sofort ein dichtes, summendes Knäuel auf. So ist es in den Niederungen, im Sumpf, im Purpurweidengestrüpp am Fluß. Man kann sich ein Mückennetz über den Kopf stülpen, die Haut mit Salbe bestreichen, fast in die Flammen kriechen — es hat alles wenig Zweck. Unter den vielen Millionen Insekten, die einem um die Ohren schwirren, finden sich stets Tausende, die weder den beißenden Rauch, noch den Teergeruch der Salbe, noch die fuchtelnden Arme fürchten. Im Faulgrund gibt es so viele Mücken, daß zu dieser Jahreszeit sogar die Elche einen Bogen darum machen. „Nein, ich würde nicht hingehen", gestand der Kleine von sich aus, „nicht für Geld und gute Worte." Senja wurde ärgerlich. „Vielleicht wollen wir hier übernachten?" fauchte er. Das Gesprächsthema war eindeutig nicht nach seinem Geschmack. „Warte, gleich gehen wir", erwiderte der Kleine bereitwillig. „Die Schuhe sind von der Hitze ganz hart geworden, siehst du. Es ist schwer, reinzukommen. Aber schön warm sind sie", fügte er genießerisch hinzu, während sich seine Füße in die Schuhe zwängten, die unmittelbar neben dem Feuer gestanden hatten, „so müßten sie bleiben." Senja streifte die Tragriemen des Rucksacks über die Arme, stand auf und ging wortlos weiter. Nach einigen Schritten knickte er ein. Der Kleine freute sich. „Dich habe ich z Als er sah, wie sich das Gesicht des Bruders jäh veränderte, verstummte er. Er lief hinzu, zog den am Boden Liegenden an der Schulter und flüsterte: „Senja, was hast du?" Senja stützte sich mit den Händen und richtete den Oberkörper auf. Von seinem Gesicht wich die Verwunderung. Schreck und Schmerz spiegelten sich in seinen Augen. Langsam sank er vornüber, klammerte sich am Gras fest, das er mitsamt den Wurzeln aus dem Boden riß und an sich zog. „Senja", schrie der Kleine entsetzt, „Senja!" „Das Bein", stöhnte Senja. Er lag jetzt still. Nur die Hände schlossen und öffneten sich. Als der Kleine die Stimme des Großen hörte, beruhigte er sich ein wenig. „Klammere dich an", sagte er niederkniend und hielt dem Bruder eine Schulter hin. „Geh fort", stieß Senja zwischen den Zähnen hervor. Verzweifelt starrte der jüngere auf die hilflos vor ihm ausgestreckte Gestalt. Über die wirren Haare krabbelten Ameisen, geschäftig, als wäre nichts geschehen. Das Bein steckte in einem Bodenloch. Es war eigenartig zur Seite gekrümmt. Der Kleine merkte, daß etwas nicht stimmte, und rutschte dichter heran. Er fing an, das Gras herauszurupfen. „Geh fort", stöhnte Senja, von unerträglichem Schmerz übermannt. ,,Gleich, Senja, ich grabe nur dein Bein frei. Wenn ich fertig bin, marschieren wir weiter." Mit den Fingernägeln wühlte der Kleine in dem von Wurzeln verfilzten Boden, der unter der Oberfläche trocken und fest war. Als seine Hände an den Stiefel stießen, lief ein Zittern durch Senjas Körper, und er straffte sich. „Wird es jetzt gehen?" Senja wälzte sich auf den Rücken. Er versuchte, sich hinzusetzen. Jede Bewegung bereitete ihm unsagbare Schmerzen. „Ich kann nicht." Er stöhnte qualvoll. „Geh allein. Ob du es schaffst, Sascha? Hole Hilfe."  „Versuch's doch noch einmal, Senja. Ich kenne den Weg nicht." „Du Esel", schimpfte Senja. „Das Bein ist gebrochen." Dann wurde seine Stimme wieder ruhig. Mit vielen Pausen sagte er: „Ich habe — einen Kompaß — in der Tasche. Nimm ihn. Der Zeiger — hat eine rote Spitze. Siehst du?" „Ja, hier." „Lauf immer der Pfeilspitze nach, bis du an einen Fluß kommst. Dort schreist du laut um Hilfe. Auf der anderen Seite liegt Baikit. Nur mußt du immer auf die Richtung achten." Die kleine Kapsel mit der zitternden Nadel lag auf Saschas ausgestreckter Hand. Sascha hatte Angst. Im Vergleich zu dieser winzigen, unruhig pendelnden Nadel war alles riesenhaft: der Himmel, die Taiga, die Stille. „Lauf, Sascha", drängte Senja, „lauf. Du wirst es schon schaffen. Mußt dich nur nach der Kompaßnadel richten." Sascha tapste durch die Schneise, warf furchtsame Blicke nach allen Seiten. „Gib acht, daß du nicht abkommst", rief ihm Senja nach. Die Bäume neigten sich zueinander. Lange hallten die stampfenden Schritte nach. Im Rücken raschelte und knisterte es pausenlos. Die Geräusche breiteten sich nach allen Seiten aus, trafen auf die Stämme, wurden gebrochen zurückgeworfen. Die Taiga dehnte sich in geheimnisvoller Größe. Doch plötzlich schien alles in Bewegung zu geraten, schien sich zu wenden, zu drehen und pfeifend auf den Jungen loszustürmen. Das angespannte Gehör fing jedes Lispeln auf. Sascha begann zu rennen. Er wollte fort, weit fort, um die Geräusche, die von allen Seiten an seine Ohren drangen, nicht mehr hören zu müssen. Ein einziges Mal hielt er inne, um einen Blick auf den Kompaß zu werfen. Er fühlte, daß die Schultern schmerzten. Die Traggurte schnitten ins Fleisch. Plump flog der Rucksack gegen einen Baum. Dort war es trocken. Sascha lief weiter. Nach wenigen Schritten drehte er sich um. Sonnenlicht fiel durchs junge Laub, flutete von den bemoosten Hügelchen. In den hellen Strahlen war der Rucksack schwer zu erkennen. Den finde ich nachher nicht wieder, dachte Sascha, das schöne Mehl. Er rannte zurück und streifte die Gurte wieder über die Schultern. Endlich rückten die Bäume weiter auseinander. Über sich erblickte Sascha den Himmel. Weiter vorn lichtete sich der Wald. An seinem Saum flimmerte die warme Luft. Dahinter dehnte sich ein mit Erdhügeln bedeckter gelber Grund. Der Junge wandte den Blick nach links, nach rechts und sah, soweit das Auge reichte, nichts als diese ausgedehnte Fläche. Auf dem fettigen Wasser, das zwischen den Hügeln stand, lag trüber, lebloser Sonnenschein. Unbeweglich ragten mit schweren, schlaff herabhängenden Blättern die langen Halme des Sumpfgrases aus den Pfützen. Sascha stand vor dem Faulgrund. Er wußte es sofort, obwohl er nie zuvor hier gewesen war. Er erkannte ihn an der bleigrauen Tönung des Wassers, an dem leisen Summen, das, wie es hieß, im Juni stets über dem morastigen Boden schwebte. Die rote Spitze der Nadel wies direkt auf den Sumpf. Der Junge schüttelte den Kompaß. Unter dem Glas geriet die Nadel in Bewegung, tanzte schwankend nach links und rechts, bis sie in ihrer alten Lage erstarrte. Jetzt drehte Sascha das Gehäuse vorsichtig. Er hoffte noch immer, die rote Spitze aus der verhängnisvollen Richtung abzulenken. Vielleicht hatte sich die Nadel verklemmt. Wie sollte er, ein achtjähriger Junge, durch den Faulgrund laufen, wo die Hörner dieser blödsinnigen Kuh lagen? Aber sosehr er sich anstrengte — die Nadel ließ sich nicht überlisten, sie zeigte unentwegt in die gleiche Richtung. Sascha sah sich vor die Wahl gestellt, dem Kompaß zu folgen oder seinen Bruder Senja hilflos in der Taiga liegen zu lassen. Er entschied sich für das erste. Der Boden war weich, federte wie eine Matratze. Bis zu den Knien versank der Junge im Wasser. Neben den Beinen glucksten kleine, flüchtige Blasen an die Oberfläche. Der Sumpf seufzte, sog die Schuhe an sich und gab sie nur widerwillig frei. Jeder Schritt wurde zur Qual. Als der Boden endlich fester wurde, ging Sascha schneller. Unablässig vernahm er dieses leise Summen, das eintönig über dem Sumpf schwebte und von dem man nicht wußte, ob es aus den Wolken oder aus der Erde drang. Dick wie Kartoffelschalen legte sich etwas um die Handgelenke. Das stach und schmerzte fürchterlich. Sascha wußte anfangs nicht, daß es Mücken waren. Sie saßen in dichten, dunklen Trauben, hingen auch an den Sachen und lechzten nach einem Stückchen bloßer Haut. Der Junge begann zu rennen. Eine graue Wolke schwebte über seinem Kopf, summend und unruhig durcheinanderwogend. Sie folgte ihm erbarmungslos auf Schritt und Tritt. Dann war der feste Streifen zu Ende. Die Beine versanken wieder im Morast. Der Körper hatte zuviel Schwung. Sascha fiel der Länge nach hin. Butterweich waren die Erdhäufchen unter ihm. Sie gaben bereitwillig nach. Etwas Kaltes heftete sich an die Fersen. Sascha riß und zerrte. Ringsum geriet der glucksende, breiige Boden ins Schwanken. Der Sumpf hatte ein Opfer gefunden und wollte es nicht wieder hergeben. Der Junge begann zu weinen. Er dachte an nichts mehr. Die Müdigkeit hatte ihn bezwungen. Er ließ sich umsinken. Tränen rannen ihm die Wangen herab. In hungrigen Scharen fielen die Insekten über ihn her, lagen gleich einem dichtgewebten Tuch auf seinem Gesicht. Er spürte schon keinen Schmerz mehr, strich nur mechanisch mit der Hand über die Haut. Wie klebriger, kalter Brei fielen die zerquetschten Mücken ins Wasser. An ihre Stelle traten andere, stürzten sich gierig auf frei gewordene Stellen. Sascha stemmte die Fäuste gegen den glitschigen Boden, der ihn widerstrebend, zentimeterweise losließ. Als die Füße aus dem Schlick gezogen waren, kroch er ein Stück auf allen vieren. Dann richtete er sich hoch. Die Traggurte schnitten in die Wattejacke, aber der Rucksack hatte sein Gewicht verloren. Er schien ein Teil der wassertriefenden, am Körper klebenden Kleidung geworden zu sein. Der Junge öffnete die Fäuste. Grasbüschel fielen heraus. Der Kompaß war verschwunden. Da kamen wieder die Tränen. Sie trübten ihm die Sicht. Er rieb die Augen und durchwühlte auf dem Bauch den schlammigen Grund unter dem Wasser. Vor seinem Gesicht stiegen Blasen auf. Die Grashalme, die sich zu ihm herabneigten, erschienen ihm groß wie Bäume. Sie verdeckten den Horizont und die Sonne. Jetzt sah er, daß die Stengel an den Rändern schartig waren. Der Junge kam sich winzig klein vor. Er wünschte, eine Ameise zu sein, um an den Halmen hochkriechen zu können und das ekelhafte Wasser nicht mehr zu spüren. Als er den Kompaß endlich gefunden hatte, kostete es Mühe, wieder auf die Beine zu kommen. Die Glasscheibe war von lehmigem Wasser bedeckt. Unverändert zeigte die rote Pfeilspitze in die gleiche Richtung. Der Junge stapfte weiter, taumelnd, unsagbar müde. Wenn er über einen Erdhügel stolperte, spritzte der Morast. Nach einer Weile hörte es unter den Schuhsohlen zu schmatzen auf. Ein dorniger Zweig streifte seine Wange. Es war angenehm, ein wohltuendes Kratzen auf der juckenden Haut. Er schritt durch biegsames Gestrüpp und merkte nicht, daß es die Sträucher am Ufer waren. Sein gedunsenes Gesicht mit der straffgespannten Haut glich einem Klumpen Hefeteig. Von den unzähligen Mückenstichen waren die Augen zugeschwollen. Er sah so gut wie nichts mehr. Die sandige Stelle, auf die er sich setzte, befand sich in unmittelbarer Nähe des Flusses. Er hörte eine Sirene und das Rauschen von Wasser. Ein Raddampfer fuhr stromauf. Radiomusik klang herüber, das Stampfen der Maschine, Männerstimmen. Jedes Wort war deutlich zu vernehmen. ,,In Krasnojarsk nehmen wir ein Flugzeug", brummte selbstsicher ein Baß. „Von dort geht's weiter nach Sotschi. Palmen, eine Wassertemperatur von neunundzwanzig Grad, Mandarinen frisch vom Baum. Können Sie sich das vorstellen?" Mit den Fingern schob der Junge die Lider hoch. Er sah den Dampfer. An der Reling standen zwei Männer und blickten sich an. „Heee, Onkel!" rief Sascha. „Nein, für Mandarinen ist es noch zu früh", erwiderte der andere, „die sind erst im Oktober reif." „Heee, haaalt!" schrie der Junge und fuchtelte eifrig mit den Armen. Diesmal hörten sie ihn. Die Männer drehten sich um. Einer winkte zurück. Zischend spritzte eine Welle ans Ufer. Bald war der Dampfer hinter einer Flußbiegung verschwunden. Große Feuerbälle hüpften vor Saschas Augen. Alles, was er an diesem Tage erlebt hatte, war wie jahrealte Erinnerungen. Er spürte eine bleierne Schwere in den Gliedern, legte das Gesicht auf den feuchten Sand und dachte müde: Senja ist sicher schon tot. Senja ist tot, Senja ist tot, klopfte das Blut in den Schläfen. Als Sascha den Sinn dieser drei Worte völlig erfaßte, sprang er auf die Füße — das heißt, so schien es ihm: In Wahrheit rappelte er sich mühsam in die Höhe. Es bereitete ihm Mühe, die Jacke aufzuknöpfen und mit dem Rucksack zusammen nach hinten auf den Sand fallen zu lassen. Die Hose legte er über den Rucksack, in dem das Mehl feucht geworden war. Als er sich ausgezogen hatte und ins Wasser tastete, kam ein mit durchnäßtem Heu beladenes Boot um die Sträucher gefahren. Die beiden Frauen, die darinsaßen, ruderten mühelos mit der Strömung. Verwundert sahen sie dem Jungen zu. Er stand bis zum Gürtel im Wasser, beugte den Oberkörper nach vorn, plantschte, ging weiter. Dann begann er zu paddeln, ungelenk, mit den Bewegungen eines Kindes. Sein Kopf fuhr hin und her. Die rechte Hand war geöffnet, die linke zur Faust geballt. „He, du Wasserratte, nicht so zapplig!" riefen die Frauen. Sascha hob das Gesicht. Die Frauen sahen, daß seine Augen zugeschwollen waren. Als sie ihn ins Boot gezogen hatten, öffnete sich seine linke Hand, und der einen Frau fiel ein schwarzer Kompaß aufs Knie. Am Abend lag Senja bereits im Krankenhaus. Sascha erblickte erst zwei Tage später die Sonne wieder. „Warum mußtest du auch durch den Sumpf waten?" fragten ihn die Leute. „Konntest du nicht herumgehen?" Er erwiderte: „Senja hat gesagt, daß ich die Richtung nicht verlieren darf." „Aber daß du schwimmen wolltest! Der Fluß ist dort einen Kilometer breit, stellenweise noch mehr. Wenn du nun ertrunken wärst?"  Sascha runzelte unwillig die Stirn. „Senja hatte gesagt, daß ich die Richtung nicht verlieren darf", wiederholte er ungehalten. „Ich hatte einen Kompaß, und die Nadel zeigte immer geradeaus. Was kann ich dafür, daß ein Kompaß so funktioniert."  Mein Freund Stjopka Es war letzten Sonnabend in der Erdkundestunde, als Stjopka Chokkanen eine Vier bekam. Ich sage: Schuld daran war nur sein loses Mundwerk. Es heißt, die Finnen sind ein schweigsames Volk. Nun, Stjopka ist Finne, aber mit dem Mund immer voraus. Deswegen sind wir Freunde. Wunderbar, daß er nie um eine Antwort verlegen ist, selbst wenn er sie sich aus den Fingern saugen muß. Was Stjopka an mir gefällt, ist meine zurückhaltende Art. Wenn ich schweige oder nur zustimmend murmele, hat er freie Bahn. Dann kann man etwas erleben, denn wie gesagt: Auf den Mund gefallen ist er gerade nicht. Ich werde seit jeher für meine Bescheidenheit gelobt. Früher fand ich das schön. Im Laufe der Zeit entwickelte ich mich zu einem so bescheidenen Menschen, daß es mir selbst zuwider ist. Manchmal überkommt mich die Sehnsucht nach etwas anderem. Dann spinne ich eine Geschichte zurecht, freilich nur für mich. Nicht selten haben meine Gedanken Format und könnten es mit denen von Chokkanen aufnehmen. Aber in seiner Gegenwart leide ich unter Hemmungen. Daher bleibe ich meistens stumm wie ein Fisch. Was mir an meinem Freund noch gefällt, ist, daß er auf Bestellung fuchsteufelswild wird. Das ist eine ganz besondere Gabe. Wenn wir aus der Schule nach Hause gehen und unterwegs von den Kindern der Touristenstation belästigt werden, läuft er krebsrot an, auf seinem Hals schwillt die Ader. Dann fällt seine Büchertasche in den Schmutz, und mit geballten Fäusten geht er auf die Frechdachse los. Die nehmen schleunigst Reißaus, obwohl es eine Kleinigkeit wäre, Stjopka in diesem Zustand k. o. zu schlagen. Während er wie rasend mit den Armen fuchtelt, macht er nämlich die Augen zu. Unsere Freundschaft begann rein zufällig. Wir waren benachbart und lernten uns kennen, das war unvermeidlich. Bald fanden wir Gefallen aneinander. Wir schworen Freundschaft fürs Leben, um Freud und Leid in Zukunft redlich miteinander zu teilen. Als Stjopka kurze Zeit danach sieben schmiedeeiserne Haken auftrieb, behielt er drei für sich, drei schenkte er mir, den letzten warf er in einen Brunnen. Darauf brauchten wir einen ganzen Tag, um den Haken mit Hilfe eines Magneten wieder aus dem Wasser zu fischen, damit er keinem in den Eimer geriet. Als im Frühjahr Vaters Bekannter, ein Jäger, zu uns kam und bei der Abreise eine halbe Schachtel Patronen liegenließ, lief ich zu Stjopka. Er stibitzte von seinem Vater eine Flinte. Wir gingen ziemlich tief in den Wald, warfen abwechselnd unsere Mützen in die Luft und schossen danach. Stjopka erwies sich als der bessere Schütze. Er traf seine Mütze, ich verfehlte mein Ziel. Das war der Grund, weshalb er zu Hause eine Tracht Prügel bezog und ich nicht. Eine Woche lang sprach er kein Wort mit mir. Ich beneide ihn. Erstens schießt er besser als ich. Zweitens ist eine Tracht Prügel sehr schnell vergessen, und hinterher tut man den Eltern noch leid. Mich bemitleidet keiner. Wenn meine Eltern mich erziehen wollen, führen sie immer Beispiele aus ihrem tugendreichen Leben an. Sie müssen die reinsten Engel gewesen sein. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich ihre ewige Litanei anödet. Wenn sie mir eine Predigt halten, fange ich zu husten an, so raffiniert, daß den Trick niemand merkt. Aber das ist nur Wasser auf ihre Mühle. Gleich fallen sie über mich her: ,,Du mußt auch immer ohne Mütze rumlaufen. Da siehst du, wohin das führt. Die Schwindsucht wirst du dir noch holen. Wenn du endlich einsehen würdest, daß wir nur dein Bestes wollen." Meine Meinung hierzu ist: Falls man einem Menschen wirklich gut will, sollte man nicht soviel Aufhebens machen, denn wenn jemand immer wieder dasselbe zu hören kriegt, gewöhnt er sich daran, und das ganze Geschrei ist für die Katz. Einmal riß mir die Geduld, und ich platzte heraus: „Erstens nicht die Schwindsucht, sondern höchstens Tuberkulose, und zweitens wird Tbc heutzutage mit Penicillin geheilt. Das ist überhaupt kein Problem mehr." Nun hatte ich mir erst recht den Mund verbrannt und mußte mir eine Stunde lang anhören, was für ein ungehobelter Klotz ich geworden, was eigentlich in mich gefahren sei, früher wäre ich doch die Bescheidenheit in Person gewesen und so weiter. Dieses Gerede über Bescheidenheit hing mir zum Halse raus. Es war das Schlimmste, was sie mir antun konnten. In meinen Augen ist Bescheidenheit ein viel ärgeres Übel als Tuberkulose. Stjopka ist ein wahres Wunder an Unbescheidenheit. Er tut, was er sich in den Kopf setzt. Kürzlich hat er den Einfall gehabt, sich in Nina Poljanskaja zu verlieben, und es ist ihm gelungen. Die Klasse ist im Bilde, denn seither läßt Stjopka keine Pause verstreichen, ohne das Mädchen zu puffen und zu knuffen. Nina aber hat sich ihrerseits in Stjopka verliebt. „Chokkanen", schilt sie ihn aus, „du Esel, laß das sein." Im Grunde genommen hat sie jedoch gar nichts dagegen. Unsere ganze Klasse beneidet die beiden. Letzten Sonnabend erwischte Stjopka eine Vier. Er wollte mir einreden, diese schlechte Zensur hätte er wegen der Poljanskaja einstecken müssen. Ich glaube das nicht, sondern bleibe dabei: Schuld hat sein loses Mundwerk. Gekommen ist es so. Anna Naumowna fragte Stjopka nach der Beschaffenheit der Atmosphäre. Er erklärte, daß die Luft unten dicker und oben dünner sei. Die Namen der Luftschichten hatte er vergessen. Anna Naumowna stellte ihm Hilfsfragen. Stjopka wußte indessen, daß ihm nichts mehr einfallen würde. Da versuchte er wie gewöhnlich zu flunkern und der Lehrerin ein X für ein U vorzumachen. Sie fragte nach den Luftschichten, er aber phantasierte: „Jawohl, Anna Naumowna, in der oberen Schicht ist das Atmen völlig unmöglich. Wie ich gelesen habe, flog neulich ein Adler zu hoch. Er verirrte sich in den luftarmen Raum und ist dort elend zugrunde gegangen." Die Geschichte hatte er natürlich frei erfunden. „Chokkanen, hast du meine Frage verstanden?" wies ihn die Lehrerin zurecht. „Gib gefälligst eine exakte und deutliche Antwort. Also noch einmal. In welche Schichten gliedert sich die Erdatmosphäre? Nun? In die Tropo..." „Jawohl, Anna Naumowna, wenn in einem Düsenflugzeug die Kabine platzt, wird der Pilot von einer Luftwelle erdrückt. Das ist es ja eben. Unten haben wir sehr dicke Luft." Jetzt wurde Anna Naumowna böse. „Schäme dich, Chokkanen, diese wichtigen Dinge nicht zu beherrschen. Selbst wenn du im Lehrbuch nicht nachgelesen hast, mußt du doch wissen, worin sich heutzutage, im Zeitalter der Sputniks, jedes kleine Kind auskennt. Oder liest du etwa auch keine Zeitschriften?" „Im Zeitalter der Sputniks" ist ein Lieblingsausdruck von Anna Naumowna. Als der erste Satellit gestartet wurde, kam sie, eine Zeitung schwenkend, in die Klasse gestürmt, las die ganze Stunde daraus vor und erklärte die Arbeitsweise der Geräte, mit denen der Satellit ausgerüstet war. Unser Land hatte als erstes einen Sputnik gestartet, außerdem gab es in der Stunde keine Leistungskontrolle. Es war ein doppelter Grund zur Freude. Seit damals heißt es bei Anna Naumowna stets „im Zeitalter der Sputniks", sooft sie sich über uns ärgert. Als Stjopka diesen gefürchteten Satz vernahm, wußte er, daß die Sache für ihn nicht besonders gut stand. Er machte sich auf eine Drei gefaßt. Zu allem Überfluß malte Poljanskaja eine Fratze mit einer lang herausgesteckten Zunge auf ihr Löschblatt und rückte verstohlen zur Seite, damit Stjopka es unmöglich übersehen konnte. Von jedem anderen Schüler hätte er diesen kleinen Ulk gelassen hingenommen. Daß aber Nina ihren Schabernack mit ihm trieb, brachte ihn auf. Vor Empörung wackelte er sogar mit den Ohren. Da er nicht wußte, wie er dem Mädchen die Frechheit im Augenblick anders heimzahlen sollte, rächte er sich durch seine Antwort an die Lehrerin: „Doch, Anna Naumowna, Zeitschriften lese ich gern. Neulich stand in einem Artikel, an unserer Schule gibt es alle möglichen Arten von schwachsinnigen Künstlern." Anna Naumowna errötete. „Wie meinst du das, Chokkanen?" Stjopka fürchtete, sie könnte die Bemerkung auf sich beziehen, und beeilte sich zu erklären: „Sie sind nicht gemeint, Anna Naumowna. Ehrenwort, an Sie habe ich nicht gedacht." Das machte alles noch schlimmer. „Setz dich, Chokkanen. Für dein Wissen bekommst du eine Drei, für dein Verhalten eine Fünf. Im Mittel ergibt das die Note Vier. Nach dem Unterricht bleibst du hier. Ich habe mit dir zu reden." Als die letzte Stunde um war, leistete ich ihm Gesellschaft. Wir warteten auf dem Flur, bis Anna Naumowna kam. „Chokkanen", sagte sie, „weshalb kannst du deine Zunge nicht im Zaum halten? Wenn man dir eine Frage stellt, faselst du wer weiß was für ungereimtes Zeug. Was soll dieser Unsinn von Adlern, Piloten und Künstlern?" „Na, wenn die immer..." „Wer ist ,die'?" „Eben die. Sie waren nicht gemeint, Anna Naumowna, Ehrenwort." „Deine Geheimnisse kannst du für dich behalten", entgegnete die Lehrerin. „Mir geht es nur darum, daß du dich zu einem klugen und gebildeten Menschen entwickelst. Morgen wirst du in die Schule kommen und so lange mit mir arbeiten, bis du das gesamte Wochenpensum beherrschst." „Morgen ist Sonntag." „Denkst du, mir macht es Spaß, mich auch noch an Feiertagen mit dir herumzuplagen, Chokkanen? Ich habe Familie, zwei Kinder, das weißt du selbst. Aber was sein muß, muß sein." „Das ist wahr", gab Stjopka zu, „was sein muß, muß sein. Im Zeitalter der Sputniks gehen wir sogar sonntags in die Schule." Ich stand neben ihm und ärgerte mich nicht minder als er. Für morgen hatten wir uns eine Tour nach dem Steinbruch vorgenommen. Wir wollten beim Granitsprengen zusehen. Daraus wurde nun nichts. Trotzdem hätte sich Stjopka den letzten Satz sparen sollen. Es war eine Unverschämtheit. Anna Naumowna ging kopfschüttelnd davon. „Die wird mich noch kennenlernen", sagte Stjopka. „Gib nicht an, Stjopka. Was willst du denn machen." „Ich meine nicht Anna Naumowna. Nina." „In die bist du doch verliebt." „Seit zwei Stunden hasse ich sie", knurrte Stjopka. Auf unserem Heimweg grübelte ich immerfort darüber nach, wie ich ihm klarmachen konnte, daß es besser gewesen wäre, sich diese Bemerkung mit dem „Zeitalter der Sputniks" zu verkneifen. Stjopka aber hatte die Ungezogenheit bereits vergessen. Das ist bei ihm immer so. Unangenehmes vergißt er schnell und bildet sich ein, daß alle anderen auch nicht mehr daran denken. Sonntag morgen holte ich Stjopka ab. Es bestand für mich keine Notwendigkeit, mit in die Schule zu gehen. Da ich zu Hause jedoch nichts anzufangen wußte, begleitete ich ihn. Bis zu unserer Schule ist es nicht weit. Wenn man sich anstrengt, kann man es in fünf Minuten schaffen. Stjopka überredete mich jedoch, einen Umweg durch den Wald zu machen, am Marmorsee vorbei bis zur Bahnlinie, und von dort ist es nur ein Katzensprung. Zur Begründung seines Vorschlags führte er an, ein wenig frische Luft tue ihm gut, nach einem Spaziergang arbeite sein Kopf immer viel besser. Außerdem wolle er den gesamten Stoff noch einmal laut wiederholen. Im Wald lag hoher Schnee. Als wir uns zu einem Pfad durcharbeiteten, drang er in die Filzstiefel. Natürlich dachte Stjopka nicht daran, auch nur einen Satz zu wiederholen. Er lief voraus und hatte weiter nichts im Kopf, als heimlich die Zweige zu schütteln, damit ich die Schneedusche abkriegte. Als ihm das zu langweilig wurde, jaulte er ein Lied, das er im Radio gehört hatte: „Der Ring mein's Feinsliebchens sank auf den Meeresgrund..." Er kannte nur eine Zeile. Die wiederholte er mit unermüdlichem Eifer. „Feinsliebchen" hatte es ihm besonders angetan. Jedesmal, wenn er an diese Stelle gelangte, glitt ein Lächeln über sein Gesicht. Ich meinte, er sollte endlich ans Lernen denken, das könnte nicht schaden. Aber wenn Stjopka vom Feinsliebchen singt, ist mit ihm nichts anzufangen. Später hob er die Nase in die Luft und staunte. „Ist die Atmosphäre aber blau! Wie kommt das eigentlich, Mischa?" Am Marmorsee saß auf einer kleinen Halbinsel ein Angler. Jeden Sonntag kommen Leute aus der Stadt zu uns auf die Karelische Landzunge, um hier zu angeln, aber wir haben noch nie erlebt, daß jemand im Marmosee etwas gefangen hätte außer Krebsen. „Beißen sie?" erkundigte sich Stjopka höhnisch. Der Angler zeigte sich hocherfreut über die Frage. Wahrscheinlich ging ihm die Einsamkeit auf die Nerven. „Und wie", erwiderte er, „vorhin war es ein Vergnügen." Er klopfte auf den Rucksack. „Drei Kilo werden schwerlich reichen, lauter kleine Dinger. Auf einmal klappt es nicht mehr. Es ist wie verhext." Wir konnten uns das Lachen kaum verbeißen, denn im Marmorsee gibt es keinen Stichling, das wußten wir genau. Dazu ist das Wasser viel zu faulig. Stjopka meinte mit einem Blick auf den Rucksack, das sei kein Wunder, hier wimmle es ja bekanntlich nur so von Spiegelkarpfen. Auf diese frohe Kunde antwortete der Mann mit einem Seufzer. „Nein, Karpfen habe ich noch nicht gefangen", flüsterte er, „nur Barsche." Wir gingen weiter. Er blieb sitzen und harrte gespannt auf den ersten Spiegelkarpfen. Uns sollte es recht sein. Angler haben alle einen kleinen Vogel. Sie hocken von früh bis spät an der gleichen Stelle und warten verbissen auf ein Wunder. Die Hoffnung ist ihr großer Tröster. Stjopka und meine Wenigkeit waren kaum zwischen den Bäumen untergetaucht, als wir einen Schuß hörten. Gleich darauf schrie jemand aus Leibeskräften: „Halte ihn, halte ihn, er entkommt!" „Spaßvogel", sagte Stjopka. „Den soll ich wohl mit bloßen Händen fangen?" Er dachte, es wäre ein Hase. Gleich darauf krachte es zu unserer Rechten im Unterholz. Ein Elch trat heraus, sah uns stehen und wendete sich zur Seite. Wir waren nicht weniger erschrocken als er. Seine Augen hatten wild gefunkelt. Offenbar war es ein böser Elch, oder er hatte einfach Angst. Wenige Augenblicke später sprangen zwei Männer aus den Büschen, ihren umgeschlagenen Filzstiefeln und dem sonstigen Aufzug nach zu urteilen Sonntagsjäger. Sie erhoben ein Geschrei, daß man meinen konnte, sie hätten zu tief ins Glas geguckt. Mit leichten Sprüngen jagte der Elch durchs Gebüsch. Seine Beine schienen den Boden nicht zu berühren. Es sah aus, als schwebte er darüber hin. Die Sonntagsjäger nahmen ihn zu gleicher Zeit aufs Korn. Hart knallten die Schüsse. Der Elch stürzte, setzte sich auf die Hinterbeine, wühlte die Schaufeln in den Schnee, der sich unter seinem Bauch rot färbte. Aber er atmete noch. „Sergej Sergejewitsch", brüllten die beiden, die sich wie Betrunkene benahmen, „hierher! Er ist fertig." Wir hörten, daß noch jemand durch die Büsche keuchte, und sahen, wie die Zweige auseinandergebogen wurden. Auch der dritte fluchte, als er auf die Lichtung trag. „Wo ist er? Ach dort. Herrlich. Laßt sein. Ich gebe ihm selber den Gnadenschuß." Er setzte den Flintenkolben in die Schulter, zielte und zog beide Bügel durch. Der Elch richtete sich auf, warf den Kopf zurück, sank zusammen. Er lag still. Dann sagte dieser Sergej Sergejewitsch: „Tretet näher. Ich werde euch verewigen." Die Sonntagsjäger gingen zu dem Elch und setzten ihm einen Fuß auf den Rücken. Die Flinten hielten sie so, als wollten sie einen Bajonettangriff unternehmen. Sergej Sergejewitsch zückte seinen Fotoapparat. Als die beiden anderen aufgenommen waren, meinte er: „Jetzt bin ich dran." Ich stand dabei und hatte schreckliches Mitleid mit dem toten Tier. Es tat mir leid wie ein Mensch. In unserer Gegend haben sich die Elche stark vermehrt, und zutraulich sind sie, kommen bis vor die Häuser. Stjopka und ich haben im Geschäft Salz gekauft. Das mögen sie sehr. „Komm", sagte Stjopka, er zupfte mich am Ärmel, „das sehen wir uns aus der Nähe an." Dazu hatte ich keine Lust. Ich wollte den toten Elch nicht sehen. Stjopka drängte mich jedoch so lange, bis ich mitging. Wir wünschten einen guten Morgen. „Guten Morgen, wenn ihr anständige Leute seid", entgegnete Sergej Sergejewitsch. „Wo brennt's denn?" „Wir wollen uns den toten Elch ansehen", erklärte Stjopka. „Nur ihr zwei?" fragte Sergej Sergejewitsch und schaute sich nach allen Seiten um. „Oder kommt noch jemand?" „Nein, wir sind allein." Mein Blick fiel auf den Elch. Mein Mitleid wuchs noch. Seine Augen standen weit offen. Darin spiegelten sich die Bäume, der Himmel, ich. Nur war alles viel kleiner als in Wirklichkeit. Ich sah schnell wieder weg. „Das wär's", brummte Sergej Sergejewitsch. „Jetzt habt ihr lange genug geglotzt. Schert euch weiter." „Warum?" wunderte sich Stjopka. „Haben Sie den Wald gemietet?" „Darüber brauche ich dir keine Rechenschaft abzulegen. Vorwärts, verpeste hier nicht die Atmosphäre." Als Sergej Sergejewitsch das sagte, bekam Stjopka runde Augen. „Seit wann haben Sie mir Vorschriften zu machen?" fragte er heiser. „Verschwindet endlich", fauchte Sergej Sergejewitsch und sah sich unverwandt um, „sonst mache ich euch Beine."  Stjopka trat ein paar Schritte zurück. Dann schrie er: „Sagen Sie mal, Sie, haben Sie eigentlich einen Jagdschein?" Die drei Sonntagsjäger traten nervös von einem Bein aufs andere, und einer raunte: „Gehen wir erst mal, Sergej Sergejewitsch. Wir haben bis zum Abend Zeit." „Zeigen Sie Ihren Jagdschein her, sonst hole ich meinen Vater!" schrie Stjopka. Sergej Sergejewitsch stürzte sich auf ihn. Stjopka sprang zur Seite. Als er sich in Sicherheit gebracht hatte, schimpfte er weiter: „Aha, so ist das, ihr habt gar keine Jagderlaubnis. Na wartet, das sage ich meinem Vater." Schließlich klemmten alle drei die Flinten unter den Arm und suchten das Weite. Nun war es sicher, daß sie keine Erlaubnis hatten. Wilddiebe waren sie, gemeine Spitzbuben, weiter nichts. Stjopka kam ganz dicht heran und flüsterte mir ins Ohr: „Los, Mischa, hinterher." „Wozu? Allein werden wir mit denen nicht fertig." „Irgendwo müssen sie hingehen. Oder denkst du, sie übernachten im Wald? Wir rufen Leute und halten sie fest. Es sind doch Wilddiebe." Die Spitzbuben traten auf den Pfad. Sie blickten sich nach uns um. Stjopka lief etwa fünfzig Meter in die entgegengesetzte Richtung und brüllte aus Leibeskräften: „Das willkürliche Töten eines Elches wird mit Zwangsarbeit bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe in Höhe von fünfhundert Rubel geahndet." Stjopkas Vater ist Jäger. In seinem Haus hängen Tafeln mit den Jagdgesetzen. Stjopka kennt sie auswendig. Die Wilddiebe hatten es plötzlich sehr eilig. Ich mußte lachen. Das waren erwachsene Männer, und sie liefen vor uns davon. Als Stjopka aber nicht aufhörte, einen Paragraphen nach dem anderen hinter ihnen herzuschreien, wurde es Sergej Sergejewitsch schließlich zu bunt. Er machte kurzentschlossen kehrt und rannte auf uns zu. Stjopka ergriff das Hasenpanier. Ich blieb verwirrt stehen. Sergej Sergejewitsch war krebsrot im Gesicht. Er stampfte mit den Stiefeln auf wie ein Stier. Offenbar ging es ihm jedoch nur darum, Stjopka das Fell zu gerben. Von mir nahm er keine Notiz. Das fand ich kränkend. „Wilddieb", flüsterte ich ihm nach, so leise, daß ich es selber kaum hörte. Stjopka rannte eine Weile auf dem Pfad weiter, bog dann in den Wald ein und stapfte durch den hohen Schnee. Sergej Sergejewitsch immer hinterher, bis er sich in seinem Pelzmantel verfing. Zum Schluß standen sie sich in einem Abstand von zwanzig Metern gegenüber. Sergej Sergejewitsch fluchte. „Vater", brüllte Stjopka wie am Spieß, „hierher!" Sergej Sergejewitsch erkannte, daß er gegen den Jungen nichts ausrichten konnte. Er wich zurück. Stjopka folgte ihm. Sergej Sergejewitsch spuckte aus und rannte los. Stjopka blieb ihm auf den Fersen. „ Du räudiger Wilddieb", schallte es durch den Wald, „lauf nur, mir entkommst du nicht. Personen, die sich des Verstoßes gegen die oben angeführten Verbote schuldig machen, werden gerichtlich zur Verantwortung gezogen." Immer mutiger wurde Stjopka, immer näher rückte er an die Wilddiebe heran, die wie ein scheuendes Pferdegespann durch das Unterholz jagten. Als den dreien schon die Sachen am Leibe dampften, kamen wir auf einer unbekannten Straße heraus. „Gleich nageln wir sie fest", sagte Stjopka. „Hier fahren bestimmt Autos." Die Wilderer schwenkten auf die rechte Seite ab, und wir erblickten einen blauen Pobeda, der am Straßenrand parkte. Im Nu saßen sie alle drin. Der Schlag klappte zu, die Räder drehten sich. Es war so schnell gegangen, daß wir nicht einmal die Nummer erkannt hatten. Wie begossene Pudel standen wir auf der Straße.' „Warum hast du ihnen auch solche Angst eingejagt", meinte ich vorwurfsvoll zu Stjopka. „Von den Gerichten hättest du nicht auch noch anzufangen brauchen. Es wäre viel vernünftiger gewesen, sie still und heimlich zu verfolgen. Dann hätten wir jetzt wenigstens die Nummer." „Ich wollte ihnen keine Angst machen, sie nur ein bißchen ärgern. Konnte ich ahnen, daß sie solche Angsthasen sind?"  Wir hörten Motorengeräusch und fuhren herum. Vor uns stand ein Lastwagen. Der Fahrer reckte den Oberkörper durchs Fenster. Er drohte mit der Faust. „Ihr wißt wohl nicht, daß die Straße rutschig ist! Wegen euch Parasiten landet man noch im Gefängnis." Ich sah, daß Stjopkas Blick unruhig hin und her hüpfte, ein Zeichen dafür, daß er scharf nachdachte. „Genosse Schofför", rief er, „das war keine böse Absicht. Wir tippeln gerade ins Krankenhaus zum Bruder. Wenn Sie uns bis Priosersk mitnehmen könnten?"  „Zu welchem Bruder?" wollte der Fahrer wissen.  „Zu meinem", erwiderte Stjopka. „Sie haben ihm den Bauch aufgeschnitten."  Der Fahrer schwieg eine Weile. Dann fragte er: „Wie alt ist er?"„Fünf." „Sind das Geschichten. So ein kleiner Kerl und muß schon operiert werden. Los, steigt ein."  Wir setzten uns neben ihn. Als wir einige Meter gefahren waren, fragte der Schofför: „Und was sagen die Ärzte? Wird er durchkommen?" „Er ist nicht mehr", antwortete Stjopka. „Dann fahrt ihr wohl zum Begräbnis?" „Nein. Ich habe überhaupt keinen Bruder." Der Fahrer bremste so scharf, daß der Wagen ins Schleudern geriet. „Raus mit euch! Lausebengel."  „Genosse Schofför", flehte Stjopka, „ich meine es ehrlich und hätte bestimmt nicht geschwindelt. Aber wenn wir die Wahrheit sagen, wird uns ja immer nicht geglaubt. Wir müssen wirklich ganz schnell zur Miliz." „Und dann wohl zur Schwester?" fragte der Schofför. „Nein, das mit der Miliz ist wahr. Ehrenwort." Stjopka erzählte ihm, wie sich alles zugetragen hatte. Danach sagte der Schofför: „Mußtest du erst schwindeln?? Wenn du ehrlich gewesen wärst, hätte ich euch auch mitgenommen." „Nein, nein", entgegnete Stjopka, „das weiß ich besser. Es muß schon jemand tot sein oder im Sterben liegen, sonst ist man verraten und verkauft." Der Fahrer lachte und startete erneut. Er konnte sich nicht wieder beruhigen. Um ein Haar wäre ihm eine Kuh unter die Räder geraten. Er brachte uns bis zur Miliz, ging sogar mit uns hinein. Der diensthabende Offizier war ein junger Leutnant mit roten Wangen. Stjopka erstattete ihm Bericht. Um seine Worte noch eindrucksvoller zu machen, fügte er hinzu: „Sie hatten auch alle einen Dolch bei sich." Ich stand neiderfüllt neben meinem Freund. Nie im Leben wäre ich auf einen so brauchbaren Trick verfallen. Vielleicht hätte es dieser Lüge gar nicht bedürft. Der Leutnant funkelte ohnedies mit den Augen. „Habt ihr die Nummer erkannt?" „Leider nein." Er setzte sich wieder hin. „Zu dumm. Wie soll ich nach ihnen fahnden lassen?" „Leutnant, weißt du was", schaltete sich der Fahrer ein, „komm in meinen LKW. Die Spitzbuben sind bestimmt aus der Stadt, da könnte ich wetten. Auf der Landstraße werden wir sie erwischen. Einundsechzig Kilometer von hier ist der Kontrollposten. Die Genossen sollen den Wagen anhalten. Ruf doch an. Welche Farbe hat das Auto?" „Es ist blau", erwiderte Stjopka. Alles vollzog sich haargenau so, wie der Fahrer vorausgesagt hatte. Eine Stunde später waren wir am Ziel. Allerdings erblickten wir nicht nur einen blauen Pobeda, sondern gleich vier. Die Insassen standen auf der Straße, gestikulierten und schimpften, was das Zeug hielt. Der eine jammerte, er käme zu spät ins Theater, ein anderer wollte sein Flugzeug nicht verpassen. Ein dritter griff sich an die Pelzmütze und stieß mit dem Stiefelabsatz gegen die Motorhaube seines Autos. „Begreifen Sie doch", regte er sich auf, „dieser Wagen ist nicht blau, sondern ultramarin. Nicht blau, ul-tra-ma-rin!" Unser Fahrer wiegte bedenklich den Kopf. „Na, die werden dir die Hölle heiß machen, Leutnant. Sehen ganz danach aus." Der Leutnant stieg aus. Sogleich stürzten sich alle auf ihn.  „Haben Sie veranlaßt, daß wir hier festgehalten werden?" „Wie Verbrecher behandelt man uns." „Geben Sie mir Ihren Namen." „Nicht einmal sonntags hat mein seine Ruhe." Stjopka lief um einen Pobeda herum und rief: „Hier sind sie, Genosse Leutnant, kommen Sie her, hier sind sie!"  Die Menschen machten einen Lärm wie eine Betonmaschine. Der Leutnant sprach auf jeden einzelnen ein, aber keiner hörte ihm zu. Der Mann mit der Pelzmütze zog ihn am Ärmel zu seinem Auto. Er schrie ununterbrochen, daß der Wagen nicht blau, sondern ultramarin sei. Ich war im Fahrersitz geblieben und hatte auch jetzt keine Lust auszusteigen. Eigentlich hatten wir ja das Donnerwetter heraufbeschworen und nicht der Leutnant. Zum Glück eilte der Inspektor herbei, der die blauen Pobedas angehalten hatte. „Aber Genossen, beruhigen Sie sich doch", sprach er auf die erregten Menschen ein. „Der Leutnant erfüllt nur seine Pflicht. Warum machen Sie ihm das Leben schwer? Es lag der Befehl vor, jeden blauen Pobeda zu stoppen. Eine halbe Stunde haben Sie hier zugebracht, Bürger, länger nicht, aber durch dieses kleine Ungemach beigetragen, eine Verbrecherbande dingfest zu machen. Jetzt können Sie Weiterreisen — außer diesem Wagen da, der bleibt hier. Schönen Dank", sagte er, zog den Handschuh aus und streckte jedem die Hand hin, „schönen Dank auch Ihnen, und Ihnen gleichfalls." Sie wechselten noch ein paar Worte miteinander, dann stiegen alle in die Autos und fuhren davon. Nicht einmal den Namen des Leutnants hatten sie notiert. Der mit dem Ultramarin-Pobeda hinterließ sogar seine Anschrift für den Fall, daß ein Zeuge gebraucht wurde. „Nun, Leutnant", sagte der Inspektor, „das Weitere besorgen Sie wohl selbst?" „Jawohl, Genosse Hauptmann."  „Alles Gute." Der Inspektor setzte sich auf sein Motorrad und brauste davon. Bis jetzt waren die Wilddiebe in ihrem Wagen geblieben. Als der Leutnant herantrat, kletterten sie heraus und sahen ihn böse an. „Ihre Papiere." „Bitte sehr", sagte Sergej Sergejewitsch herablassend.  Der Leutnant prüfte die Dokumente und fächelte damit in der Luft.  „Hier ist das Wort Verbrecher gefallen", ließ sich Sergej Sergejewitsch hochmütig vernehmen. „Offenbar waren wir damit gemeint?" Er spielte die gekränkte Leberwurst. Die beiden anderen standen grimmig lächelnd neben ihm. „Zeigen Sie mir Ihre Jagderlaubnis", verlangte der Leutnant. „Vielleicht sind Sie so liebenswürdig, mir zu erklären, was dies nun wieder zu bedeuten hat. — Freunde, versteht ihr das?" wandte er sich an seine Kumpane. „Kein Wort", erwiderten die mit Unschuldsmiene, „der reinste Zirkus." Der Leutnant sagte: „Im Wald haben Sie einen Elch geschossen. Diese beiden Jungen haben es gesehen."  „Diese beiden Rowdys", entgegnete Sergej Sergejewitsch blasiert. Viel hätte nicht gefehlt und er wäre vor lauter Vornehmheit geplatzt. „Niemand bestreitet, daß die beiden Strolche eine blühende Phantasie haben. Aber geradestehen für alles, was uns angetan wurde, müssen Sie. Wir waren tatsächlich im Wald. Von einem Elch haben wir allerdings nichts bemerkt und auch keinen einzigen Schuß abgegeben. Ich sehe zwar keinerlei Veranlassung, mich vor Ihnen zu rechtfertigen, bin jedoch bereit, einen Beweis zu liefern." Er klappte sein Jagdgewehr auf und sagte: „Sehen Sie sich die Läufe innen an. Die sind spiegelblank. Oder meinen Sie, ich hätte sie unterwegs gereinigt?" Der Leutnant wandte sich an Stjopka. „Kannst du mir die Stelle zeigen, wo der Elch liegt?" „Von der Straße aus nicht. Aber wenn wir zuerst nach Hause gehen und dann an den Marmorsee, ist es eine Kleinigkeit."  Die Wilddiebe würdigten Stjopka keines Blickes. „Da haben Sie es", geiferte Sergej Sergejewitsch, „die Strolche wissen selbst nicht, wie sie sich rausreden sollen. Ich will gar nicht bestreiten, daß irgendwo im Wald ein toter Elch liegt. Nehmen wir an, Sie begehen tatsächlich die Torheit, dort hinzufahren. Was gedenken Sie weiter zu tun? Wollen Sie das Tier fragen, wer es erschossen hat?"  „Sie haben es erschossen", schrie Stjopka aufgebracht, „er hat noch die Frechheit, den Mund aufzureißen. — Mischa, gib du's ihm", forderte er mich auf.  Ich stand wie vom Donner gerührt. In meinem Leben war mir noch nie ein Mensch begegnet, der so kaltschnäuzig gelogen hätte wie dieser Sergej Sergejewitsch. Der Leutnant blickte gleichfalls betroffen drein. Freilich, selbst wenn wir den Elch fanden — wie sollte den drei Spitzbuben das Verbrechen nachgewiesen werden? Wir hatten damit gerechnet, daß die Wilddiebe ihre Tat gestehen würden, sobald man sie ihnen auf den Kopf zusagte.  Der Schofför, der bis jetzt geschwiegen hatte, erklärte: „Ich glaube den Jüngen. Der da" — er zeigte auf Sergej Sergejewitsch — „ist ein Mistkäfer." „Das geht entschieden zu weit", heulte Sergej Sergejewitsch empört. „Nicht genug damit, daß sie einen an der Weiterfahrt hindern, jetzt wird man auch noch angepöbelt. Geben Sie unverzüglich unsere Papiere her. Und glauben Sie nicht, daß ich so mit mir umspringen lasse. Das kommt in die ,Prawda', darauf können Sie Gift nehmen." „Beschwer dich bei deiner Großmutter über mich", entgegnete der Schofför trocken. „Fahren wir, Leutnant. Hier kommen wir doch nicht weiter." Der Leutnant konnte sich offenbar nicht von den Papieren trennen. Er hielt sie in den Händen, fuchtelte damit herum, lief vor Verlegenheit rot an, traf aber keine Anstalten, sie ihren Eigentümern zurückzugeben. Stjopka war dem Weinen nahe. An seinem Hals schwoll die Ader. Ich fürchtete, daß er gleich einen Wutanfall bekommen und sich auf die Wilddiebe stürzen würde. Er lief jedoch nur zu dem blauen Pobeda, riß den Fotoapparat vom Polster an sich und suchte das Weite. Sergej Sergejewitsch wurde bleich wie der Tod. Unverzüglich nahm er die Verfolgung auf. „Bleib stehen, du Schuft!" Was man alles erleben kann! Dieser aufgeblasene Dickwanst wollte es mit meinem Freund Stjopka aufnehmen. Na ja, hundert Meter hielt er durch, dann gab er auf. Stjopka raste weiter. Ich habe ihn selten so in Form gesehen wie bei jenem Spurt. Der Leutnant verlor endgültig die Fassung. Er bekam kugelrunde Augen wie daheim unser Kater. „Was soll das heißen", herrschte er mich an. „Ihr seid tatsächlich Rowdys." Sergej Sergejewitsch war stehengeblieben. Er rang nach Luft. Als Stjopka sah, daß sein Verfolger nicht mehr weiter konnte, machte er gleichfalls halt. „Sofort gibst du den Apparat zurück!" rief der Leutnant. „Ich traue mich nicht", erwiderte Stjopka. Er stand so weit von uns entfernt, daß seine Worte kaum zu verstehen waren. „Ich bleibe lieber hier. Sonst schlägt er mich noch." „Los, ins Auto", befahl der Leutnant, „hin zu ihm." Ich hatte kaum Zeit, in den Wagen zu springen, schon gab der Fahrer Gas. Wir sausten an Sergej Sergejewitsch vorüber. Stopka lief nicht weiter. Er hängte den Apparat an einen Ast und wartete mit zufriedener Miene am Straßenrand, bis wir heran waren.  „Bleib stehen!" kommandierte der Leutnant.  „Ich bin doch schon stehengeblieben", gab Stjopka zur Antwort und feixte, daß der Mund von einem Ohr bis zum andern reichte.  Der Leutnant sprang ab, packte Stjopka am Arm und stieß ihn in den Wagen. „Wir sprechen uns später."  „Ja, Genosse Leutnant, die Sache ist so...", begann Stjopka.  „Sei still. Mit dir unterhalte ich mich nicht."  „Lassen Sie mich erst ausreden."  „Mit dir unterhalte ich mich nicht!"  „Bitte sehr", erwiderte Stjopka gekränkt, „wie Sie wollen." Wir fuhren zurück. Der Apparat baumelte am Ast. Als wir in Priosersk angekommen waren, stellte der Leutnant dem Schofför eine Bescheinigung aus und verabschiedete sich von ihm. Wir mußten uns an die Wand setzen. Auch der Leutnant nahm sich einen Stuhl. Er schwieg. Das war selbst für mich zuviel. „Genosse Leutnant", platzte ich heraus, „Ehrenwort, wir haben die Wahrheit gesagt. Wenn Sie nur mit in den Wald kämen." Der Leutnant nahm ein Messer, malte damit auf dem Tisch. Nach einer Weile stand er auf. „Kommt." Wir gingen durch die Straße und dachten: Wo bringt er uns hin? Nicht etwa ins Gefängnis? Er schritt voraus, sah sich kein einziges Mal um, obwohl es schon dämmrig wurde. Ausrücken wäre eine Kleinigkeit gewesen. Doch weshalb sollten wir? Wir waren unschuldig, trotteten brav hinter ihm her. „Warum hast du den Apparat zurückgegeben?" flüsterte ich Stjopka zu. „Sie sind mit dem Elch auf dem Film." Stjopka blieb mir die Antwort schuldig. Er schmollte. Der Leutnant hatte ihn beleidigt. Wir gingen in ein Restaurant. Der Leutnant bestellte Tee und Pfannkuchen. „Eßt." Wir waren wütend auf ihn. Aber hungrig waren wir auch. Wir griffen zu. Er saß uns gegenüber und spielte mit der Tischdecke, ohne selber zu essen. Schließlich sagte er: „Hört her, ihr beiden. Jetzt wollen wir offen miteinander reden. Haben sie den Elch geschossen oder nicht? War vielleicht überhaupt kein Elch da?" Stjopka kaute mit vollen Backen, als hätte er die Frage nicht gehört.  „Ja, es stimmt", antwortete ich, „sie haben ihn geschossen." „Ich lasse euch laufen", fuhr der Leutnant fort, „nur müßt ihr mir die Wahrheit sagen. Wenn sie ihn tatsächlich getötet haben, werden sie keine Beschwerde einreichen. In diesem Fall möchte ich die Sache weiterverfolgen, sie den Untersuchungsorganen übergeben, den Experten. Die Nummer vom Pobeda hab ich notiert. Wenn ihr aber alles nur erfunden habt, dann bekomme ich wegen euch Scherereien. Schenkt mir wengistens reinen Wein ein, damit ich weiß, woran ich bin." Stjopka nahm das letzte Stück Pfannkuchen aus dem Mund. Es wanderte zurück auf den Teller. „Sie wollten sich mit uns nicht unterhalten. Das haben Sie selber gesagt." „Doch, ich will. Ihr müßt mir aber reinen Wein einschenken." Stjopka ist kein Freund von allzu graden Wegen. „Machen Sie die Augen zu", forderte er den Leutnant auf.  „Laß die Scherze", erwiderte der.  „Dann drehen Sie sich wenigstens um."  Der Leutnant stöhnte, wandte sich jedoch ab. Stjopka zog eine Filmkassette aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. „Bitte."  „Was soll das nun wieder bedeuten?" Stjopka schmunzelte. „Wir sind lange genug um die Wette gerannt. Ich habe den Film rausgenommen. Als der Elch tot war, gingen sie mit ihren Gewehren hin und fotografierten sich. Jetzt brauchen wir nur noch die Abzüge. Dann ist der Fall klar." Der Leutnant fuhr vom Stuhl hoch. „Hoffentlich hast du den Film nicht belichtet." „Ach", gab Stjopka entrüstet zurück, „ich bin doch kein Anfänger. Ich hab ihn erst durchgedreht. Jetzt müßten wir ihn entwickeln lassen. Bei uns im Dorf kenn ich einen Fotografen."  „Nein, nein, mir genügt, daß ich euch kennengelernt habe. Auf die Bekanntschaft des Fotografen kann ich verzichten. Den Film gebe ich ins Labor. Vorher bringe ich euch nach Hause." „Na gut, nehmen Sie die Kassette", willigte Stjopka ein, „aber wie steht's mit einer Bescheinigung für die Schule? Eigentlich mußte ich heute zum Unterricht." Der Leutnant lachte. „Keine Sorge, das bringen wir in Ordnung. In welcher Schule seid ihr?" Stjopka sagte es ihm. Der Leutnant begleitete uns ein Stück die Straße entlang. Dann hielt er einen Wagen an. Wir fuhren fast bis vor die Haustür. Am Montag eilte Anna Naumowna im Laufschritt auf Stjopka zu. „Chokkanen, wo warst du gestern?" „Ich bin sehr früh von zu Hause fortgegangen. Ich wollte in die Schule, aber dann kam es anders." Die Klasse lachte. Die Poljanskaja wurde rot. Offenbar hatte sie sich übers Wochenende noch mehr in meinen Freund verliebt. „Daß du nicht hier warst, habe ich gemerkt. Nur weiß ich immer noch nicht, warum es anders kam." „Weil wir ein paar Spitzbuben fangen mußten. Mein Freund Krylow und ich." Die Klasse war entzückt, davon zeugte das Gelächter. Man kannte doch Stjopka, diesen Windhund. Sogar Anna Naumowna biß sich auf die Lippen, um ernst zu bleiben. „Und? Habt ihr sie erwischt?" „Natürlich — das heißt, nicht die Spitzbuben persönlich, nur zwei Fotos von ihnen. Aber das ist ja egal. Der Leutnant holt die Untersuchungsorgane."  Anna Naumowna runzelte die Stirn.  „Hör mal, Chokkanen, jetzt reicht mir das mit deinen Fliegern, Künstlern, Spitzbuben, Leutnants, Untersuchungsorganen..."  „Adlern", schrie die Klasse.  „Und mit deinen Adlern. Nach dem Unterricht wirst du zwei Stunden hierbleiben. Ich habe mit dir ein ernstes Wort zu reden, das letzte." Anna Naumowna hatte kaum ausgesprochen, als die Tür aufging und der Sportlehrer eintrat. „Chokkanen und Krylow zum Direktor", meldete er. „Was haben sie denn nun schon wieder ausgefressen?" Anna Naumowna stöhnte. „Das weiß ich auch nicht", erwiderte der Sportlehrer, „da ist jemand von der Miliz gekommen. Der hat nach ihnen gefragt." Anna Naumowna wurde leichenblaß.  „Kinder, was habt ihr wieder angestellt? Schnell, sagt es mir."  Uns war selber nicht ganz wohl zumute. Schwitzend, mit pochenden Herzen traten wir den schweren Gang zum Direktor an. Anna Naumowna begleitete uns. Sie klopfte. Schon beim Öffnen der Tür sahen wir unsern Leutnant. Er saß am Tisch. Der Direktor hielt einige Fotos in der Hand. „Ah, unsere Detektive", begrüßte uns der Direktor. „Na, Chokkanen, was macht dein Bruder? Haben sie ihm den Bauch wieder zugenäht?"  Der Leutnant lachte. Er hatte also gepetzt. Es gab keine Liebe mehr unter den Menschen.  Der Direktor stimmte in das Lachen ein.  „Der Genosse Leutnant sprach von zwei Jungen aus unserer Schule. Ich zerbrach mir den Kopf und kam nicht darauf, wen er meinte. Aber als er die Geschichte von der Operation erzählte, wurde mir alles klar. Das konnte nur Chokkanen gewesen sein. Na, und wo der steckt, darf Krylow natürlich nicht fehlen." Der Direktor reichte uns die Fotos. Es war alles gut getroffen: der Elch, die Wilddiebe, ihre Gewehre. Leid tat mir nur, daß wir beide fehlten. Wir hätten uns dazustellen sollen. Anna Naumowna blickte mir über die Schulter. „Lieber Himmel, das ist ja barbarisch! Dann stimmt es wohl tatsächlich, daß ihr diesen Menschen das Handwerk gelegt habt?"  „Ja, so kann man sagen", bestätigte der Leutnant, „es ist ausschließlich ihr Verdienst."  „Und was wird jetzt mit den Wilderern geschehen?" „Sie kommen vor ein Gericht. Ich habe sämtliche Materialien den Untersuchungsorganen übergeben. Unsere beiden Helden werden als Zeugen vorgeladen. Aber machen Sie sich keine Sorgen." „Nein", sagte der Direktor, „jetzt machen wir uns keine mehr."  Der Leutnant verabschiedete sich. Zum Andenken schenkte er uns die beiden Fotos.  Das eine bekam die Poljanskaja. Stjopka wollte es so. Das andere nagelten wir an den Gartenzaun und benutzten es als Zielscheibe für unsere Schneebälle.  Ich vertraue dir Die Kassiererin des Flughafens erhob sich von ihrem Stuhl. Vor dem Schalter stand ein etwa zwölfjähriger Junge in Anorak und Kapuze. „Willst du etwa allein fliegen?"  Der Junge nickte. „Wo hast du denn das Geld her?" Die Hand mit den Scheinen kroch vom Fenster zurück. Der Junge blickte mißtrauisch die Kassiererin an und schlenderte dem Ausgang zu. „Warte doch", schallte es hinter ihm her.  Er wollte schon auf die Straße schlüpfen, als die Tür von einem hünenhaften Flieger versperrt wurde.  „Halten Sie ihn!" Eine große Hand legte sich dem Jungen auf die Schulter. Er versuchte sich loszumachen, wurde aber mühelos zurückgeschoben. „Was hat er ausgefressen?" Die Kassiererin kam heran. „Ach, Sie sind es, Goga? Ein komischer Bursche. Er wollte allein fliegen. Das Geld dazu hat er." „Soso", sagte der Flieger, „wir werden gleich sehen." Er war ein Riese. Der Junge reichte ihm kaum bis zum Gürtel. „Na, hast du die Sprache verloren?" fragte er. „Wie heißt du?" „Lassen Sie mich los!" „Erst mußt du mir verraten, wohin du fliegen willst. Und warum. Du wirst vielleicht in meiner Maschine sitzen, und da muß ich das wissen, siehst du. Bei uns hat alles seine Ordnung." Der Junge hob das scharfgeschnittene Kinn in die Höhe. Er blickte den Flieger an. Seine Lippen zitterten. „Sie sollen mich loslassen. Warum ich fortfliege, geht Sie gar nichts an." Die Kassiererin lachte. „Ein richtiger Iltis." Der Blick, den ihr der Flieger zuwarf, trieb ihr das Blut ins Gesicht. „Gehen wir", sagte er zu dem Jungen, „unterwegs kannst du mir alles erzählen." Sie kamen an riesigen Hallen vorbei. Die Hand blieb auf der schmächtigen Schulter. „Wohl von zu Hause ausgerückt?" fragte Goga. „Was denn noch?" fauchte der Junge. „Wie heißt du?" „Fedja." „Kommst du aus der Siedlung?"  „Hmhm." „Dein Vater?" „Hab keinen." „Und die Mutter?" „Habe ich auch nicht. Lassen Sie mich los. Es tut weh." „Läufst du fort? Nein? Ehrenwort?" „Ehrenwort." Der Flieger blieb stehen. Er nahm die Hand von der Schulter. „Na also. Man muß aufrichtig sein. Das ist immer besser." Der Junge stürzte auf den Zaun los, schwang sich hoch, rutschte mit dem Bauch über die Lattenspitzen und flog auf die andere Seite. Er rannte in Richtung zum Jenissej davon. Seine Schuhe traten eine Gasse durch die staubigen Kartoffelstauden. Am Abend schritt Goga über das Rollfeld, wo die „Schawruschkas" standen. Vor einer Maschine machte er halt, stieß mit der Stiefelspitze gegen das eine Rad und murmelte halblaut: „Wie geht's, Alte? Keine Langeweüe so allein?" Die „Schawruschka" hüllte sich in Schweigen. „Gibt's nichts Neues hier?" Das Flugzeug blieb stumm. „Hast du vielleicht einen Menschen gesehen, der sein Wort gebrochen hat?" Das Flugzeug schwieg. Der Mann legte lauschend die rechte Hand hinters Ohr. „Nun?" „Pfff", machte die Maschine, lange und laut. „Na also", sagte der Flieger anerkennend. Er trat heran und warf die Haube zurück. In dem engen Gepäckraum lag ein Junge, zusammengerollt, das Gesicht rot vor Anstrengung. Über eine Minute hatte er den Atem angehalten.  „Hör mal, Fedja, warum läufst du fort und versteckst dich? Bist du ein Strauchdieb?" „Selber einer", knurrte der Junge und heulte los. Goga packte ihn und hob ihn aus der Maschine. „Du täuschst mich nicht", sagte er streng. „Dein Wort hast du gebrochen. Vielleicht heulst du auch absichtlich." Fedja wischte die Tränen vom Gesicht.  „Ich hab mein Wort nicht gebrochen", entgegnete er trotzig. „Weshalb bis du fortgerannt?" Fedja wandte sich ab.  „Na gut", sagte der Flieger. „Komm mit. Zeige mir, wo du wohnst. Aber laß es dir nicht noch mal einfallen, auszurücken. Diesmal lauf ich hinterher." Sie überquerten das Flugfeld und stießen auf die Straße, die in die Siedlung führte. Fedja ging in der Wegmitte. Er schlurfte und wirbelte Staub auf. „Heb die Beine", sagte Goga. „Du bist ein Mensch und kein Tankwagen." Fedja erwiderte nichts, aber er hob die Beine. „In den Gepäckraum zu kriechen, war dumm", erklärte der Flieger. „Der wird vor jedem Start geöffnet. Man muß ja die Klemmen schließen. Leuchtet dir das nicht ein?" Fedja rückte ein paar Zentimeter ab. Er fing wieder zu scharren an. Der Flieger zog die Stirn in Falten. „Wozu gebe ich mich eigentlich mit dir ab? Am besten, ich bringe dich zur Miliz." „Bitte sehr", entgegnete Fedja laut und gereizt.  „Warum tun Sie's nicht?"  „Weil ich auch mal so war die du."  „Wie ich Strauchdieb, ja?" vergewisserte sich Fedja mit heller Stimme. „Nicht Strauchdieb — Wirrkopf."  Schweigend schritten sie durch die Siedlung. Bald war das andere Ende erreicht. „Wo wohnst du?"  „Sind schon vorbei." „Warum hast du's mir nicht gezeigt?" „Vergessen." „Schön. Zurück." Der Flieger war die Ruhe selbst. „Streng dich an, damit du's nicht wieder vergißt." Zwanzig Minuten später standen sie abermals auf der Straße, die zum Flughafen führte. „Na?" fragte Goga. „Wieder vergessen", erwiderte Fedja ohne Zögern. Sein Gesicht zeigte keine Spur von Verlegenheit und kein bißchen Angst. Es verriet nichts als Eigensinn. Der Flieger trat einen Schritt zurück. Der Junge hörte sein lautes Lachen. „Du bist ein Dickkopf", sagte der Flieger, „aber mit mir hast du Pech, ich bin auch einer." „Wissen Sie nicht, wo dieser Junge wohnt?" wandte er sich an eine vorübergehende Frau. Sie riß die Augen auf und starrte Fedja neugierig an. „Allerdings weiß ich das. Hat wohl wieder was angestellt? Sehen Sie das grüne Dach dort drüben? Daneben ist es." „Schönen Dank", sagte der Flieger. Die Frau war sehr entgegenkommend. „Ich gehe lieber mit", erbot sie sich bereitwillig. „Was hat er angestellt?" Der Flieger schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nötig. Ich finde den Weg jetzt allein. Schönen Dank nochmals." „Aber es macht mir wirklich nichts aus", beteuerte die Frau, „die Zeit nehme ich mir. Ich begleite Sie bis zur Haustür. Der Schlingel hat den Flughafen unsicher gemacht, was?" Goga schielte Fedja von der Seite an.  „Das kann man wohl sagen", entgegnete er mit ernster Miene. „Er hat ein Haus angezündet." „Das ist ja ..." Die Frau stöhnte entsetzt. „Allerdings", bestätigte der Flieger. „Ein Steingebäude. Stellen Sie sich vor, mit einem Streichholz." Fedja wandte das Gesicht ab und prustete los. Der Flieger versetzte ihm einen leichten Schlag in den Rücken. Sie gingen los. In der Ferne schimmerte das grüne Dach. „So ein Schwätzer", geiferte die Frau, „kann seine Zunge nicht im Zaum halten." Die Tante saß auf dem Bettrand, beide Hände gegen die Schläfen gepreßt. „Ein Dieb", kreischte sie, „ein Dieb." Ihr Körper schwankte hin und her. „Der Sohn meiner Schwester entwickelt sich zu einem Dieb." Es klang beinahe wie Gesang. Auf dem Tisch lagen zusammengerollte Geldscheine. Als die Tante verstummte, hörte man das Rascheln des Papiers, das geglättet wurde. Das langgezogene „Iiii ..." schien sich zwischen den Maschen des Spinnengewebes in der Ecke verfangen zu haben und darin unentwegt weiterzuschwingen. „ Ich habe ihn gekleidet, ernährt. Großer Gott! Ihm ein Nest gegeben, in mein eigenes Haus genommen. Großer Gott!" Der Flieger stand in der Tür. Er blickte unverwandt die Tante an. „Hören Sie", sagte er endlich, „der Junge hat den ganzen Tag ohne Essen auf dem Flugplatz zugebracht." „Und ich?" jammerte die Tante. „Habe ich vielleicht einen Bissen runtergekriegt? Wen kümmert das?" „Natürlich hast du heute morgen gefrühstückt", rief Fedja dazwischen. „Außerdem gehört das Geld nicht dir. Es ist für meinen Vater." „Schweige doch, du Dieb", sagte die Tante, „du undankbarer Dieb!" Fedja rannte aus dem Zimmer. Krachend flog hinter ihm die Tür ins Schloß.  „Hören Sie, so geht es doch auch nicht", ließ sich Goga vernehmen. Die Tante funkelte ihn an. „Gehen Sie, Flieger. Ich habe Sie nicht hergebeten. Der Herr behüte Sie." Dem Flieger wurde schwül. Er bückte sich, um nicht an den Balken zu stoßen, und schritt hinaus. Am liebsten hätte auch er die Tür zugeworfen. Fedja stand auf dem Hof. „Wohnst du schon lange hier?" „Zwei Jahre drei Monate." „Das ist nicht wenig", meinte der Flieger nachdenklich. „Komm, begleite mich ein Stück." „Warum?" „Darum. Wir müssen uns bekannt machen. Wenn du wieder zum Flughafen gehst, bist du nicht mehr fremd dort. Hast du Freunde?" „Ja. Aber nur auf der Straße. Sie dürfen nicht ins Haus." „Hm. Komm." Fedja trat unschlüssig auf der Stelle. „Aber mein Ehrenwort habe ich gar nicht gegeben", erklärte er. „Beim Sprechen hab ich Ihnen heimlich einen Vogel gezeigt." „Warum?"  „Weil es dann nicht gilt."  Der Vater fiel 1945 bei einem Luftkampf über der tschechoslowakischen Stadt Bratislava, zwei Monate ehe der Junge geboren wurde. Vor zwei Jahren kehrte Fedjas Mutter, von Beruf Forstingenieur, aus der Taiga nicht zurück. Fedja blieb bei der Tante, die zwei Wochen lang um die verschollene Schwester trauerte und weinte. Ihre Tränen wurden stets von einem rührseligen Wortschwall begleitet. „Sie ist jetzt alle Sorgen los", jammerte die Tante. „Und ich? Womit habe ich das verdient, womit?" Fedja konnte den Anblick des vom Weinen gedunsenen Gesichts nicht mehr ertragen. Es schnürte ihm die Luft ab, wenn er sah, wie sich die Tante nach jeder Mahlzeit eifrig bekreuzigte, dabei verstohlene Blicke durchs Fenster warf und gleich darauf kreischend und rot vor Anstrengung auf die Straße stürzte, um die vor dem Haus spielenden Kinder anzuschreien. Unerträglich waren für Fedja auch die ständigen Gespräche mit dem lieben Gott, den sie offenbar ebenso inbrünstig bedauerte wie sich selber. Dessenungeachtet klagte sie unentwegt über ihr schweres Los und heulte ihm wegen des mißratenen Sohnes ihrer toten Schwester die Ohren voll. Gott hing in einer Ecke an der Wand. Er hatte müde Augen und machte ein Gesicht, als quälten ihn Tantes endlose Tiraden. Aus seinem Winkel blickte er traurig die Tante an, lauschte ihrem Geflenn und schien jederzeit bereit zu sein, selber den Mund aufzureißen und zu schreien: „Großer Gott, wann hört das endlich auf!" Wenn Tante das Geschirr abtrocknete oder Fedjas Hemden wusch, sah man ihr deutlich an, was für eine leidgeprüfte Frau sie war. Zugleich aber — und das war merkwürdig — spiegelte sich auf ihrem Gesicht eine stille innere Freude. Es bereitete ihr Genugtuung, daß sie sich schinden mußte und daß alle, Gott und Fedja eingeschlossen, Zeuge waren, wie sauer es ihr wurde. Sie litt, aber sie litt gern und mit Talent. „Vielleicht ist sie überhaupt nicht meine Tante?" überlegte Fedja laut. „Mutter war nicht so. Sie hatte immer freundliche Augen und hieß auch anders."  Auf halbem Wege zum Flugplatz legten sie eine Rast ein, setzten sich an den Straßengraben und ließen die Beine baumeln. ,,Bist ein komischer Kerl", meinte der Flieger, „deine Mutter hatte natürlich den Namen deines Vaters angenommen." ,Ja?" wunderte sich Fedja. „Anders nicht." Fedja zog fröstelnd den Kopf zwischen die Schultern und schauderte zusammen. Es war still geworden, aber in dieser Stille schwang ein fernes, kaum hörbares Summen. Das kam aus der Luft. In großer Höhe jagten vier Flugzeuge mit keck zurückgelegten Flügeln über die Siedlung. Sie stürzten und stiegen, eine rosige Schaumspur hinterlassend, steil wieder auf. „Warum landen sie nicht?" „Es sind Militärflugzeuge. Weißt du, in welcher Höhe sie fliegen? Dort oben ist der Himmel tiefblau, fast schwarz. Auch am Tage leuchten die Sterne." „Woher wissen Sie das?" Der Flieger stand auf. Er klopfte den Staub aus der Hose. „Ich weiß es eben. Komm zum Flugplatz. Ich bringe dir das Fliegen bei. Du fragst nach Goga Sisow. Ist das ein Vorschlag?" „Und was für einer ', antwortete Fedja erfreut. „Ich komme."  Überall durfte Fedja nun hingehen, sogar zum Funker. In den Reparaturwerkstätten war er zu finden, neben dem Fahrer der Zugmaschine, im Unter-richtsraum, wo Propeller und Tafeln mit Zylinderschnitten an den Wänden hingen. Am schönsten waren freilich die Flüge mit Goga. Fedja kauerte auf dem Pilotensitz, Goga saß als Passagier an seiner rechten Seite. Fedja preßte den Steuerknüppel in den Fäusten, die Füße auf den Hebeln. Er hörte die leisen Kommandos des Fliegers. „Links anziehn!" Mit gleichmäßigem Druck bewegte er den Knüppel seitwärts, die Füße auf den Hebeln erstarrten. Fedja hatte es sich fest eingeprägt: Höhen- und Querruder werden durch den Steuerknüppel bedient, die Seitenruder durch die Fußhebel. „Halt, Rechtskurve und gleichzeitig hochziehen — rechter Fußhebel — Steuerknüppel an den Körper, leichte Rechtsdrehung — noch stärker an den Körper drücken." Schön, dachte Fedja, sehr schön, ja, ich kann was. Er beobachtete Goga aus den Augenwinkeln. Goga schüttelte mißbilligend den Kopf. „Du bringst die Maschine zum Trudeln", schimpfte er. Trudeln bedeutet, das Flugzeug dreht sich wie ein Kreisel, die Erde kommt auf den Piloten zugerast. Mit beängstigender Geschwindigkeit verringert sich die Flughöhe. Der linke Fußhebel war bis zum äußersten durchgedrückt. Fedja hatte kein Gefühl mehr dafür, wie er den Knüppel hielt: dicht an den Körper oder weit von sich ab? Halt, mußte er nicht so drücken? Sicher, jetzt würde es richtig sein. Na? Abermals ein Seitenblick nach rechts. „In welcher Höhe befanden wir uns?" Fedja merkte, daß etwas nicht stimmte, und legte auf alle Fälle was zu. „Tausend Meter." „Irrtum." Goga schüttelte den Kopf. „Die Flughöhe betrug zweihundert Meter. Du bist ein toter Mann." „Mit Ihren Kommandos machen Sie mich kribbelig", versuchte sich Fedja zu rechtfertigen. „Allein geht es bestimmt besser."  „Schön, allein. Fang an." Eine knappe Bewegung der Hand auf dem Schaltbrett. Starter. Eins — zwei. Steuer anziehen, noch stärker. Das ging ja! Goga hatte aufgehört, die Stirn zu runzeln. Also war es in Ordnung. Wolken segelten über den Flughafen. Wenn Fedja den Landeplatz und die Flugzeuge darauf nicht sähe, könnte er meinen, die „Schawruschka" löse sich tatsächlich von der Erde und erhebe sich in die Luft. Diesmal wurde es ein ruhiger Horizontalf lug, ganz ohne Trudeln. Jeder Griff saß, Fedja war die Sicherheit selbst. Mit leichtem Wiegen der Fußhebel und des Steuerknüppels brachte er die Maschine in die Waagerechte. Goga lachte. „Wo sind wir?" Fedja war jetzt nicht aus der Ruhe zu bringen. Gelassen beantwortete er sämtliche Fragen. „Was für Wind haben wir?" „Südwind." Das bedeutete: Sie flogen nach Süden. Fünf Minuten verstrichen. „Unter uns liegt Kangotowo." Goga lachte laut auf. Dabei zeigte er fast alle seine Zähne. Ich weiß nicht, was er daran lächerlich findet, dachte Fedja.  Abermals nach fünf Minuten: „Wo sind wir?" „Unter uns liegt Iskup." Goga erhob sich wortlos, stützte die Hände auf den Rand des Flugzeugs und stand mit einem Satz draußen. Das war, gelinde gesagt, eine Schweinerei. In der „Schawruschka" fliegt man ohne Fallschirm. Fedja sprang hoch, rekelte sich. Vom langen Sitzen schmerzte der Rücken. „Sie sind ein toter Mann", rief er ärgerlich. „Die Flughöhe betrug zweihundert Meter. Sie liegen zerschmettert am Boden." Statt zu antworten, zeigte Goga auf den Griff der Bremse. Sie war bis zum äußersten angezogen. Keinen Zentimeter hätten sich die Räder des Fahrgestells gedreht. Das Flugzeug wäre nicht aufgestiegen, allenfalls unter angestrengtem Heulen ein Stück über die Startbahn gekrochen. Fedja wurde rot. „Feierabend", rief Goga, „gehen wir in die Kantine essen." Niedergeschlagen trottete Fedja hinter Goga drein.  Bremse. Sie war bis zum äußersten angezogen. Keinen Zentimeter hätten sich die Räder des Fahrgestells gedreht. Das Flugzeug wäre nicht aufgestiegen, allenfalls unter angestrengtem Heulen ein Stück über die Startbahn gekrochen. Fedja wurde rot. „Feierabend", rief Goga, „gehen wir in die Kantine essen." Niedergeschlagen trottete Fedja hinter Goga drein. Fedjas Bett stand neben Gogas. Am Abend warf sich der Junge noch lange auf dem quietschenden Gestell hin und her. Neuerdings übernachtete er häufig bei den Fliegern. Der Tante war es recht. Sie sparte Geld. Fedja dachte an seine heutigen Mißerfolge. Er seufzte. „Nun beruhige dich endlich", sagte Goga, „du wärst doch gar nicht aufgestiegen."  „Aber beim erstenmal wäre ich abgetrudelt."  Goga gab es zu. „Stimmt, das läßt sich nicht bestreiten."  „Ob ich schnell fliegen lernen würde?"  „Ich glaube schon. Aber damit hat's keine Eile. Mach man erst die Schule fertig."  „Ob ich zu den Düsenfliegern komme?"  „Das weiß ich auch nicht", erwiderte Goga. Mehrmals, in kurzen Abständen, glomm seine Zigarette auf. Daran merkte Fedja, daß Goga nicht gern an die Zeit erinnert wurde, als er selber einen Düsenjäger flog.  „Das weiß ich nicht", wiederholte der Flieger. „Es hängt nicht allein von uns ab. Verstehst du?"  „Ja." In Wahrheit verstand Fedja vieles nicht. Beispielsweise war ihm unbegreiflich, daß Goga mit seinen ausladenden Schultern, die unter der Lederjacke besonders wuchtig wirkten, nicht kerngesund sein sollte. Aber er war von der Luftwaffe gekommen und hatte dort einen Düsenjäger geflogen. Jetzt beförderte er Postsäcke sowie stille, ängstlich blickende Fluggäste, die gekünstelt, verzerrt lächelten. Er träumte davon, zu seinem Jagdgeschwader zurückzukehren. Wie es hieß, überkam ihn, wenn er allein flog und sich unbeobachtet fühlte, gelegentlich die Sehnsucht nach einem Düsenflugzeug. Dann raste er nur so über die Taiga hin, machte Jagd auf Adler, stieß im Sturzflug nach unten, schüttelte der Maschine die Seele aus dem Leib. Die Passagiere behaupteten, daß er sie während des Fluges in dem Spiegel über seinem Kopf beobachtete und rätselhaft lächelte. Wenn sie dieses Lächeln sahen, erstarrten sie vor Angst. Die Gerüchte über Gogas Kunststückchen waren auch ihnen zu Ohren gekommen. Aber der Pilot ging mit der Maschine um, als wäre sie keine stabile „Schawruschka", sondern ein Kinderwagen. Dennoch wurden die Fluggäste beim Verlassen der Kabine das Gefühl nicht los, daß sie nur durch ein Wunder einer tödlichen Gefahr entronnen waren. Zum Abschied schüttelten sie Goga verdächtig lange die Pranke. Fedja wußte das alles. Betont rauh, um seinen Worten einen überzeugenden Klang zu verleihen, sprach er in die Dunkelheit: „Sie werden schon wieder zu den Düsenjägern kommen, nur das Rauchen müssen Sie lassen, das ist schädlich." „Auch gut. Machen wir Schluß damit." Die Kippe landete im Aschenbecher. „Schlafen wir?"  „Ja."  Wenige Minuten später hob Fedja den Kopf aus dem Kissen. Er fragte: „Goga, ist es wahr, daß Sie Adler jagen?"  „Rate mal."  „Ich weiß nicht. Geht das überhaupt?" „Nein, es geht nicht." „Ist also nur ein Gerücht, nicht?" „Ich schlafe schon", erwiderte Goga. Goga war sehr oft unterwegs. Er flog in die entferntesten Gebiete, auch zu den Flößstützpunkten am Oberlauf der Flüsse. Dort gab es für die große „Schawruschka" wenig geeignete Landeplätze. Goga mußte auf einem steinigen Fleckchen niedergehen, auf einem gewundenen Flüßchen, einem faulig stinkenden See, immer unter der Gefahr, gegen einen im Wasser verborgenen Ast zu rennen. Die übrigen Piloten der Abteilung beflogen die gleiche Strecke. Sie schimpften auf die niedrig treibenden Wolken, auf den Nordwind, der sie von der Seite bedrängte, auf die abgesunkenen Baumstämme, die sie aus dem Wasser bedrohten, auf die Pferde, die meist dort weideten, wo es für eine Landung am günstigsten war. Trotzdem wäre keinem eingefallen, seinen Beruf an den Nagel zu hängen. Sie sagten, in unserer Zeit ist das Fliegen eine harmlose Sache. Fußgänger sterben mehr als Piloten. Den Gedanken, daß sie von einem Flug womöglich nicht zurückkehren könnten, wiesen die Männer weit von sich. Aber wie schnell gab es einen Motorschaden. Und mußte man nicht immer mit einem dummen Zufall rechnen? Wennschon. Dann plumste man eben in die Taiga. Die anderen würden einen suchen und finden. Nur Fedja empfand beim Anblick der mattgrün schimmernden Flügel von Gogas „Schawruschka" neuerdings Unbehagen. Er schlenderte ziellos über das Gelände des Flughafens und ärgerte den Dispatcher mit seinen Fragen. Einmal gab es ernsthaften Anlaß zur Aufregung. Ende Juli waren einer Gruppe von Topographen aus irgendeinem Grunde die Lebensmittel ausgegangen. Ununterbrochen schickten die hungernden Menschen Hilferufe in den Äther. Da keine ständige Funkverbindung mit ihnen bestand, vergingen zwei Tage, bis der Flughafen ihre Signale auffing. Drei Flugzeuge wurden ausgeschickt, um die Topographen zu suchen. Ein kalter Wind fegte über die Erde, zerrte an den Tragflächen und hüllte die Taiga in einen Regenschleier. Alles war grau in grau. Zwei Piloten kehrten am Abend zurück. Ihre Tanks waren leer, die Benzinvorräte bis auf die letzten Tropfen verbraucht. Von Goga fehlte jede Nachricht. Fedja lief an das abschüssige Ufer des Jenissej. Er starrte lange in den dichten, trüben Nebel, der über dem Fluß hing. Als das Flugzeug auftauchte, war es schon finster. Beängstigend niedrig schwebte die Maschine heran. Der Motor arbeitete nicht mehr. Fedja hörte das feine Pfeifen der Luft in der Verspannung. Ohne einen Zentimeter zu verschenken, segelte die „Schawruschka" über das Hoteldach hinweg und landete in den Gemüsefeldern. So etwas brachte nur Goga fertig. Als die Tanks leer wurden, war er schnell höher gestiegen und hatte trotz der beginnenden Dunkelheit mit sicherem Blick das einzige Stück Erde entdeckt, auf dem er landen konnte. Bis zum Rollfeld des Flughafens wäre die Maschine nicht mehr gekommen. Goga hatte als einziger die Topographen ausfindig gemacht und Lebensmittel abgeworfen, als einziger jedoch auch gegen die Anweisungen verstoßen. Was sind Anweisungen, wenn man weiß, daß in der Nähe Menschen Borkensuppe kochen, um nicht zu verhungern? Vom Kommandanten gab es einen tüchtigen Rüffel, aber Goga war an jenem Abend glücklich. Im Morgengrauen wurde die Maschine von einem Trecker aufs Flugfeld gezogen. Sie war unbeschädigt. „Wenn Sie nun Bruch gemacht hätten", meinte Fedja. „Das war unmöglich", erwiderte Goga, „mit dieser Maschine macht man keinen Bruch. Sie landet, wo du willst." Fedja schüttelte den Kopf. „Mein Vater war auch Flieger und ist umgekommen." Zum erstemal wurde dem Jungen mit erschreckender Deutlichkeit klar, daß Goga ein ähnliches Schicksal erleiden könnte. Goga rückte auf Fedjas Schultern vorsichtig den Anorak zurecht. „Eine gute Kajakjacke", meinte er anerkennend. „Die mußt du in Ehren halten. Sie ist wirklich auserlesen." „Ich hab sie vom Vater." „Dacht ich mir schon." Goga schwieg eine Weile, nahm die Mütze ab, legte sie aufs Gras. „Dein Vater ist im Krieg gefallen. Jetzt ist Frieden." „Trotzdem. Man kann als Flieger umkommen." Wieder strichen Gogas Finger auf Fedjas Jacke die nicht vorhandenen Falten glatt. Mit abgewandtem Gesicht fragte er: „Willst du nicht bei mir bleiben?" „Ich?" „Nun ja." Ungläubig starrte Fedja den Flieger an.  „Meinen Sie das im Ernst?"  „Mit solchen Dingen spaße ich nicht." Das war alles, was Goga sagte, aber von diesem Tag an herrschte zwischen ihnen ein stillschweigendes Einvernehmen, als wäre bereits alles entschieden und man müßte nur noch den Tag festsetzen, an dem Fedja das Haus der Tante für immer verlassen würde. Auf seinem Weg durch die staubigen Straßen betrachtete er aufmerksam die Häuser, die Aushängeschilder der Läden und alles andere, als wolle er es sich für immer einprägen. Der August ging ins Land. Morgens hinterließen die Räder der Tankwagen tiefe Spuren im taufeuchten Gras. Aus den Schluchten und Niederungen kroch die Kälte hervor, die sich in der Nacht angesammelt hatte. Am kühlen Augusthimmel erklang deutlich und weithin vernehmbar das Brummen der Motoren. Schon längst hatte Goga das Versprechen abgegeben, Fedja einmal mitzunehmen. Vorerst machte ihnen die Witterung einen Strich durch die Rechnung. An den wenigen Tagen, wo das Wetter einigermaßen günstig war, bewältigte die Abteilung mit Mühe und Not die vorgesehenen Transportflüge. Fedja hatte schon alle Hoffnung verloren. Eines Abends erklärte Goga überraschend, daß sie am nächsten Morgen gemeinsam fliegen würden. Es war ein ruhiger, sonniger Tag. Die „Schawruschka" erhob sich über die Rollbahn und flog mit Westkurs davon. Vier Stunden später, nach einer ungefährlichen Landung in Janow-Stan, sollte sie wieder zur Stelle sein. Als die Frist um war, fehlte von der Maschine noch jede Spur.  Der Flughafen trat mit Janow-Stan in Funkverbindung. Dort war Gogas Flugzeug nicht gesichtet worden. Es wurde Abend. Auch am folgenden Morgen kehrte Goga nicht zurück. Da stiegen alle acht Maschinen seiner Abteilung auf, um ihn zu suchen. Bis zum Anbruch der Abenddämmerung kurvten sie über der Taiga, und die Piloten hielten nach den grünen Tragflächen Ausschau. Unverrichteterdinge kehrten die acht Maschinen zum Flughafen zurück. Niemand wußte zu sagen, was aus Goga und seinem kleinen Freund geworden war. Fedjas Tante lief wie rasend durch das ganze Gebäude, von Zimmer zu Zimmer, von Stockwerk zu Stockwerk. Bis in die fernsten Winkel schallte ihre kreischende Stimme. „Mörder!" Die verstörten Piloten schlichen schuldbewußt an ihr vorbei. Die Kassiererin, die am Vortag Fedjas Flugkarte ausgeschrieben und das von Goga entrichtete Geld eingestrichen hatte, hockte verängstigt und zitternd in ihrem Kämmerlein. Aber die Stimme drang auch zu ihr. Sie bohrte sich unter die Kopfhörer des Funkers, sie schrillte durch die mit Filz abgedichtete Tür, die zum Arbeitszimmer des Chefs führte. Überall hörte man das gellende, beinah triumphierende Geschrei von Fedjas Tante. „Mörder!" Fedja saß neben Goga. Tief unter sich sahen sie die Windungen der Flüsse. Die Erde glich einem riesigen Eierkuchen. Sie war plattgedrückt und rund. Da sie fortgesetzt schwankte, verspürte Fedja leichten Schwindel. Wenn die Maschine eine Kurve zog, schien die Erdscheibe auf der Kante zu stehen, und der Schatten des Flugzeugs glitt darüber hin wie über eine Wand. Fedja war hellwach. Er reckte sich vom Sitz empor. Am ganzen Körper spürte er die Stöße und Schwankungen der Maschine. Die Kabine hatte dünne Wände. Wie klein und zerbrechlich die „Schawruschka" auf einmal wirkte. Fedja wagte sich nicht zu regen. Allmählich schwand die Furcht. Fedja drehte sich zu Goga um und sah eine Zeitlang zu, was sein großer Freund tat, um das Flugzeug fest in die Gewalt zu bekommen. Es war erstaunlich einfach. Goga hockte in gekrümmter Haltung auf dem Pilotensitz und preßte den Steuerknüppel mit kurzen Stößen vor und zurück. Gleichzeitig federten seine Beine auf den Fußhebeln. Die leichten Bewegungen flossen ineinander über. Fast sah es aus, als übte Goga einen modernen Tanz. Fedja dachte: Wenn er jetzt Steuerknüppel und Fußhebel losläßt, wird die ,,Schawruschka" genauso ruhig und gerade weiterfliegen. Aber als Goga den Kopf wandte, um seinen kleinen Begleiter anzusehen, und dabei für eine Sekunde die Maschine sich selbst überließ, rutschte die Erdscheibe sofort wieder auf die Seite. Etwa eine Stunde nach dem Start stieß der Flieger Fedja in die Seite und deutete mit einer Kopfbewegung über den Rand des Flugzeugs. Fedja reckte vorsichtig den Hals. Unter ihnen flatterten Wildgänse, eine große Schar. Fedja sah die schweren Flügelschläge und wunderte sich, weshalb die Vögel nicht vorwärts kamen. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, daß sie etwas langsamer flogen als die ,,Schawruschka". Der Schatten des Flugzeugs fiel auf die Gänse. Die Flügelschläge wurden wilder. Jetzt war der Schwarm sogar schneller als die Maschine. Der Abstand wuchs wieder. Da gab Goga Gas. Der Motor heulte auf. Das Geräusch peinigte die Gänse. Sie gaben das Letzte her und ließen das Flugzeug abermals ein Stück hinter sich. Fedja schmunzelte. Goga streifte ihn mit einem Blick, rückte seinen Helm zurecht und setzte sich fester in den Sessel. Der Steuerknüppel fuhr nach vorn. Augenblicklich rutschte der Horizont in die Höhe und verschwand. Fedja merkte, wie er federleicht wurde. Das Flugzeug schien unter seinem Körper fortzugleiten. Er wollte schreien, daß Goga mit dem Unfug aufhören sollte, doch da wurde er schon auf den Sitz zurückgedrückt. Die Maschine lag wieder waagerecht. Sie flog mitten in den Gänseschwarm. Die Vögel stoben auseinander. Als Fedja begriff, daß alles vorüber war, freute er sich, die Furcht bezwungen zu haben. „Wir sind Sieger", rief er begeistert, „wir haben sie eingeholt." Völlig überraschend machte eine der Gänse kehrt und flog der „Schawruschka" entgegen. Ob sie vor Schreck ihr bißchen Vogel verstand verloren hatte oder in einem törichten Anfall von Tollkühnheit hoffte, den Feind in die Flucht zu schlagen, ist schwer zu entscheiden. Jedenfalls huschte sie wie ein flüchtiger Schatten auf das Flugzeug zu. Fedja hörte einen dumpfen Aufprall. Ein Zittern lief durch die Maschine, die wie irrsinnig zu wackeln begann. Mit einer blitzschnellen Bewegung schaltete Goga die Zündung aus. Schon hörte das Schütteln auf, genauso plötzlich, wie es begonnen hatte. Alles war still, unheimlich still. Mit Windeseile kam die Erde näher. Entsetzt, aber mit einem Schimmer von Hoffnung in den Augen, blickte Fedja seinen Freund an. Goga war allmächtig, er hatte eine feste Hand, er vermochte sie zu retten. Fedja klammerte sich an diesen Gedanken wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm. Goga saß vornübergeneigt auf seinem Sessel, blinzelnd, als visierte er ein Ziel an. Das Flugzeug lag waagerecht. Es ergab sich dem kräftigen Mann, sank jedoch unablässig tiefer. Immer näher kamen die Spitzen der Fichten. Unten dehnte sich die Taiga. Mit einer letzten, genau berechneten Bewegung des Steuerknüppels riß Goga die Maschine nach unten, hielt auf eine kleine, von jungen Tannen bewachsene Fläche zu. Dann spürte Fedja Gogas Hand auf seiner Schulter. Sie drückte ihn gewaltsam zurück. Gleich darauf wurde der Bauch der Maschine von heftigen Schlägen erschüttert. Eine unwiderstehliche Gewalt zwang Fedja aus dem Sitz und riß ihn nach vorn gegen das Schaltbrett. Noch sah er die dahinrasenden Baumwände. Über seinem Kopf zuckten die Zweige. Ein letzter, schwerer Schlag traf die „Schawruschka". Fedja verlor das Bewußtsein.  Still war es rings umher. Durch den niedrigen Forst zog sich ein breiter Korridor von niedergewalzten Grashalmen. Wie aufgeschreckte Tiere zitterten die jungen Tannen. Nur langsam richteten sie ihre biegsamen Stämme wieder in die Höhe. Als Fedja die Augen aufschlug, erblickte er über sich einen dunkelgrünen Himmel. Im Kopf pochte dumpfer Schmerz. Von der zerschundenen Stirn tropfte Blut auf den Anorak. Nach und nach wurde der Blick klarer. Fedja begriff, daß er nicht in den Himmel starrte, sondern in ein grünes Dach von Tannenzweigen. Goga saß nicht mehr neben ihm. Vorsichtig kletterte Fedja aus der Maschine. Der Kopf schmerzte unerträglich. Es kostete große Überwindung, sich umzuschauen. Goga lag etwa fünf Meter vor dem zertrümmerten Flugzeug im Gras. Fedja schwankte auf ihn zu. Jeder Schritt wurde zur Qual, war wie ein schmerzhafter Schlag in den Nacken. Neben Goga ging er in die Knie. „Goga!" Der Flieger schwieg. Er lag auf dem Gesicht, unmittelbar am Stamm einer Fichte. Der linke Arm war ausgestreckt, als hielte er noch den Steuerknüppel in der Faust. Behutsam hob Fedja den schweren Kopf vom Boden auf. Er starrte in das vertraute Gesicht. „Goga!" Der Flieger öffnete die Augen, sah Fedja mit einem trunkenen, verständnislosen Blick an. „Ich komme ja schon", murmelte er ruhig, gleichmütig, bewegte die Hand, um sich an den Kopf zu fassen. Schmerz und Freude vermischten sich auf seinem Gesicht. „Du lebst?" fragte er ungläubig. „Mein Kopf", stöhnte Fedja. „Aber du lebst. Ich muß mich aufsetzen. Hilf mir." Fedja krallte die Finger in Gogas Lederjacke. Goga stützte beide Hände auf die Erde und rutschte mit dem Rücken gegen den Stamm der Fichte. Seine Stirn bedeckte sich mit Schweiß. Er schloß die Augen und flüsterte stöhnend: „In der Kabine — in der Seitentasche — unsere Bordapotheke. Hol sie her."  Mühsam wankte Fedja zum Flugzeug, kroch in die Kabine, fand dort den kleinen Kasten und schleppte ihn zurück. Goga nahm eine Binde heraus, legte Fedja einen breiten Verband um die Stirn. Die Wunde hörte zu bluten auf. „Jetzt die Plane aus dem Gepäckraum. Hilf mir beim Aufstehen."  Fedja setzte sich hin. Goga schlang ihm die Arme um den Hals. Schwankend rappelten sich beide auf die Füße. Fedja dröhnte der Schädel, aber es entging ihm nicht, daß sich Goga nur unter Aufbietung aller Kraft weiterschleppte.  „Warum kannst du nicht allein laufen?" fragte er besorgt.  „In der Brust stimmt was nicht. Scheinen die Rippen zu sein."  Mit vereinten Kräften zogen sie die Plane heraus und breiteten sie vor der Fichte aus, gegen deren Stamm Goga geschleudert worden war.  Dort verbrachten sie die Nacht. Als es tagte, hörten sie leises Motorengeräusch, das bald wieder verstummte. „Hier finden sie uns nicht", meinte Goga. „Wir sind rund dreißig Kilometer von der Flugstrecke abgekommen. Die Maschine steckt mitten im Tannendickicht. Von oben ist sie nicht zu sehen. Verstehst du, Fedja?" „Ja." „Kannst du laufen?" „Gleich." Fedja stand auf. Vor seinen Augen tanzte und flimmerte es. „Mein Kopf ist wie gespalten. Ich will gehen und kann nicht." Goga blickte Fedja gerade in die Augen. „Das ist alles zum Verrücktwerden. Wenn ich allein war, habe ich den Gänsen häufig einen kleinen Schreck eingejagt, aber es wäre unmöglich gewesen, eine zu rammen, auch wenn ich gewollt hätte. Sie sind immer schön ausgewichen. Nur dieser idiotische Kerl gestern mußte gegen den Propeller fliegen und ihn kaputt machen. Versteh mich nicht falsch, mein Kleiner. Ich will mich nicht herausreden. Wenn wir zurückkommen, habe ich nichts zu lachen." „Von mir erfährt keiner was", versicherte Fedja. „Schönen Dank", sagte Goga langsam, „schönen Dank, Fedja. Ich werde selber hart sein gegen mich. Aber jetzt muß ich erst mal fort von dir. Wenn ich auf die Beine komme, schaffe ich es bestimmt. Ich wül dich nicht im Stich lassen, verstehst du. Es ist einfach so, daß sie uns hier niemals finden würden. Bis zum Fluß sind es mindestens zwanzig Kilometer. Sie würden überhaupt nicht auf den Gedanken kommen, uns auf diesem Abschnitt zu suchen. Du mußt mir nur ein wenig behilflich sein." Der Junge stützte die Unterarme auf den Boden. Der Flieger stemmte sich mit der ganzen Last seines Körpers gegen den schmalen Rücken, kam mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung auf die Füße und stand schwankend vor Fedja, der sich rasch wieder hinsetzen mußte, weil ihn die Kräfte verließen. Goga warf zwei Tafeln Schokolade auf die Plane. „Das ist alles, was wir haben. Unsere eiserne Ration. Hier hast du eine Leuchtpistole. Sie ist geladen. Wenn du einen Motor hörst, schießt du in die Luft. Die Schokolade mußt du dir einteilen. Sieh zu, daß sie für zwei Tage reicht. Nun wickle dich in die Plane. Es wird kalt. Ich kann dir nicht helfen, sonst komme ich nicht wieder hoch." Er ließ die Pistole fallen und warf drei dicke Hülsen dazu. Das waren Leuchtpatronen. Fedja hatte Mühe, den Sinn der Worte zu erfassen. Er litt an rasendem Kopfweh. Vor seinen Augen verschwamm alles. Als er den Kopf hob, erblickte er durch dichten Nebel die hünenhafte Gestalt des Fliegers, der merkwürdig zitternd und schwankend hinter den Bäumen verschwand. Fedja saß reglos auf der Plane. Die geringste Bewegung verursachte reißende Schmerzen. In seinem Gehirn war es leer. Er dachte weder an Goga noch an sich, noch daran, ob man ihn hier finden würde oder nicht. Fünf Meter von der Fichte entfernt lag die zertrümmerte „Schawruschka". Der eine Flügel hatte sich in die Erde gewühlt. Die tote Maschine gehörte der Taiga. Sie schien ein Teil von ihr geworden zu sein. Gleichmütig betrachtete der Junge das libellenähnliche Profil. Auch daß sich der eine Schwimmer in einen Ameisenhügel gebohrt hatte, ließ ihn kalt. Zu essen verspürte er keine Lust. Neben ihm lag die Schokolade. Ameisen krochen darüber. Er hätte eine Hand ausstrecken müssen, um die Tafeln in die Tasche zu stecken. Es war ihm zuviel. Alles war ihm zuviel. Gegen Abend hörte er wieder Motorengeräusch. Es kam näher und schien bald über seinem Kopf zu schweben. Er hob die Leuchtpistole. Eine Feuerkugel raste in die Luft. Das Flugzeug entfernte sich. Das Brummen wurde schwächer. Nacheinander stopfte Fedja zwei Patronen in den Lauf und jagte die Raketen der davonfliegenden Maschine nach. Der Pilot bemerkte es nicht. Der Junge wickelte sich fester in die Plane. An Schlaf war nicht zu denken. Bis zum Morgen hockte er vor dem Stamm der Fichte und lauschte auf jedes Geräusch, das aus der Dunkelheit an sein Ohr schlug. Angst hatte er nicht. Ihm war alles einerlei. Als die Nacht zu Ende ging, fielen Tautropfen auf die Plane. Wenn sich Fedja bewegte, kamen die Tropfen ins Rollen, flossen zusammen und rannen herab. In den Falten bildeten sich kleine Lachen. Mit beiden Händen packte Fedja die Plane und zog die Falten an den Mund. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er schrecklichen Durst hatte. Dies war der Morgen des dritten Tages. Später lärmte wieder ein Motor in der Luft. Der Junge lauschte auf das gedämpfte Tacken. In seinem geplagten Kopf machte sich die verschwommene Vorstellung breit, daß er kein Recht habe, auch die letzte Patrone auf gut Glück in die Luft zu knallen. Der Gedanke fraß sich fest. Alles andere tat Fedja wie im Traum. Er rappelte sich hoch, schwankte mit weichen Knien zum Flugzeug und drehte den Benzinhahn auf. In einem dicken Strahl spritzte der Treibstoff auf die Erde. Fedja stellte sich hinter einen Baum und schoß in die Pfütze, die sich im Nu entzündete. Wie eine Fackel stand die Flamme in der Taiga. Eine Rauchfahne flatterte zum Himmel auf. Das Rettungskommando, das der Pilot an die Brandstätte gerufen hatte, entdeckte den Jungen fünfzig Meter von dem brennenden Flugzeug entfernt im Gras. Als Fedja nach Goga gefragt wurde, konnte er schon nicht mehr sprechen. Er zeigte nur noch mit einer matten Handbewegung die Richtung an, in die sein Freund gegangen war. Den Flieger fanden sie jenseits des Flusses an einen Baum gelehnt. Verbissen hielt er sich auf den schwachen Beinen, rutschte kraftlos am Stamm herab und richtete sich auf. Er durfte nicht fallen. Dazu hatte er kein Recht. Wieder aufzustehen, wäre unmöglich gewesen. Zwanzig Kilometer hatte Goga zurückgelegt und für diese Strecke annähernd vierundzwanzig Stunden gebraucht. Durch dichtes, hüfthohes Gras war er von Baum zu Baum gewankt, über modernde Äste gestolpert, hatte kein einziges Mal gewagt, sich hinzulegen oder auch nur zu setzen — aus Furcht, nicht wieder auf die Beine zu kommen. Noch sah er die Leute nicht, die ihn suchten. Er ließ den Baumstamm los und taumelte mit vornübergebeugtem Körper weiter. Bis zur nächsten Siedlung verblieben zwei Kilometer. Beide, der Mann und der Junge, wurden mit einem Flugzeug ins Krankenhaus gebracht. Wie sich herausstellte, hatte Fedja eine Gehirnerschütterung. Bei Goga waren vier Rippen gebrochen. Noch in der Nacht verlangte Goga den Arzt zu sprechen. „Was ist mit dem Jungen?" „Müssen Sie das wirklich jetzt wissen?" erwiderte der Arzt ungehalten. „Deswegen lassen Sie mich von den Betten meiner Patienten rufen? Sie sollen ruhigliegen und keine Fragen stellen." „Ich bitte Sie aber", entgegnete Goga hartnäckig, „ich bitte Sie sehr." „Er hat eine Gehirnerschütterung." „Wie kann man ihm helfen?" „Einzig und allein durch Ruhe." „Er wird durchkommen?" „Sehr wahrscheinlich." „Und völlig gesund werden?" „Das ist möglich." „Lassen Sie bitte einen Piloten holen." „Einen Piloten?" fragte der Arzt erstaunt. „Mitten in der Nacht?" „Ja. Irgendeinen aus dem Linienverkehr. Sie schlafen im Hotel." „Ich bin doch nicht verrückt", entgegnete der Arzt.  „Ich bitte Sie aber", sagte Goga wieder, „ich bitte Sie sehr."  Er erreichte, was er wollte. Kurze Zeit später kam ein Pilot.  „Hör zu, Freund", wurde er von Goga empfangen, „wann fliegst du nach Krasnojarsk?" „Morgen." „Und zurück?" „Übermorgen." „Bring einen Professor mit. Der Arzt wird dir erklären, was für einen." „Er braucht keinen Professor", brauste der Arzt wütend auf. „Er braucht nichts als Ruhe." „Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten." Goga sah den Arzt bittend an. „Aber ich habe keine Wahl. Der Junge muß leben." „Schlafen Sie", schrie der Arzt, der endgültig die Fassung verlor, „schlafen Sie unverzüglich. Und Sie, Genosse, Sie gehen wieder nach Hause."  Der Herbst kam mit Graupel- und Hagelschauern. In Erwartung des ersten Frostes lagen am Fluß die Kutter auf Rollen. Mit der Schiffahrt ging es zu Ende.  Durch das Fenster drangen die tiefen Bässe der Dampfersirenen in Fedjas Zimmer. Das Krankenhaus stand auf einer Anhöhe unmittelbar über dem Hafen. Fedja durfte schon aufstehen. Dreimal war die Tante gekommen, hatte weinend am Bett gesessen, den weißen Kittel ausgiebig mit Tränen benetzt und Fedja um Rat gefragt, wo sie am besten klagen sollte, beim hiesigen Gericht oder gleich in Moskau. Sie wollte von Goga Schmerzensgeld für die ihrem Neffen zugefügte Körperverletzung verlangen. Auch einige Klassenkameraden kamen Fedja besuchen. Die viel zu großen weißen Kittel hingen komisch an ihnen herum. Die Kinder fühlten sich unbehaglich. Sie sprachen im Flüsterton und gingen bald wieder. Die Apfelsinen, die sie auf den Hocker gelegt hatten, dufteten herrlich nach Frühling. „Wenn ich gesund bin, fahre ich fort von hier", hatte Fedja beim Abschied gesagt. Der Pilot brachte tatsächlich einen Spezialisten aus Krasnojarsk mit. Doch tobte der Professor nicht minder heftig als der Arzt des kleinen Krankenhauses. Es gäbe keinen Grund, in Panikstimmung zu verfallen, schrie er wütend und flog mit dem nächsten Flugzeug wieder ab, ohne für den nutzlosen Besuch eine Kopeke genommen zu haben. An einem Oktobertag trat Goga ins Zimmer. Er sagte: „Heute reise ich. Mit dem letzten Dampfer." Fedja hatte das erwartet. Trotzdem würgte etwas in der Brust. In seiner Kehle saß ein Kloß, der ihm fast die Luft abschnürte. Der Junge drehte sich zur Wand. Er kämpfte gegen die Tränen. „Und ich?" stieß er endlich hervor. „Morgen werde ich entlassen." „Ich habe unsere Abmachung nicht vergessen. Weißt du, Fedja, ich brauche ein Jahr Zeit, um wieder ein Mensch zu werden. Gegenwärtig traut mir keiner mehr, und die Leute haben recht." „Das von den Gänsen habe ich nicht erzählt", flüsterte Fedja. „Sie waren hier, sie wollten mich aushorchen, aber ich habe nichts verraten." „Darum geht es doch nicht. Glaubst du an einen Schwur? Ich schwöre, daß ich dich in einem Jahr holen werde. So lange brauche ich. Gegenwärtig ist niemand berechtigt, mir zu vertrauen, auch du nicht. Weißt du, ich bin aus dem Komsomol ausgeschlossen worden." „Na und?" meinte Fedja. „Ich habe Flugverbot." „Na und?" „Sie haben mich in eine andere Abteilung versetzt. Ich kann unsern Jungs nicht mehr in die Augen sehen." „Na und, na und?" fragte Fedja hartnäckig. „Wozu erzählst du mir das alles? Du willst mich nur nicht mitnehmen. Das ist auch gar nicht nötig." „Aber Fedja, sei doch nicht so empfindlich." Goga packte ihn an den Schultern. Der Junge riß sich los. „Ich gebe dir mein Wort. In einem Jahr. Heute ist es zu früh. Im Augenblick weiß ich selber nicht, wie es mit mir weitergehen soll." Goga erhob sich. Von der Tür aus murmelte er ein nichtssagendes Abschiedswort: „Sei ein Mann." Fedja wollte kein Mann sein. Er stand am Fenster und sah zu, wie Goga mit seinem Koffer zum Hafen ging. Unter den wuchtigen Schritten schwankte die Landungsbrücke. Ehe Goga den Dampfer betrat, blieb er stehen und drehte sich um. Wie elektrisiert fuhr Fedja zurück. Ein langgezogenes Heulen brachte die Fensterscheibe zum Klirren. Fedja spürte es an dem Zittern auf der Stirn. Hafenarbeiter rollten eilig die letzten Fässer heran. Ein zweites Signal zerriß die Luft und ertrank in dem grauen, dichten Nebel, der auf den Fluß sank. Ein Matrose schritt über die Planken, machte gemächlich das Tauende los. Fedja stieß das Fenster auf und kletterte hinaus. Wie er war, in seiner grauen Krankenhaushose und dem weißen Kittel, rannte er die Anhöhe hinab. Als die Sirene zum drittenmal heulte, stand er bereits auf dem Dampfer, sprang über mehrere Körbe hinweg und erblickte Gogas nassen Wettermantel. „Ich wollte dir nur sagen ...", begann Fedja. Die Maschine stampfte. Langsam entfernte sich das Schiff von der Landungsbrücke. „Laß nur", begrüßte ihn Goga froh, „ich wollte dir auch sagen ... Verstehst du, Fedja? Beim ersten Anlegen kaufen wir was zum Anziehen für dich." Die Netze Das Haus stand am Jenissej, unmittelbar vor dem hohen, steüen Ufer. Unten legten die Schiffe an. Im Frühjahr sah man dort die ersten Dampfer. Und die letzten Eisschollen. Wenn sie tosend und berstend gegen die Landungsstelle stießen, klang es wie eine Drohung: Wumm! Standgehalten? Standgehalten! wummerte das Ufer als Echo zurück. Das schief gewordene Haus klammerte sich verzweifelt an den Boden. Jahraus, jahrein brandeten die Wellen gegen das Ufer, unterhöhlten es. Brocken auf Brocken stürzte ins Wasser. Unaufhaltsam kroch der Hang auf das Häuschen zu. Schon klafften Risse zwischen den Balken. Moosbatzen hingen heraus, weiß, wie gargekocht. In weiten Wellen krümmte sich das grünschimmlige Dach. Schief war das Haus, gebrechlich, aber es stand. Es stand... Heute schreibt mir der Vater, es sei eingestürzt. Während ich den Brief in meinen Händen halte, tauchen Bilder auf, Erinnerungen: Stepan, er schüttelt die Faust, droht Sjowka und mir.  Jetzt erst weiß ich, daß wir endgültig gesiegt haben. Niemand vermochte zu sagen, woher er gekommen war, dieser Stepan Shuikow. Eines Tages stand er da und kaufte das alte Haus. Er bekam es fast geschenkt. Wer wollte schon darin wohnen. Über kurz oder lang mußte es zusammenbrechen. Stepan hatte es genommen. Bald besaß er ein Boot. Es sprach sich herum, daß er schwarz fischte. Sein Gerät bezog er wie die Mitglieder der Fischereigenossenschaft aus dem Kaufhaus. Wenn wir in die Schule gingen, begegneten wir gewöhnlich seinem Lastwagen, einem robusten „SIL". Vom Holzwerk bis zum Lager am Jenissej sind es achthundert Meter. Mit Bohlen beladen hin, leer zurück, zwanzigmal am Tage, das macht müde. Um sieben Uhr abends aber fand man ihn todsicher in seinem Boot. Er ruderte stets die gleiche Strecke, quer über den Fluß. Was er am andern Ufer trieb? Wer wußte das zu sagen? Der Jenissej ist breit und groß. Und verschwiegen. Vermutungen gab es viele, Gerüchte: Er ist ein Fischdieb. Mein Vater Wollte sich die Haare raufen, wenn er daran dachte, daß er diesem Kerl die Zuzugsgenehmigung erteilt hatte. Jedoch wer konnte damals, als Stepan das wacklige Häuschen kaufte, ahnen, was wir später erfuhren? Unsere Fischer hatten auf den Zugereisten einen heiligen Zorn. Sie beschlossen, ihm aufzulauern, der Sache auf den Grund zu gehen, ihn zu überführen. Es blieb bei dem Entschluß. Der gute Wille war vorhanden. Was fehlte, war Zeit, die hatten unsere Leute nicht. Nur die Fischereikontrolle blieb hart. Für sie ging es ums Prinzip: Wer wen. Die Kollegen von der Fischereikontrolle rupften mit Stepan ein Hühnchen. Oder war es umgekehrt? Jedenfalls leisteten sie sich ein Ding, über das die Menschen am Jenissej eine Woche lang lachten. Vom frühen Abend an lagen sie bei der Klosterinsel auf der Lauer. Zu ihrer Verfügung hatten sie ein Gleitboot. Gegen fünf Uhr morgens sichteten sie Stepan. Er ruderte heimwärts, gemächlich, allein. Sie waren zu dritt, mit achtzig PS auf dem Kasten. Er besaß zwei Ruder und seine Muskeln. Aber sein Boot war schmal, schnittig, schob eine schöne Bugwelle vor sich her, auch wenn es nur langsam über das Wasser glitt. Als er fünfhundert Meter von ihnen entfernt war, warfen sie den Motor an. Sie wollten ihm den Weg abschneiden. Er ruderte wie der Teufel, als hielte er zwei Strohhalme in den Händen. Wer am Ufer stand und zusah, mußte ihn bewundern. Das Gleitboot hatte seine Not. Der Motor war nicht richtig eingesetzt, es stimmte etwas mit dem Schwerpunkt nicht. Bis zum großen Graben, der tief ins Land führt und zu beiden Seiten von dichtem Purpurweidengestrüpp überhangen ist, betrug die Entfernung einen Kilometer. Wenn Stepan den großen Graben erreichte, hatten die von der Fischereikontrolle das Nachsehen. Stepan dachte jedoch nicht daran, sich auf diese Weise aus der Schlinge zu ziehen. Er behielt seinen geraden Kurs aufs andere Ufer bei. Als er ausstieg und sich eine Zigarette ansteckte, war das Gleitboot nach wie vor fünfhundert Meter entfernt. Trotzdem, seine Besatzung frohlockte: Es war eine Kapitulation. Stepans Nerven hatten der Belastung nicht standgehalten. Das Gleitboot erreichte das Ufer, die drei von der Fischereikontrolle sprangen an Land, sahen das Netz im Bug des Shuikowschen Bootes, die Fische — und waren zu aufgeregt, um alles näher in Augenschein zu nehmen. „Wirst du ein Protokoll unterschreiben?"  „Aber gewiß", erwiderte Stepan. „Nur wüßte ich nicht, wofür das gut sein sollte." „Damit wir schwarz auf weiß besitzen, daß du beim Fischen gegen die gesetzmäßigen Bestimmungen verstoßen hast." „Macht keine Witze. Ist denn ein neues Gesetz rausgekommen?"  „Das Gesetz ist alt. Wir werden dir den Paragraphen noch unter die Nase halten." „Warum droht ihr mir?" beschwerte sich Stepan.  „Das vertrage ich nicht. Ich bin eine ängstliche Natur. Meßt erst mal mein Netz aus. Dann reden wir weiter." Da wurden die Kollegen von der Fischereikontrolle stutzig. Sie sahen genau hin, nahmen das Netz hoch und wußten sofort, daß alles seine Richtigkeit hatte. Der Fang betrug nicht mehr als zehn Kilogramm, das Netz war höchstens fünfundzwanzig Meter groß. Beides entsprach den gesetzlichen Vorschriften. Sie verzichteten sogar darauf, es nachzumessen. „Warum hast du nicht gestoppt?" Stepan lächelte. „Ich wollte warm werden. Eine Art Frühsport." Am gleichen Tage wurde er von meinem Vater zur Miliz vorgeladen. „Shuikow", sagte mein Vater, „hör gut zu, Shuikow. Ich ermahne dich heute zum letzten Mal. Laß die Dummheiten sein."   Stepan stellte sich verwundert. „Dummheiten? Wie meinen Sie das, Chef?" „Das weißt du ganz genau. Gesetzesverstöße werden hier nicht geduldet." „Gesetzesverstöße?" fragte Stepan entgeistert. „Habe ich jemanden beleidigt, eine Schlägerei angefangen, mich betrunken?" „Hör zu, Shuikow", erwiderte mein Vater, „du machst mir nichts vor. Ich werde dich festnageln. Das ist sicher. Einmal habe ich dich bereits ertappt. Und verwarnt. Wenn du ein zweites Mal erwischt wirst, gehst du ins Kittchen." „Ach, das meinen Sie", staunte Stepan. „Nein, das ist längst vorbei. Ich habe es aufgegeben. Was dachten Sie? Ich stehe zu meinem Wort. Wo werde ich mich unglücklich machen?" „Uns machst du unglücklich", verbesserte mein Vater, „uns." Stepan reckte sich. „Chef, wie sprechen Sie mit mir? Was sollen die Drohungen? Ich bin ein Sowjetmensch, genau wie Sie. Wenn ich mir etwas zuschulden kommen lasse — bitte, dann ziehen Sie mich dafür zur Rechenschaft. Aber beleidigen dürfen Sie mich nicht." „Du bist ein Dieb, Shuikow", sagte mein Vater, „ein gewissenloser Parasit. Du stiehlst unsere Fische." „Ich habe einen Plan und erfülle ihn mit hundertzwanzig Prozent. Gelegentlich werde ich beim Bezirkskomitee vorsprechen müssen." „Sprich vor, bei wem du willst", erwiderte mein Vater. Natürlich tat Stepan nichts dergleichen. Nach wie vor fuhr er tagsüber seinen „SIL", nachts fischte er im Jenissej an Stellen, die allein er kannte. Gegen sechs Uhr kehrte er zurück. In seinem Boot schwammen große Blutlachen. Er fühlte sich so sicher, daß er auf die Mühe verzichtete, das Fischblut fortzuwaschen. Zu Hause angekommen, stieg er in den Wagen und verbrachte den ganzen Tag am Steuer. Seine Hände, die das Lenkrad hielten, waren von scharfen Angelhaken zerstochen. Sjowka wunderte sich, wie er das aushielt, und ich staunte auch. War es möglich, daß Habsucht einem Menschen solche Kräfte verlieh? Wir bewunderten Stepan und konnten ihn nicht ausstehn. So erging es allen, die ihn kannten. Eines Sonntagabends schlichen wir uns an sein Haus. Feiertags blieb er gewöhnlich daheim. Wir sahen durchs Fenster. Er saß am Tisch und blinzelte gähnend in die Lampe. Daß er nichts anderes tat als gähnen, erschien uns unheimlich. Wir spürten die Finsternis, die Kälte des Abgrunds im Rücken und gingen auf Zehenspitzen davon. Sjowka tastete die Erde ab. Als das Gesuchte gefunden war, holte er weit aus. Gleich darauf klapperte und schepperte etwas auf dem Dach. Es klang merkwürdig hohl. Dann quietschte die Tür. Ein grauer Schatten fiel auf die Treppe. „Wem juckt denn da das Fell!" schimpfte Stepan. „Mir", flüsterte Sjowka. Die Tür fiel ins Schloß. Unsere Angst war wie fortgeblasen. Sjowka meinte, wir beide könnten Stepan fangen. Im Grunde genommen sei das eine Kleinigkeit. Das ganze Problem bestehe darin, daß unsere Fischer keine Zeit hätten und die von der Kontrolle einen Abschnitt von zweihundert Kilometern überwachen müßten. Was aber meinen Vater angehe — nun ja, das sei ein alter Mann, der nur noch blinde Drohungen ausspreche und der Sache nicht gewachsen sei. Die letzte Bemerkung erregte meinen Widerspruch. „Er hat ihn schon einmal ertappt."  „Damals war Stepan noch leichtsinnig. Jetzt ist er auf der Hut. Wir müssen ihn verfolgen. Kannst du nicht ein Fernglas besorgen?" „Nein", erwiderte ich kurz und bündig. Ich war wütend. Er hatte meinen Vater beleidigt. „Dann werde ich mich eben um eins kümmern", bemerkte Sjowka. Tags darauf brachte ich ein Fernglas mit. Es war Juni, weder Tag noch Nacht. Wir gingen im Hellen zu Bett und standen bei Sonnenlicht auf. Zu Hause einzuschlafen fiel schrecklich schwer. Am Ufer war es offenbar leichter. Sjowka hatte die erste Wache. Als ich ihn ablösen wollte, lag er in tiefem Schlaf. Stepan sei bestimmt nicht aufgetaucht, beteuerte er. Ich fuhr ihn an. „Flunkere nicht. Du hast ja noch das Muster von den Grashalmen auf der Backe. Wir müssen zu zweit aufpassen. Dann kann so was nicht passieren." Das nächste Mal zogen wir gemeinsam auf Posten. Es war gegen zwei Uhr und ausgesprochen ruhig. Wir hörten das Gemurmel des Stromes. Nicht weit von uns entfernt schwammen einige Taucher auf dem Wasser. Als sie mit den Flügeln schlugen, ging es mir durch und durch: Das ganze Ufer schien davon zu rauschen. Ich starrte auf den Jenissej, bis mir schien, der Fluß hebe sich höher und höher und trete aus den Ufern.  Endlich erblickten wir drüben einen schwarzen Strich, der gegen die Strömung schwamm, bald jedoch hinter den Büschen verschwand.  „Dort gibt es viele Buchten", sagte Sjowka, „merk dir genau die Stelle." Etwa eine Stunde später kam das Boot wieder zum Vorschein. Es näherte sich der Siedlung. Wir lagen am Rande des Steilufers auf dem Bauch und schauten abwechselnd durchs Glas. Beim letzten Mal sah ich Stepans Gesicht so dicht vor mir, daß ich die Schweißperlen auf seiner Stirn zählen konnte. Shuikow ruderte schnell. Er wollte nicht zu spät zur Arbeit kommen. Wenige Tage danach bat ich meinen Vater erneut, sein Boot benutzen zu dürfen. „Nein", war die Antwort, „ich hab's einmal untersagt. Dabei bleibt es." „Und wenn ich das Boot diesmal sehr dringend brauche?" fragte ich. „Auch dann nicht. Das ist der Jenissej und nicht der Dnepr." „Stimmt", sagte ich, „nicht der Dnepr und nicht der Parana." „Nicht was?"  „Der Parana. Ein Fluß in Südamerika."  „Na schön", meinte mein Vater.  „Und nicht der Rio Grande." „Na schön. Das Boot bekommst du trotzdem nicht." „Übrigens ist das ein und derselbe Fluß." „Daß du mir nicht das Boot anrührst", sagte er warnend. Natürlich rührte ich es an. Wenn wir Stepan gefangen hatten, würde man uns alles vergeben. Daß wir ihn fingen, stand für uns fest. Als Vater eingeschlafen war, schlich ich in sein Zimmer, zog die Pistole aus der Ledertasche, schüttelte den Schlüssel auf die flache Hand und tat die Pistole zurück. Sjowka ging einen Schritt weiter. Er brachte das Gewehr seines Vaters angeschleppt, freilich ohne Patronen. Es war eine Jagdflinte, die am ganzen Jenissej nicht ihresgleichen hatte, ein Drilling, bestehend aus zwei nebeneinanderliegenden Läufen für Schrot und einem dritten darüber, für Kugeln. Gegen dieses Prachtstück hätte man glatt ein Motorboot eintauschen können, aber Sjowkas Vater wollte sich davon nicht trennen. Um drei Uhr ruderten wir ans andere Ufer, zogen das Boot ins Weidengebüsch und legten uns auf die Lauer. Es war eine sonnige, windstille Nacht. Unzählige Mücken summten uns um die Ohren. Wir scheuchten sie von den Gesichtern, fuchtelten wie toll mit den Armen, aber die Biester setzten sich auf den Rücken und die Beine und stachen durch die Kleidung. Einige waren dreist genug, sich auf den Händen niederzulassen. Nach einer halben Stunde schien die Haut mit Mückengift gesättigt. Ich verspürte am ganzen Körper ein Kribbeln und Jucken, als hätte ich mich in Brennesseln gewälzt. „Ich möchte nur wissen, wovon sie sich ernähren würden, wenn wir nicht gekommen wären", meinte Sjowka tiefsinnig. Nach einer Stunde waren wir dermaßen zerstochen, daß wir schlechte Laune bekamen und uns beinah in die Wolle gerieten. Zum Glück nahte Stepan. Wir hatten ihn gar nicht bemerkt. Als wir das Plätschern der Ruder hörten, war er nur noch zehn Meter entfernt. Wir erstarrten, wagten uns nicht zu rühren, bis sein Boot hinter einer Biegung des Grabens verschwand. Ich verstehe heute noch nicht, wo ich die Kraft hernahm, fünf Minuten lang diese Strapazen auszuhalten. Als ich beide Hände gegen die Stirn preßte, platzten die prall gewordenen Mücken wie reife Schoten. Es knallte richtig. Wir fuhren hinterher. Unsere Ruder verursachten einen Höllenlärm. Endlich entdeckten wir das aufs Land gezogene Boot. Inzwischen mochte eine halbe Stunde vergangen sein. Wir sahen einen schmalen Pfad, der in die Taiga führte. Unseren Kahn versteckten wir in einer kleinen Bucht. Ich sprang ans Ufer und schaute mich um. Von hier waren weder das Dorf noch der Jenissej zu sehen. Ich blickte Sjowka fragend an. „Komm", flüsterte mein Freund. „Laß das Gewehr lieber hier", riet ich. „Und wenn es gestohlen wird?" Sjowka bog vorsichtig die Zweige auseinander und schritt voraus. Der Pfad führte auf eine Wiese, wo nur wenig Bäume wuchsen. Dort erblickten wir Stepan. Er ging von einem Stamm zum andern und hängte sein Fanggerät auf: eine etwa fünfhundert Meter lange Schnur mit ungefähr zweihundert Stahlhaken. Am anderen Ende der Wiese stand eine Laubhütte. An den eingerammten Pfählen waren mehrere Reihen Netze aufgespannt, insgesamt etwa dreihundert Meter. Ein beachtlicher Reichtum. Wenn der unserer Fischereikontrolle in die Hände fiel, würde es diesem Stepan Shuikow mindestens zwei Jahre Gefängnis eintragen. Wir standen zusammengekauert hinter den Sträuchern und wußten nicht, was wir tun sollten. Stepan setzte seinen Rundgang fort. Sjowka hielt das Gewehr umklammert. Die Mücken zerstachen ihm Arme und Gesicht. Es sah aus, als hätte er graue Handschuhe angezogen. Um die Plagegeister fortzujagen, schnitt er komische Grimassen, aber die Mücken saßen wie angeleimt auf der Haut. Schließlich wurde es ihm zu bunt. Er zog das Gewehr in die Schulter. „Hände hoch!" Stepan stöhnte auf und ließ die Fangleine fallen. Wir hörten das Klirren der Haken. Langsam drehte sich der Fischdieb um. „Hände hoch!" Aus dem Gebüsch gähnten ihn die Mündungen dreier Läufe an. „Aber Genosse", sagte er halblaut, „laß die Scherze." „Gehen Sie voraus, vorwärts marsch!" befahl Sjowka und machte den Fehler, auf die Wiese zu treten. Als Stepan den Jungen sah, verwandelte sich sein Gesicht. Er dachte nicht daran, die Hände zu heben, sondern kam langsam auf uns zu. „Hände hoch!" wiederholte Sjowka verzweifelt. Stepan näherte sich von der Seite, packte mit der Linken die Drillingsläufe, zog Sjowka auf sich zu und schlug ihn mit der Rechten ins Gesicht. Mein Freund fiel hin. Stepan hielt das Gewehr gegen das Licht, genauso bedächtig, wie er alles übrige getan hatte, stellte fest, daß es nicht geladen war, und schmetterte es gegen den Stamm einer Birke. Der Kolben flog ab. Stepan bückte sich, um ihn aufzuheben. Er schleuderte ihn mitsamt den Läufen zu Sjowka hin. „Das war mal ein Gewehr", sagte er, „und kein schlechtes." Erst jetzt wurde mir bewußt, daß ich die ganze Zeit untätig dabeigestanden hatte. Ich sprang an Sjowkas Seite. „Du hau ab", forderte Stepan mich auf. „Vor der Miliz hab ich Achtung." Sjowka rappelte sich hoch. Seine Nase blutete, die getroffene Wange hatte sich bläulich verfärbt. Kerzengerade stand er vor Stepan, weinte nicht, zuckte mit keiner Wimper. Die Mücken fielen über sein verquollenes Gesicht her, aber er stand und starrte den Fischdieb an. „Schlagen Sie doch zu", keuchte er. „Verschwinde. Für heute reicht's."  „Schlagen Sie doch zu." Stepan lachte auf und ging zu seinen Netzen. Sjowka verharrte wie angewurzelt neben der Birke. Schließlich las er die abgesplitterten Teile des Gewehres zusammen, und wir machten uns auf den Heimweg. Zu Hause wurde ich von meinem Vater empfangen. Eigentlich mußte er längst auf seiner Dienststelle sein. Er hatte es vorgezogen zu warten, bis ich kam. „Was hast du an meiner Pistole zu suchen gehabt?" fragte er mich. „Ich habe sie nicht angerührt." „Was du an meiner Pistole zu suchen gehabt hast, will ich wissen." „Steck doch den Schlüssel nicht in die Revolvertasche", entgegnete ich, „dann gehe ich nicht an deine Pistole." Mein Vater schnallte das Koppel ab. Ich stand reglos im Zimmer. Er legte es zusammen und kam auf mich zu. „Versprich mir, daß so was nicht wieder vorkommt." Ich fürchtete mich vor nichts. So groß war mein Haß auf Stepan. „Na, wird's bald!"  Ich schwieg.  Mein Vater lief rot an. Er gab mir einen leichten Klaps auf die Hand. Ich rannte in mein Zimmer und drehte den Schlüssel um. Nebenan wanderte Vater auf und ab. Ich hörte seine Schritte. Danach rückte er die Stühle zurecht. Schließlich kam er an die Tür. „Boris." Ich gab keine Antwort.  „Boris, für seine Taten muß man geradestehen können. Letztes Jahr sind drei Jungen ertrunken. Errinnerst du dich nicht?" Ich schwieg auch jetzt. Mein Vater seufzte. Wieder hörte ich seine Schritte. Nach einer Weile klappte die Haustür. Ich ging ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch entdeckte ich den Bootsschlüssel, darunter einen Zettel. „Boris, heute wird es spät, geh essen." Ein Rubel lag daneben. Mein Vater war mir doch der liebste Mensch auf Erden, trotz allem. Nach dem Mittagessen ging ich zu Sjowka. Die Tür öffnete seine Mutter. Sie hatte verweinte Augen. „Da bist ja auch du", sagte sie, „ganz zerstochen und übernächtig. Wo wart ihr?" „Wo sollen wir gewesen sein?" fragte ich dumm.  „Das möchte ich von dir wissen. Wer hat das Gewehr zerschlagen?" „Welches Gewehr?"  „Das weißt du sehr genau. Los, raus mit der Sprache. Was habt ihr gemacht?"  „Na nichts", erwiderte ich kleinlaut, „eine kleine Bootsfahrt, was sonst."  „Bleib ihm bloß vom Halse", schimpfte Sjowkas Mutter.  Eine Woche darauf kam er zu mir. „Hast du es keinem erzählt?"  „Nein."  „Behalt's auch weiter für dich."  „Wir müßten die Stelle der Fischereikontrolle zeigen. Meinst du nicht?"  „Dort gibt's nichts mehr zu holen."  „Woher willst du das wissen?"  „Ich weiß es eben. Sprich mit keinem drüber. Ich werde schon alles machen."  „Und ich?" „Wenn es soweit ist, sage ich dir Bescheid." „Vater gibt mir neuerdings den Bootsschlüssel", erklärte ich.  Nach einer Kunstpause erwiderte Sjowka: „Boris, wie du weißt, habe ich für ein Zelt gespart. Das Geld hat jetzt Lomakin. Dafür darf ich sein Boot ausleihen." „Aber wir können doch unseres nehmen", entgegnete ich, „verlang dein Geld zurück." „Damit wäre er nicht einverstanden. Ich habe sein Boot schon benutzt. Konnte ja nicht ahnen, daß die Sache so günstig steht. Außerdem ist seins schön leicht." „Dann eben ohne mich." „Was ist denn? Du hast doch nichts abgekriegt." Sjowka ging fort. Ich konnte mir nicht erklären, womit ich ihn beleidigt hatte. Mir fiel ein, daß seine Mutter gesagt hatte, ich sollte ihm vom Halse bleiben. Ich faßte einen Entschluß: Mit unserer Freundschaft ist es aus. Fünf Tage darauf kam Sjowka zu mir.  „Boris, eine tolle Sache. Komm schnell."  „Ich habe kein Interesse", gab ich gelangweilt zurück.  „Boris, Menschenskind, laß das Getue. Ich habe seinen neuen Schlupfwinkel entdeckt. Los, wir nehmen dein Boot."  Ich weiß nicht, wie es ihm gelungen war, Stepans Versteck ein zweites Mal zu finden. Wahrscheinlich hatte er den ganzen Tag auf dem Strom zugebracht. Seine Haut glich gegerbtem Leder. Wir brachen am Tage auf, lange bevor Stepan Feierabend hatte. Diesmal mußten wir noch weiter rudern. Wieder gelangten wir auf eine Wiese. Ich sah die eingerammten Pfähle, die aufgespannten Netze, die Fangleine. Sie war in mehreren Reihen zwischen die Bäume gehängt. Die Stahlhaken schaukelten hin und her. Wenn zwei zusammenstießen, klingelte es wie ein feines Glöckchen.  Sjowka holte Rasierklingen aus der Tasche. Ich versuchte ihn zurückzuhalten. „Wozu? Wir nehmen den Kram mit und liefern ihn bei der Fischereikontrolle ab." Sjowka schüttelte den Kopf. „Er soll wissen, daß ich es gewesen bin." Ohne weitere Umschweife trat mein Freund an das erste Netz und zersäbelte es völlig. „Wenn er das wieder flickt, will ich nicht mehr Sjowka heißen", verkündete er und säbelte weiter. „Jetzt die Fangleine." Insgesamt brauchten wir eine halbe Stunde, um die Netze in einen Haufen zerfetztes Garn zu verwandeln, die Leine in viele winzige Stücke zu zerschneiden und die Haken im Jenissej zu versenken. Aber selbst danach hatte Sjowka sein Mütchen noch nicht gekühlt. Als wir zurückgerudert waren, stöberte er Stepans Boot auf und schlug mit einem Hammer drei Löcher in die Planken. Sonntag früh bummelten wir ans Ufer. Stepan stand bei seinem Boot. Er besserte die schadhaften Stellen mit Blechflicken aus. Die Nägel, die er verwendete, waren winzig klein. Uns würdigte er keines Blickes, obwohl wir in einem Abstand vorüberschlenderten, daß er uns unmöglich übersehen konnte. Erst als das letzte Stück Blech festgenagelt war, fragte er: „Hast du mein Boot so zugerichtet?" „Allerdings", erwiderte Sjowka.  „Na, dann tritt doch mal näher, wenn du kein Feigling bist." „Sie haben es ja auch nicht weiter", entgegnete mein Freund. Stepan stand auf. Sjowka bückte sich und nahm einen Stein in die Hand.  „Verdammter Schweinehund", grunzte Stepan. Er kam heran. Sjowka hob den Arm.  Ich packte ihn an der Schuler. „Sjowka, was machst du denn!"  Stepan grinste. „Richtig, Miliz, gib's ihm." Sjowka bekam böse Augen. „Misch dich nicht in Dinge, die dich nichts angehn", fuhr er mich an. Er ließ den Stein fallen und kletterte den Hang hoch. Wieder lachte Stepan. „Dieb!" rief ich und stürzte hinter Sjowka her. Jetzt taten mir die zerfetzten Netze kein bißchen mehr leid. Als wir am Montag gegen Mittag durch eine Straße gingen, wurden wir von Shuikows Lastwagen eingeholt. Auf gleicher Höhe mit uns drosselte Stepan den Motor, lehnte sich heraus und fragte: „Hast du meine Netze so zugerichtet?" Es klang beinah fröhlich. „Allerdings", erwiderte Sjowka. Wie der Wind war Stepan aus dem Auto. Ehe wir uns versahen, stand er neben uns. Wir rannten, was wir konnten, kamen aber nicht weit, wenige Meter. Da ich als zweiter lief, packte er mich am Kragen. Ich sah seinen verzerrten Mund, sein Gesicht. Er glich gar nicht mehr dem Mann, den wir tags zuvor am Ufer getroffen hatten, und besaß sogar kaum noch Ähnlichkeit mit dem von der Waldwiese. Gleich wird er mich totschlagen, dachte ich, und ich schrie, daß es durch die ganze Straße schallte. Sjowka hörte meine Schreie. Er kam zurückgelaufen. An den Häuserfronten wurden Fenster aufgestoßen. Ich starrte Sjowka an. Er war meine letzte Hoffnung. Als Stepan den Arm losließ, wandte ich mich um. Neben mir stand mein Vater. Er hatte Stepan gepackt.  „Was geht hier vor?" fragte er. Stepan schüttelte sich. „Nichts weiter, Genosse Chef. Ich wollte die beiden gerade zu Ihnen bringen." „Boris, was war los?" „Das Boot haben sie mir kaputt gemacht", antwortete Stepan statt meiner, „den Boden zertrümmert, Genosse Chef. Ein neues Boot."  „Ihr kommt mit", befahl mein Vater, „und Shuikow, Sie gehen an die Arbeit. Ich werde sehen, was los ist." Mein Vater führte uns zur Dienststelle.  „Wer war das?" fragte er, als wir ihm in seinem Arbeitszimmer gegenüberstanden. „Ich", erwiderte Sjowka.  „Wir", verbesserte ich ihn.  „Warum habt ihr das getan?"  Ich leckte mir die Lippen. „Weil er ein Dieb ist. Er hat Netze wie die Fischereigenossenschaft und eine Fangleine mit zweihundert Haken." „Woher weißt du das?"  „Das sagen alle Leute", schaltete sich Sjowka schnell ein. „Solange er nicht überführt wird, ist er kein Dieb", wies mich Vater zurecht. Er zog fünf Rubel aus der Tasche. „Für die Reparaturkosten. Bring ihm das Geld." „Ich gehe nicht zu ihm", widersprach ich. Vater zuckte die Achseln. „Dann gehe ich selbst. Du verstehst, daß die Sache für dich dadurch nicht angenehmer wird." Das sah ich ein und erklärte mich bereit, hinzugehen. „Na schön", sagte ich und nahm das Geld. Nun hört mal zu, Freunde", sprach Vater weiter, „wozu braucht ihr das Boot?" „Für Spazierfahrten", gab Sjowka zurück.  ,,Wo führen sie euch denn hin, diese Spazierfahrten?" „Nur am Ufer lang", sagte ich. „Soso." Mein Vater wiegte den Kopf. „Na gut." Den Geldschein schoben wir unter Stepans Tür. Wenn er ihn fand, würde er Augen machen. Fast einen Monat blieb er in seinen vier Wänden. Wir feierten schon unseren Sieg. Gleichzeitig taten wir alles, um ihm nicht wieder über den Weg zu laufen. Ende Juli sahen wir sein Boot auf dem Jenissej. Aber wir fuhren jetzt für die Genossenschaft das Heu von den entfernteren Wiesen ein. Daher ging es uns wie den Erwachsenen. Wir hatten keine Zeit. Als wir eines Tages eine neue Fuhre holen wollten und an dem großen Graben vorüberruderten, hatte Sjowka einen Einfall. „Weißt du, wollen wir nicht mal schnell an der Stelle nachsehn, wo wir ihn das erstemal getroffen haben?" Da vom Jenissej ein kalter Wind landeinwärts strich, war es mit den Mücken nicht so schlimm. Wir suchten den alten Pfad und fanden ihn nicht. Nach langem fruchtlosem Umherirren stießen wir auf die vertraute Wiese und sahen sofort, daß wieder Netze aufgespannt waren. Funkelnagelneue Netze! Ich traute meinen Augen kaum. Hatte Stepan wirklich nicht mit uns gerechnet?  Sjowka zerbrach sich hierüber nicht den Kopf. „Da hast du eine Klinge", sagte er. Die Wiese kam mir verändert vor. Dort stand die Laubhütte, und da war auch die Birke, an der Stepan das Gewehr zerschmettert hatte, aber jetzt lag sie auf der Erde, die Wurzeln in die Luft gereckt, und daneben... Daneben hockte Stepan.  Er stützte sich mit den Händen auf, blickte uns groß an. Seine Beine waren verdreht.  Da fiel mir ein, daß sein „SIL" heute nicht durchs Dorf gefahren war. Ich wich zurück. „Jungs", flehte er, „kommt her, Jungs, ich tue euch nichts." Wir traten näher und begriffen, was geschehen war. Die stürzende Büke hatte ihm beide Beine zerschmettert. Stepan war ein kräftiger Mensch. Er hatte den schweren Stamm beiseite geschoben, aber gehen konnte er nicht. In dieser Minute tat er mir leid. Ich verzieh ihm alles. Auf Sjowkas Gesicht las ich kein Mitleid. Dennoch war er der erste, der Stepan unter die Arme griff. Einen schweren Mann durchs Dickicht zu schleifen ist keine Kleinigkeit. Die Weidemuten waren biegsam wie Stahlfedern. Sie schlugen uns ins Gesicht und Stepan um die Beine. Kein Laut kam über seine Lippen. Er schloß nur bisweilen die Augen und knirschte mit den Zähnen. Wir legten ihn in unser Boot. Seinen Kahn, den wir vorhin nicht bemerkt hatten, band Sjowka am Heck fest. Wir sahen die nasse, von Haken gespickte Schnur und einen blutigen Sterlet, der den Innenraum des Bootes zur Hälfte ausfüllte. Lange Zeit lag Stepan unbeweglich. Wir dachten, er sei bewußtlos geworden. Als wir die Flußmitte erreicht hatten, schlug er die Augen auf. „Sjowka", sagte er, „hör zu, Sjowka, wirf die Leine ins Wasser." Sjowka tat, als hätte er nichts gehört. Er ruderte weiter. „Sjowka, dafür komme ich ins Gefängnis. Hörst du, sobald ich kuriert bin, sperren sie mich ein."  Sjowka stellte sich taub.  „Kinder, bei mir im Zimmer findet ihr Geld. Unter dem Fensterbrett. Das Geld für die Fische, die ich verkauft habe. Nehmt es euch. Ich brauche es nicht. Hier ist der Schlüssel." Stepan versuchte, sich auf die Seite zu wälzen, um an die Gesäßtasche zu kommen. Es gelang ihm nicht. Sein Kopf lag hilflos an der Bootswand. Er blickte uns an. In dem Gesicht zuckte kein Muskel. „Boris", ordnete Sjowka an, „wenn wir drüben sind, läufst du zur Miliz. Ich gebe auf ihn acht." „Auf wen willst du achtgeben? Auf mich? Ich rücke nicht aus. Wirf die Leine ins Wasser, Sjowka. Ich kaufe dir ein Gewehr, ein gutes wie das alte, das ich zerbrochen habe." „Nein", sagte Sjowka.  „Du hast meine Netze zerschnitten."  „Allerdings", erwiderte Sjowka. „Also sind wir quitt, mehr als das. Und daß ich dich geschlagen habe, tut mir leid. Entschuldige." Sjowka senkte das Kinn auf die Brust. Er ruderte schneller. Das Ufer war schon nahe. Stepan stemmte die Hände gegen den Boden des Bootes. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und sagte:  „Daß du so sein kannst, hätte ich nicht gedacht. Ich bin verwundet, vielleicht ein Invalide, hilflos, und du willst mich verraten." Sjowka lief rot an, ließ die Ruder fahren.  „Wer hat heimlich gefischt?" rief er. „Wir? Ich bin ein Verräter?" Er zog Stepans Boot heran und kippte es um. Die Leine fiel klatschend ins Wasser, sank auf den Grund. Der blutende Sterlet, der noch lebte, glitt zappelnd hinterher. Er bewegte matt die Flossen und versuchte, Tiefe zu gewinnen. „Du bist ein Verräter!" schrie Sjowka. „Du!" Wir stießen ans Ufer. Sjowka sprang aus dem Boot und ging ohne sich umzublicken davon.  Stepan verließ unser Dorf an dem Tage, als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde.  Vor mir liegt der Brief meines Vaters. Ich stecke ihn ein und laufe auf die Straße. Von einer Telefonzelle aus rufe ich an. Es dauert lange, bis ich den Kommandanten so weit habe, daß er bereit ist, Sjowka aus Zimmer neununddreißig, das im dritten Stock liegt, herunterrufen zu lassen. „Sjowka!" schreie ich in den Hörer. „Hurra, Sjowka, das Haus ist eingestürzt!" „Bist du schwachsinnig geworden?" fragte Sjowka. „Oder hast du schon Examen gemacht?" „Weder noch. Ich möchte nur nach Hause fahren. Kommst du mit?"  „Im Sommer können wir darüber reden", erwiderte Sjowka. „Dann laß dich wenigstens mal sehen. Ich habe einen interessanten Brief." „Komm du lieber", schlägt Sjowka vor, „bei mir geht es schlecht." Ich hänge den Hörer auf den Haken und renne zur nächsten Haltestelle der Straßenbahn.  Ein Scherz Als ich die Klasse betrat, saßen nur wenige Schüler auf ihren Plätzen. Die meisten drängten sich um Kostja Radushny, der in einer Ecke stand und etwas erzählte. Ich wartete an der Tür, und sie zerstreuten sich lachend. Sie zerstreuten sich, das sagt sich leicht her. In Wahrheit war es so: Sie liefen durch die Klasse, versperrten einander den Weg, kletterten über die Bänke und waren redlich darauf bedacht, soviel Lärm wie möglich zu machen. In dem schmalen Gang neben den Fenstern organisierten sie ein „Gedränge" wie beim Rugby. Sie schoben und schubsten sich. Nach außen hin wünschte jeder nichts sehnlicher, als so schnell wie möglich auf seinen Platz zu kommen. Ich wartete, kannte ja meine Schüler. Die ersten zehn Minuten nach den Ferien gehörten ihnen, da war Narrenfreiheit — nach einem ungeschriebenen Gesetz. Meine Klasse legte Wert darauf, ihren Kopf durchzusetzen. Warum nicht. Ich hatte mir längst abgewöhnt, den unnachgiebigen Prinzipienreiter zu spielen, dem eine Perle aus der Krone fällt, wenn er einmal zehn Minuten verschenkt. Als es soweit war, kamen sie von selbst zur Ruhe. „Guten Morgen, 6a", grüßte ich. „Guten Morgen, Juri Wassiljewitsch", erwiderte ein Schüler, „Juri Wassiljewitsch, guten Morgen", ein zweiter, „schönen guten Morgen", ein dritter. Nach langem Durcheinander piepste auf der letzten Bank ein dünnes, aber deutliches Stimmchen: „Juri, guten Morgen, Wassiljewitsch." Das war meine Klasse. Kein bißchen verändert hatte sie sich während der letzten zwei Wochen. Am ersten Tag nach den Ferien närrisch zu grüßen war !hre eigene Erfindung. Sie bildete sich tüchtig was darauf ein. Ich begann. „Nun, die Ferien sind zu Ende."  „Die Ferien sind zu Ende", bestätigte Kost ja Radushny mit Grabesstimme.  „Ach ja", jemand auf der ersten Bank seufzte, „zu Ende."  „Restlos zu Ende", erklang es aus einer Ecke. „Zu Ende, zu Ende." Während sie sprachen, sahen sie mich mit vor Wonne funkelnden Augen an. Keiner versuchte, sich hinter dem Rücken seines Vordermanns zu verstecken. Die Klasse freute sich, daß es nach ihrem Kopf ging. „Schön", sagte ich, „und nun nehmt eure neuen Rechenhefte vor. Wir beginnen heute mit Algebra." An den Büchertaschen rasselten die Verschlüsse, die Bankdeckel klapperten. Danach wurde es still. Zehn Minuten waren um. „Bisher hatten wir es stets nur mit Zahlen zu tun. Wenn wir addieren wollten, verfuhren wir folgendermaßen." Ich ging an die Tafel und schrieb: 2 + 3 = 5. „Jetzt stellt euch einmal vor, unsere Additionsaufgabe hieße nicht 2 + 3, sondern meinetwegen 6 + 8 oder 4 + 5 oder sonstwie, und ich sollte an Stelle der Zahlen eine für alle diese Aufgaben gültige Formel einsetzen. Wie würde ich verfahren? Nun, ich könnte zum Beispiel statt der Ziffern Buchstaben verwenden." Ich schrieb: 2 ersetzen wir durch a 3 ersetzen wir durch b Also: 2 + 3 = 5 oder a + b = c. Die Schüler beugten sich über ihre Hefte. Nur Kostja nicht. Er galt als größter Witzbold der Klasse und hielt sehr auf seinen Ruf. Er meldete sich. „Juri Wassiljewitsch, etwas verstehe ich nicht. Wenn Sie schreiben a + b, muß auf der rechten Seite doch ein anderer Buchstabe auftauchen." Ich sah ihn an. „Nämlich welcher?" Noch hoffte ich, er würde den Mund halten und den Erfolg der Stunde nicht gefährden. Aber wenn es darum geht, die Klasse zum Lachen zu bringen, kennt Kostja kein Erbarmen. „Ein L", platzte er heraus. Sein Zeigefinger wies auf Anja Melnikowa und Boris Jewremow. In dem nun einsetzenden Gelächter drohte das letzte Interesse an der algebraischen Wissenschaft unterzugehen. Einer trampelte vor Vergnügen. Anja Melnikowa bekam einen roten Kopf, Boris Jewremow drehte sich zum Fenster um und starrte unverwandt auf das einförmige Weiß der zugefrorenen Bucht. Er tat völlig unbeteiligt, aber ich konnte sehen, wie er langsam und unauffällig von Anja abrückte. Etwas mußte geschehen. „Radushny", sagte ich, „verlaß die Klasse." Am nächsten Tag kam seine Mutter. Sie nestelte an dem Rand ihres Tuches und murmelte mit müder Stimme die üblichen Entschuldigungen. Ich stand erst in meinem zweiten Dienstjahr. Es war mir sehr peinlich, von einer immerhin etwas betagten Dame wegen der Verfehlung ihres Sohnes um Verzeihung gebeten zu werden. Als sie wieder ging, war ich heilfroh. Zwei Tage saß Radushny wie ein Mäuschen. Der Vorfall in der Algebrastunde war bereits vergessen. Am Wochenende rief ich Anja an die Tafel. „Wir haben in unserer ersten Algebrastunde eine Gleichung kennengelernt. Schreib sie an." Anja nahm ein Stück Kreide und begann sehr richtig: a + b = ... An dieser Stelle zögerte ihre Hand, eine Sekunde nur, aber das entschied alles. „L!" flüsterte ihr jemand zu. „Wer war das?"  „Ich." Radushny fuhr in die Höhe. „Entschuldigen Sie, Juri Wassiljewitsch. Sie haben ja selber gesagt, daß ich mit der Zunge meinen Gedanken voraus bin. Es ist mir nur so herausgerutscht." Ich musterte ihn. Er sprach die Wahrheit, es war ihm „nur so herausgerutscht". „Vor mir brauchst du dich nicht zu entschuldigen."  „Natürlich, Juri Wassiljewitsch", erwiderte Kostja salbungsvoll, „ich verstehe." Er blickte Anja an und sagte höflich, allzu höflich: „Anja, entschuldige bitte. Du auch, Boris. Entschuldigt alle beide." Kostja seufzte und machte ein gequältes Gesicht. Er litt, er triefte vor Reue. In seiner Stimme schwang so viel Zärtlichkeit, daß die 6a entzückt aufheulte. Anja legte die Kreide in den Kasten und schlich mit gesenktem Blick auf ihren Platz. Sie begnügte sich mit der äußersten Kante der Bank, als hätte sie Angst, Boris könnte beißen. Boris wurde rot. Er ballte die Fäuste. Ich fürchtete, er werde gleich auf Radushny losschlagen.  Unsere 6a, die einhelligste Klasse der Schule, wenn es darum ging, Lärm zu machen, hatte noch nicht gelernt, kameradschaftlich zu sein. Sie war vergnügt und lachte. Alles andere hatte keine Bedeutung. Was in Boris Jewremow vorging, merkte keiner. Die Sache mit der Gleichung mußte auf dem schnellsten Wege aus der Welt geschafft werden, ehe es zu spät war.  „Hört zu, Freunde", sagte ich, als sich das Gelächter etwas gelegt hatte, „wie ihr euch gegenüber Anja und Boris verhaltet, ist übel."  Ich hielt eine Rede, eine schwungvolle Rede, und führte aus, daß man auf Gemeinheit mit Gemeinheit antworten kann, auf einen Schlag mit einem Gegenschlag. Was aber soll der tun, über den sich die anderen lustig machen? Wenn mir jemand in Wort oder Tat zu nahe tritt, werde ich mich wehren. Dem Gelächter ist man schutzlos preisgegeben. Ausgiebig und eindringlich führte ich ihnen das Verwerfliche ihres Tuns vor Augen. Ich war begeistert von meiner Rede, insbesondere darum, weil es mir gelang, die richtigen Worte zu finden. Meine Schüler hörten mir aufmerksam zu. Als ich geendet hatte und fragte: „Ist das jetzt klar?" erscholl es im Chor: „Jaaa." An diesem Tage konnte mir nichts meine ausgezeichnete Laune verderben. Als ich am nächsten Morgen in die Klasse trat, hatte jemand auf den Tafelrand geschmiert: A + B = Liebe. Ich sah es sofort. Mein Blick huschte über lauter Unschuldsmienen. Die Schüler saßen wie Engel, mit gefalteten Händen und aufmerksamen, ehrlichen, ernsten Augen, das aufgeschlagene Heft und ein Löschblatt vor sich auf der Bank. Die Schmiererei am Tafelrand hatte natürlich niemand gesehen. Sie waren ja hier, um zu lernen, ausschließlich um zu lernen. Daß meine gestrige Rede auf unfruchtbaren Boden gefallen war, stimmte mich zornig. Ich war drauf und dran, eine strenge Untersuchung der Angelegenheit in die Wege zu leiten, kam aber, während ich das Klassenbuch aufschlug, zu der Einsicht, daß dies wohl doch nicht die richtige Methode sei. Meine Worte hatten das Gegenteil von dem bewirkt, was sie erreichen sollten, und die Aufmerksamkeit der Klasse erst recht auf diese törichte Gleichung gelenkt. Ich zog es vor, mit Stillschweigen über die Sache hinwegzugehen und mich auf eine sachliche Feststellung zu beschränken: „Ordnungsdienst, die Tafel ist nicht gewischt." Ein Seufzer der Enttäuschung lief durch die Klasse. Schade... In der Pause kam Boris zu mir. „Juri Wassiljewitsch, darf ich mich auf einen anderen Platz setzen?" Ich war der Klassenleiter und hätte fragen müssen: Weshalb? Aber die Geschichte hing mir nachgerade zum Halse heraus. Ich war es überdrüssig zu tun, als wüßte ich nicht, was gespielt wurde. So sagte ich nur: „Gut, zieh um." „Danke", murmelte Boris, ohne mich anzusehen, und ging fort. Während der großen Pause kam Kolja Bokow ins Lehrerzimmer. Er bat mich in eine Ecke, wo wir nicht gehört werden konnten, und flüsterte: „Juri Wassiljewitsch, was die Klasse macht, ist nicht richtig. Ich meine a + b." „Es ist abscheulich. Du kannst den anderen bestellen, falls sich das noch einmal wiederholt..." „Natürlich", flüsterte Kolja, „was geht es uns an, wenn sich zwei verlieben." Er beobachtete mich, um zu sehen, welchen Eindruck seine Worte machten. „Gut. Und was willst du hier?" „Es gehört sich nicht für einen Pionier", erwiderte Kolja. Ein merkwürdiger Bursche, dieser Bokow, ordentlich, sauber, bescheiden, aber er liebte es, gewichtige Worte in den Mund zu nehmen. Das hatte ich schon mehrmals feststellen können. Ich wußte auch, daß er Radushny heimlich haßte. Vergangenes Jahr hatten beide lange gewetteifert, wer wohl der witzigere sei. Die anderen mochten Koljas Späße nicht sonderlich. Sie waren ihnen zu gesucht, zu offensichtlich gewollt. Radushny kam auf den ersten Platz. Ich überlegte: Worauf will er nur hinaus? „Du hast ganz recht", erwiderte ich, „es gehört sich nicht für einen Pionier. Nur verstehe ich nicht, weshalb du mit mir darüber sprichst. Das mußt du demjenigen sagen, der solchen Unfug an die Tafel schreibt. Weißt du, wer es war?" Bokow wurde rot. „Nun — eigentlich — das heißt ...", stotterte er. „War es Radushny?"  „Nun — eigentlich — habe ich es nicht selber gesehen." Er ließ den Kopf hängen und fingerte an der Gürtelschnalle. Sein ganzes Gebaren deutete darauf hin, daß ich ins Schwarze getroffen hatte. Ich zuckte mit den Schultern. „Wenn du es nicht gesehen hast, brauchen wir kein Wort mehr darüber zu verlieren. Geh in die Klasse." Nach dem Unterricht hielt ich Radushny zurück. „Hör zu, Kostja, wenn ich auf der Tafel noch einmal solchen Blödsinn sehe, geht es einem Schüler schlecht."  „Welchem Schüler?" „Dem Schmierfinken." „Eigentlich ist doch nichts dabei", meinte Kostja. „Ein kleiner Scherz. Aber die beiden zieren sich — unheimlich. Sie wissen ja selbst, wenn jemand keinen Spaß verträgt, zieht man ihn gern noch mehr auf." Ich war empört. „Warum macht ihr euch über sie lustig?" „Na ja, sie gehen immer zusammen und schreiben Briefe. Wenn man sich täglich sieht, braucht man die Post nicht zu belästigen. Das ist lächerlich. Sehen Sie mal, Juri Wassiljewitsch, dort ist die Melnikowa." Ich schaute durchs Fenster. Anja ging langsam über den Schulhof. Sie schritt durchs Tor, blickte sich um und verschwand. „Und an der Ecke steht Jewremow. Er denkt, wir wissen das nicht. Sehen Sie, dort, am Zaun." Zwischen den Häusern tauchte Anja wieder auf, nicht mehr allein, in Begleitung von Boris. „Was habe ich gesagt!" rief Kostja triumphierend aus. Ich erwiderte trocken: „Also, Radushny, entweder nie mehr ein Plus an der Wandtafel, oder..."  „Damit habe ich nichts zu tun", erklärte Kostja unbekümmert. „Wer sonst?"  „Keine Ahnung."  „Das glaube ich dir nicht." „Bitte sehr." Kostja machte ein gekränktes Gesicht. „Wenn was los ist, steckt Radushny dahinter. Das bin ich gewöhnt." Auf seine beleidigte Miene gab ich nicht viel. Ich kannte ihn lange genug, um zu wissen, daß er die Gabe besaß, jederzeit den Ausdruck anzunehmen, der am zweckmäßigsten schien. Offenbar mißtraute ich ihm zu Recht. Von Stund an hörte der Unfug mit „a + b" auf. Ein Monat verging. Ich wüßte nicht, daß in der Klasse noch jemand von Anja und Boris gesprochen hätte. Die beiden trafen sich nicht mehr heimlich, sondern verließen zusammen das Schulgebäude, obwohl sie nach wie vor getrennt saßen. Der Unterricht verlief ohne Störungen. Ich war zufrieden. Doch ich sollte mich zu früh gefreut haben. Unser Städtchen besteht zur Hälfte aus Holz- und zur Hälfte aus Steinhäusern. Nach drei Seiten ist der Ort von hohen Hügelketten eingeschlossen, die vierte gibt den Weg zum Meer frei, das sich in einer breiten Bucht herandrängt. Unsere Schule steht auf einem Hügel in unmittelbarer Nähe der Bucht. Das ist ein Unglück. Durch den Gürtel der Nadelbäume dringt das Gerassel von Ankerketten und das Knattern der Motorboote herüber. Wenn die Kinder durch die Klassenfenster einen Trawler erspähen, rätseln sie herum, wo er hinfährt. Der Streit beginnt zwar in der Pause, wird aber nicht selten während der Stunde fortgesetzt. Links von der Schule fließt die Niwa. Auch das ist ein Unglück. Die Flutwellen dringen in den Fluß ein. Diejenigen Schüler, die am Fenster sitzen, finden ein unerklärliches Vergnügen daran, die Bewegungen des Wasserspiegels zu verfolgen und herumzuraten, wie lange es dauern wird, bis die kleine Insel in der Mitte der Niwa nicht mehr zu sehen ist. Die schönste Zeit für den Lehrer ist der Winter. Der währt bei uns ein halbes Jahr. Kein Wasserflugzeug surrt durch die Luft, die Trawler laufen nicht aus. Der Fluß ist eine glatte, weiße Fläche, auf der es nichts gibt, was die Blicke fesseln könnte. Desgleichen die Bucht: erstarrt, mit Schnee bedeckt. Am anderen Ende der Niwa erhebt sich der „Fräuleinsfels", eine steile Wand. Überall nur Schnee und Stein. So läßt sich's aushalten. Im Winter kommen die Schüler besser voran. Nur der letzte machte in dieser Beziehung eine Ausnahme. Als ich an einem Februarmorgen in die Klasse trat, sah ich, daß sich sämtliche Schüler vor den Fenstern drängten. Sie stießen sich an, faßten einander um die Schultern, lachten und waren dermaßen übermütig, daß ich fünf Minuten brauchte, um sie leidlich zu beruhigen. „Was gibt's dort Interessantes zu sehen?" „Das läßt sich schlecht beschreiben", meinte Radushny. Er strahlte vor Freude. Ich trat ans Fenster und erblickte das weiße Band der Niwa, die mit Rauhreif bedeckten Drähte der Hochspannungsleitung, auf dem Ufer verschneite Barkassen — das gewohnte Bild. Neu war nur die Gleichung, die auf der Felswand prangte. Gegen den dunklen Untergrund hoben sich die riesigen, fast mannshohen weißen Buchstaben deutlich ab. A + B = L Ich drehte mich um. Es wurde mäuschenstill im Raum. Am Ausdruck meines Gesichts sahen die Schüler, daß ich nicht geneigt war, ihre Begeisterung zu teilen. „Von uns war das keiner", brummte jemand. Da gerieten alle in Bewegung. Sie lärmten und schrien, die einen, weil sie sich beleidigt fühlten, andere vor Empörung, die dritten aus bloßer Freude am Toben. „Nein, wir waren das nicht." „Wir nicht, Juri Wassiljewitsch." „Wir wissen auch nicht, wer es war." „Was können wir dafür?" Ich sah Radushny an. Er grölte gleichfalls. Als sich unsere Blicke trafen, verstummte er, schürzte die Lippen und senkte die Stirn. Er, dachte ich. Nach dem Unterricht hielt ich ihn zurück. Ich war meiner Sache so sicher, daß ich sehr grob mit ihm umsprang. Schmollend, mit gerötetem Kopf stand er vor mir und leugnete alles — daß er die Tafel besudelt hatte, daß er für die Inschrift auf der Felswand verantwortlich sei. Er besäße überhaupt keine Farbe. Bitte schön, ich könnte ihn ja durchsuchen lassen. „Wer war es dann?" fragte ich. „Das weiß ich nicht", erwiderte Kostja ärgerlich, „und wenn ich es wüßte, würde ich es nicht sagen. Er soll sich selber melden." Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen. Eine verzwickte Geschichte. Die Schüler wußten anscheinend tatsächlich nichts. Ich war nach wie vor überzeugt, daß Radushny dahintersteckte. Aber wie sollte ich ihn überführen? Außerdem bin ich Lehrer und kein Detektiv. Da war guter Rat teuer. Anja und Boris getrauten sich nicht mehr, miteinander zu sprechen. Die Klasse merkte das sehr schnell, auch mir blieb es nicht verborgen. Bald trug die Felswand eine neue Inschrift. A + B = ? Von der stillen Hoffnung getrieben, wenigstens einen Anhaltspunkt zu finden, machte ich mich eines Abends zum „Fräulein" auf. Auf der Niwa lag hoher Schnee. Er quoll in die Stiefel. Im Halbdämmer reckte sich der mächtige Felsen. Von der Seite gelangt man bequem bis zur halben Höhe und kann dann einen schmalen Sims benutzen, der sich waagerecht über die Wand zieht. Vorsichtig tat ich den ersten Schritt, die Brust gegen den Stein gepreßt, und suchte mit den Händen Halt. Im Rücken spürte ich die gähnende Leere des Abgrunds. Der Fels war kalt. Die nackten Finger wurden klamm, aber ich tastete mich weiter. Als der dritte Schritt getan war, stand ich vor dem A. Ich ließ eine Hand sinken und kratzte an der trockenen Farbe. Mein Körper geriet ins Schwanken. Die Wand wich zurück, Zentimeter nur, aber ich hatte Mühe, das Gleichgewicht wiederzufinden. Diese wenigen Sekunden waren die schrecklichsten in meinem bisherigen Leben. Als ich den seitlichen Hang wieder erreicht hatte und mit dem Abstieg begann, zitterten mir die Knie, und das Hemd klebte am Rücken. Ich schwitzte trotz der fünfundzwanzig Grad Kälte, die an jenem Abend gemessen wurden. Erst daheim kam mir völlig zu Bewußtsein, in welcher Gefahr ich geschwebt hatte. Und der Schöpfer dieser Inschrift hatte auch noch Farbtopf und Pinsel halten müssen. Es konnte kein Feigling sein. Radushny! Mein Verdacht schien eine neue Bestätigung gefunden zu haben. Radushny, der weder sich noch andere schonte, wenn er eine Gelegenheit sah, Lorbeeren zu ernten. Wenige Tage danach traf ich Anja und Boris vor dem Kino. Ich ging auf die beiden zu, um ihnen zu sagen, daß sie den dummen und bösartigen Scherz nicht weiter beachten sollten. Boris hatte mich gesehen. Er wandte sich schroff ab und lief fort. „Boris", rief Anja, ,,ich habe doch die Karten!"  Boris blieb stehen. Im grünen Licht der Reklame war sein Gesicht bleich und böse.  Er sah ins Leere. „Deine Karten kannst du zerreißen", heulte er, rannte weiter und war bald um die Ecke verschwunden. Ich betrachtete Anja, die kaum noch die Tränen zurückhalten konnte. Doch ist es mir nicht gegeben, einen Menschen zu trösten. Wieder stellte ich mich ahnungslos. Anja und Boris waren ein Herz und eine Seele gewesen, seit der ersten Klasse befreundet. Etwas mußte geschehen, um dem unbekannten „Künstler" das Handwerk zu legen. Ich wandte mich an Bokow. „Kolja, du weißt offenbar, wer den Unsinn damals an die Tafel geschrieben hat, sicher derselbe Schmierfink, der auch der Urheber dieser Inschrift ist. Wir werden jetzt beide zu diesem Schüler gehen und mit ihm reden. Das ist besser für ihn. Über kurz oder lang wird er sich doch verraten." Bokow wurde verlegen. Ich verstand das. Nie in meinem Lehrerdasein hatte ich einem Schüler je solche verfängliche Fragen gestellt. Trotzdem beschloß ich, hart zu bleiben. „Nun?" „Juri Wassiljewitsch, ich weiß es nicht." „Und das soll ich dir glauben? Du mußt doch einsehen, daß es einfach gemein ist, sich gegenüber seinen Kameraden so aufzuführen. Es sind eure Freunde." Bokow trat von einem Bein aufs andere. Er zupfte an seinem Hemd und vermied es, mich anzusehen. Das Gespräch ging ihm offenbar sehr nahe. Schließlich bequemte er sich zu folgender Aussage: „Das weiß in der ganzen Klasse keiner. Alle fragen rum, niemand weiß was." „Und wer hat das an die Tafel geschrieben?" „An welche Tafel?" „Auf den Tafelrand, nach den Ferien." „Wissen Sie das wirklich nicht?" „Nein." Bokow schluckte. Über der Nasenwurzel krochen seine Brauen zusammen. Er dachte angestrengt nach. Es war eine Qual, ihn zu sehen. Ich ging ans Fenster, um es ihm leichter zu machen, mit sich ins reine zu kommen. „Warum fragen Sie immer mich?" meinte Bokow vorsichtig. „Das habe ich dir schon erklärt. Weil ich den Eindruck habe, daß du Bescheid weißt." „Nein", sagte er nach einer Pause, „ich weiß es auch nicht." „Dann geh jetzt. Vergiß unser Gespräch. Verstehst du?" „Natürlich", rief er erleichtert aus, „natürlich, auf Wiedersehen, Juri Wassiljewitsch." Nach wie vor stand das weiße Fragezeichen an der Felswand. Allmählich wurde die Farbe blasser. Im April war es kaum noch zu erkennen. Am Ersten Mai zogen die Schulklassen durch die Hauptstraße ans Meer, um dort ein Feuer zu machen. Sie marschierten in Achterreihen, fröhlich, lärmend, hielten sich bei den Händen. Anja und Boris gingen nebeneinander, sangen Lieder wie alle anderen und warfen feuchte Schneeklümpchen in die vorderen Reihen. Am dritten Mai leuchtete eine frische Inschrift von dem Fräuleinsfelsen. A + B = !!! Melnikowa und Jewremow kamen nicht in die Schule. Ich unterrichtete, aber in mir kochte es. Ich weiß nicht, was ich mit dem „Künstler" getan hätte, wenn er mir an diesem Morgen unter die Augen geraten wäre. Die Schüler witterten meine Stimmung. Kein Blick stahl sich zur Fensterscheibe, niemand lachte. Die Klasse saß still, war nicht ganz bei der Sache. Als es läutete, warf ich wütend hin: „Nach dem Unterricht ist Versammlung", und rannte hinaus. Die nächste Stunde hatte ich in einer anderen Klasse. Zwanzig Minuten nach Beginn vernahm ich aufgeregtes Gemurmel, das von draußen kam. Ich trat ans Fenster. Vor der Felswand hatte sich eine Menschenmenge eingefunden. Ich traute meinen Augen nicht, aber es war eine Tatsache: Das A und das halbe B hatte jemand mit schwarzer Farbe überpinselt. Zwei Männer schleppten einen Jungen. Ich konnte die Gesichter nicht erkennen, wußte jedoch, daß sie Boris Jewremow trugen. Sie bewegten sich auf die Poliklinik zu. Ich stand am Fenster und hatte zu sprechen aufgehört. Als ich an den Tisch zurückging, trafen mich viele verständnislose Blicke. „Ich muß euch für eine Viertelstunde allein lassen", sagte ich, „verhaltet euch still." Wie ich war, ohne Mantel, rannte ich aus der Klasse, den Berg hoch, auf dem die Klinik stand. Den Pförtner, der sich mir in den Weg stellte, schob ich beiseite. Im Operationssaal wusch sich ein Mann in weißem Kittel die Hände. Boris war nicht zu sehen. „Was ist mit dem Jungen?" Der Arzt drehte sich um. Er runzelte die Stirn und sagte: „Junger Mann, auf seine Kinder muß man besser achtgeben." „Es ist nicht meiner." „Natürlich", entgegnete der Arzt nachdenklich, „für einen so großen Jungen sind Sie zu jung. Was suchen Sie dann im Operationssaal?" „Ich bin sein Lehrer." „Also muß man auf seine Schüler besser achtgeben", brummte der Arzt, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Er wusch sorgfältig seine Hände, jeden Finger einzeln. „Ich habe Sie gebeten, mir zu sagen, was mit ihm ist", erwiderte ich gereizt. Ich hätte ihn ohrfeigen können. „Nichts Besonderes." Der Arzt zog die eine Hand heraus und bearbeitete die andere. „Er hat großes Glück gehabt. Das Schultergelenk ist ausgekugelt. Wenn wir es einrenken, wird er etwas schreien, aber das geht vorüber. Und jetzt seien Sie so liebenswürdig und verlassen Sie den Saal." „Danke, schönen Dank, Herr Doktor", rief ich erfreut. Als ich wieder in der Schule war, näherte sich die fünfte Stunde ihrem Ende. Die Schüler empfingen mich mit großen Augen. Sie wußten schon Bescheid. Das sah ich ihnen an. „Was machen wir nun?" fragte ich. Sie schwiegen betreten. „Juri Wassiljewitsch", ließ sich endlich einer vernehmen, „wird er wieder gesund?" „Das weiß ich nicht. Darüber hättet ihr euch vorher den Kopf zerbrechen sollen." „Wir sind es nicht gewesen. Wir nicht. Niemand weiß was." Wie auf Kommando kamen die Kinder nach vorn, umringten meinen Tisch und schrien durcheinander. In diesem Lärm verstand man sein eigenes Wort nicht. Ich ließ den Blick über die Gesichter gleiten, fand darauf Entrüstung, gekränkten Stolz, Zorn. Nein, aus meiner Klasse war es wirklich keiner, dachte ich erleichtert. Dann sah ich plötzlich Bokow. Er schrie nicht wie die anderen, sondern stand ganz hinten und starrte schweigend auf den Fußboden. „Ruhe!" forderte ich. Die Klasse nahm keine Notiz davon. „Ruhe! Ich weiß, wer es gewesen ist." Das Getöse riß ab wie eine Radiosendung, wenn man den Apparat ausschaltet. „Setzt euch hin!" Sie zerstreuten sich aufreizend langsam. „Ich weiß es. Aber der Betreffende soll den Mut haben, sich zu melden." Schweigen. „Nun gut, dann werde ich jeden einzeln fragen. Skopin, du?" „Nein." „Bogatyrewa?" „Aber, Juri Wassiljewitsch!" „Radushny?" Radushny stieß geräuschvoll die Luft aus und schüttelte den Kopf. „Klenow?"  „Juri Wassiljewitsch, wie können Sie..."  „Bokow?"  Bokow stand auf. Seine Lippen zitterten. Für einen Augenblick tat er mir leid.  „Warum — ich? Nein, ich..." Ja oder nein?" „Guckt euch doch seine Stiefel an", brüllte Radushny, „da klebt ja noch die Farbe dran." Im Nu waren alle wieder auf den Beinen. „Juri Wassiljewitsch", flehte Bokow mit brüchiger Stimme, „kann ich es Ihnen allein sagen, draußen „Nein, hier, vor allen." Bokow wandte sich ab. Mit gesenktem Blick schlich er zur Tür. „Kinder, er hat seine Mappe vergessen", rief Kostja. Mehrere Schüler stürzten an seine Bank. Die Tasche, die daraufliegenden Hefte, der Füllfederhalter, das angeknabberte Frühstücksbrot — alles flog durch den Raum und fiel vor der Tür nieder. Bokow bückte sich nicht. Er stakste hinaus. Die Klasse schwieg. Am Abend sprach mich Bokow auf der Straße an. „Juri Wassiljewitsch, ich war es nicht, Ehrenwort, ich nicht." „Warum bist du dann aus der Klasse gerannt und hast uns nichts erklärt?" „Wegen der Farbe. Ich habe bloß die Büchse gehalten. Zufällig ist etwas auf meine Filzstiefel getropft. Aber geschrieben habe ich nicht, nur dabeigestanden." „Wer hat geschrieben?" „Ein Bekannter von mir. Er geht in eine andere Schule. Richtige Freunde sind wir gar nicht. Ich habe ihm die Geschichte erzählt, und er wollte gleich schreiben. Da habe ich die Farbe besorgt und angerührt. Entschuldigen Sie, Juri Wassiljewitsch, aber das kommt nie wieder vor. Ich will auch alles ehrlich sagen, wie es gewesen ist. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen die Adresse. Rote Straße zehn, die Wohnung..." „Ich brauche keine Adresse", unterbrach ich ihn. „Bokow, ich denke, es ist besser, wenn du uns verläßt. Auf eigenen Wunsch." „Ich habe doch alles ehrlich zugegeben", heulte Bokow. Am anderen Tag kam seine Mutter. Sie trug dem Direktor die Bitte vor, ihren Sohn an eine andere Schule zu versetzen. Mir ging sie geflissentlich aus dem Weg. Der Direktor erhob keine Einwände. Im Sommer wurde die Inschrift trocken und bröcklig. Der Herbstregen spülte sie fort. Boris ist längst wieder gesund. Er sitzt mit Anja auf einer Bank. Wie in alten Zeiten.  Die Spiegeleier Auf der Insel wuchsen krummbeinige Kiefern, Heidelbeerbüsche, niedriges Wacholdergestrüpp. Zwei Menschen waren angekommen. Das Schutzhäuschen lag am Ufer einer kleinen Bucht. Dahinter begann der See. Er zog sich durch die ganze Insel. Vom Meer war er nur durch einen aufgelockerten Baumgürtel getrennt. Die Brut der Sägetaucher schwamm vertrauensselig bis in unmittelbare Nähe des Häuschens, aber den Mann und den Jungen würdigten die Vögel keines Blickes. Die beiden waren gekommen, um sie zu schützen, nicht zu töten. Der Ornithologe in seiner grünen, mit vielen Taschen versehenen Wetterjacke saß am Ufer und schrieb etwas in sein Notizbuch. Ein wenig abseits, auf einem Haufen von sprödem, trockenem Blasentang lag der Junge. Er war lang aufgeschossen, und an seinem Körper konnte man die Knochen zählen. Jetzt stützte er sich auf die Ellbogen. Er sah durch ein Fernglas. In dem hellgrünen Oval, dicht vor seinen Augen, schwammen Wellen mit weißen, zerfließenden Kämmen. Langsam hob er den Feldstecher höher. Im gleichen Tempo sanken die Wellen nach unten, verschwanden aus dem Gesichtskreis, und oben traten neue an die Stelle der alten. Dann kräuselte sich ein Streifen, die Brandung, durch das Oval, und der zweihöckrige Gipfel einer anderen Insel wurde sichtbar. Auf einem der beiden Hügelchen stand der vergitterte Scheinwerfer des Blinkgeräts. Bis dorthin waren es sieben Kilometer. Mit Hilfe des Glases konnte man die Bretter der Holzverkleidung zählen. Gleich unterhalb der Blinkanlage befand sich die Naturschutzverwaltung, aber das Gebäude war durch ein Kap verdeckt. Der Junge bewegte den Kopf leicht zur Seite. Da sprang das Blinkgerät nach links. Mit fabelhafter Geschwindigkeit huschten die Hänge des Festlandufers dahin, und vor den Augen zitterte der Schornstein der Fischfabrik. Bis zur Stadt waren es sechzehn Kilometer. Bei ruhigem Wetter klang von dort Musik herüber, und man hörte das Heulen der Schiffssirenen. Sie saßen bereits den zweiten Tag an der Bucht fest. Der Sturm hatte ihnen den Rückweg abgeschnitten. Der Junge ließ das Fernglas sinken und blickte den Ornithologen an, der noch immer in sein Büchlein schrieb. Dabei saß er so dicht am Wasser, daß die Brandung bis in seine Nähe spritzte. Viktor dachte angewidert, daß dieser Mensch wahrscheinlich alles genau nach Vorschrift tat. Vor einer Woche waren sie, fünf junge Naturfreunde, aus der Stadt zur Schutzverwaltung gefahren. Dort hatte man ihnen eröffnet, sie seien zur unrechten Zeit gekommen, die Beringung der Vögel habe begonnen, und niemand könne sich um sie kümmern. Wenn sie aber Lust hätten, sollten sie als Naturschutzhelfer arbeiten, jeweils einer mit einem Beauftragten zusammen. Und ob sie wollten! Einmütig standen sie vor dem Gebäude der Naturschutzverwaltung. Dann war dieser hagere Ornithologe in der Wetterjacke herangetreten. „Ich fahre jetzt raus", sagte er, „einer kann mitkommen. Die Arbeit hat's in sich." Nach diesen Worten kletterte er, ohne sich noch einmal umzusehen, ins Boot. Offenbar war es ihm völlig gleichgültig, wer ihn begleitete. Er machte das Boot von der Schwimmsperre los und legte die Riemen ein. Sicher wäre er auch allein abgestoßen, hätte Viktor sich nicht entschlossen, ihm zu folgen. „Setz dich. Rudern kannst du?" „Freilich, dies Jahr habe ich an der Regatta teilgenommen", entgegnete Viktor und wartete auf die üblichen Fragen: An welcher Regatta? Welchen Platz habt ihr belegt? Die Fragen blieben aus. Der Ornithologe ruderte mit kurzen, flachen Schlägen wie jemand, der gewöhnt ist, große Entfernungen zu überwinden. „Vielleicht soll ich Sie mal ablösen?" „Das ist keine Regatta. Hier wird gearbeitet." Der Ornithologe saß auf der Mittelbank, Viktor im Heck, ihm gegenüber. Häufig begegneten sich ihre Blicke, und der Ornithologe runzelte die Stirn. Er war an Einsamkeit gewöhnt. Die fliehenden Rücken der Inseln zerfurchten den Meerbusen wie ein schwimmender Flottenverband. Das Boot näherte sich einem baumlosen Inselchen. Der Ornithologe zog einen Kreis, um die jungen Vögel ans Ufer zu treiben. Als die Nestlinge das Boot sahen, strebten sie dem Land zu und steckten den Schnabel zwischen die Steine. Ihre erstarrten Körperchen schaukelten wie Spielzeugschiffchen auf den Wellen. „Die Mehrzahl der Vögel nistet auf solchen kahlen, kleinen Inseln", erklärte der Ornithologe im Tonfall eines unfreiwilligen Pädagogen. „Ich weiß", entgegnete Viktor. Der Ornithologe sprang ans Ufer, bückte sich und hob einen jungen Schlangenadler auf. Das tat er so behutsam, als hätte er eine heiße Kartoffel in die Hände genommen. „Paß auf, wie man das macht." „Ich weiß, ich weiß", entgegnete Viktor, „ich habe schon voriges Jahr..." Der Ornithologe tat, als wäre er taub. Er streckte das Vogelbeinchen und schloß ein silberschimmerndes Metallreifchen mit einer eingravierten Nummer darum. „Vor allen Dingen mußt du aufpassen, daß du das Bein nicht verletzt." „Ich weiß", entgegnete Viktor, „bitte, geben Sie mir einen Ring."  „Du wirst die Kücken einfangen und sie mir bringen."  „Wozu haben Sie mir dann gezeigt, wie man es macht?" fragte Viktor. Dieser Mensch fing an, ihn aufzubringen. Der Ornithologe runzelte die Stirn. „Nimm den linken Uferstreifen, aber sei schön vorsichtig, damit du nicht auf so ein kleines Kerlchen trampelst. Sie haben sich zwischen den Steinen versteckt." So gingen sie die Insel ab, der Junge auf der einen, der Ornithologe auf der andern Seite. Zwischen ihnen lagen dreißig Meter Land. Viktor lieferte die eingefangenen Vögel ab. Der Naturschutzbeauftragte nahm sie vorsichtig in Empfang, und wenige Sekunden später flatterten sie, mit einem Ring versehen, davon. Alles geschah lautlos und flink. Die Stille ging dem Jungen auf die Nerven. Für den Ornithologen war er Luft. Viktor dachte: Wenn ich ihm die leere Hand hinhalte, steckt er mir bestimmt einen Ring an den Finger, dann latscht er genauso maulfaul weiter wie bisher, ohne sich noch mal umzugucken. „Quälen wir sie nicht?" fragte Viktor, als er dem Ornithologen das nächste Kücken reichte. „Was sein muß, muß sein", war die lakonische Antwort. Schön, dachte Viktor, dann kriegst du von mir eben kein Wort mehr zu hören. Wenige Minuten später fing er das erste Eiderentchen. Der kleine dunkelbraune Knäuel lag in seinen Handflächen und hackte hilflos mit dem breiten Schnabel auf die Finger ein. Das Kücken war feucht. Es zitterte. Viktor lief zu dem Ornithologen hinüber. „Das ist bestimmt krank. Vielleicht nehme ich es lieber mit?" „Kerngesund", sagte der Ornithologe, „die Drüsen sondern noch wenig Fett ab, deshalb wird das Gefieder naß. Laß das Kleine laufen. Bei dir lebt es höchstens vierundzwanzig Stunden." „Wieso bei mir?" „Auch bei mir", ergänzte der Ornithologe trocken. Am ersten Tag beschrieben sie einen großen Kreis und fuhren noch fünf andere Inselchen ab. Viktor war so müde, daß es ihm vor den Augen flimmerte. Als sie das letzte kleine Eiland betraten, kam es ihm schon vor, als wimmelte das ganze Ufer von jungen Vögeln. Er bückte sich oft und breitete die Hände über einen Stein statt über ein Kücken. Auf dem Rückweg ruderte der Ornithologe länger als eine Stunde in kurzem, gleichmäßigem Rhythmus, als wäre er kein Mensch, sondern eine Maschine. Das Wasser schlief, und sie trieben an Inseln vorüber, die zu träumen schienen. Dann versank die Mitternachtssonne hinter dem Horizont. Nun lagen die Landflecken finster da wie bucklige Fabelwesen. Viktor erwachte, als das Boot gegen die Schwimmsperre stieß. Er stieg aus und trabte auf das Haus zu. Der Ornithologe hielt ihn zurück. „Warte. Wo wirst du dich hinlegen?" „Ich habe einen Schlafsack eingepackt." „Willst du nichts essen?" „Hab was mitgebracht." „In Ordnung." Der Ornithologe blickte auf die Uhr. Es war halb eins. „Um sechs brechen wir wieder auf." Er sah Viktor an, dann wieder zur Uhr. „Schön, um acht." „Von mir aus um fünf", erwiderte Viktor barsch. Der Ornithologe wies ihn zurecht. „Hier bestimme ich." Da schlenderte Viktor weiter und schlurfte absichtlich laut. Als er die Treppe hochging, sah er, daß der Ornithologe bereits im Boot saß und wenige Sekunden später losruderte. Im Zimmer schliefen Viktors Freunde. Sie hatten sich mit ihren Schlafsäcken auf dem Fußboden ausgestreckt und lagen in einer Reihe wie Soldaten. Viktor tat es ihnen gleich. Im Nu war er eingeschlafen. Fast im gleichen Augenblick, so schien es ihm, rüttelte ihn jemand an der Schulter. Schlaftrunken sprang er hoch und schwankte auf den Beinen. Nur ganz allmählich, wie ein Bild auf einem Stück Fotopapier, nahm das von Sonnenlicht durchflutete Zimmer Gestalt an. „Komm frühstücken", forderte ihn der Ornithologe auf, „nebenan stehen Brei und Tee auf dem Tisch." „Ich habe mein Essen mitgebracht." Viktor angelte nach dem Rucksack. „Das steckst du ein. Es ist schon neun Uhr." Eine halbe Stunde später waren sie bereits weit draußen. Wieder saßen sie stumm im Boot. Nur das Plätschern der Ruder Schläge unterbrach die Stille. Abermals kamen sie an Inseln vorüber, die dalagen, als wären sie in den Spiegel der See eingelassen. An diesem Tage hatten sie nur ein einziges Reiseziel. Bis dorthin waren es zwanzig Kilometer. Fünf Stunden wiegte sich der Ornithologe pausenlos auf seinem Bänkchen. Dann sprang er ans Ufer, wippte auf den Zehen, rekelte sich, und über sein Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln. Es war ihm angenehm, daß er endlich den Rücken strecken konnte. Auf dieser Insel beringten sie dreizehn Kücken. Viktor überlegte: Den Rückweg eingerechnet, kommen auf jeden Vogel drei Kilometer. Bevor sie aufbrachen, ließen sie sich nieder, um zu essen. Der Ornithologe holte Brot, Wurst und eine Thermosflasche aus dem Rucksack. Viktor packte Kuchen, eine lange Semmel und Wurst aus. Sie saßen auf zwei platten Steinen. Vor ihnen lagen die Lebensmittel. Sie tranken ihren Tee aus einem Kunststoffbecher und schnitten das Brot mit einem Messer. So kauerten sie nebeneinander, beide abgespannt, unausgeschlafen — Menschen, die am selben Werk schufen. Viktor wartete darauf, daß der Ornithologe ihn ansprach oder ihm die Hand auf die Schulter legte oder sonst etwas tat, wofür Viktor ihm sofort alles verziehen hätte. Der Ornithologe schlürfte seinen Tee und nahm den heißen Becher aus der einen Hand in die andere. Zum Schluß schüttelte er die Krumen von den Knien. Dann stand er auf. Da begriff Viktor, daß er umsonst gewartet hatte. Es würde kein Gespräch geben. Er sah den Mann mit einem Blick an, in dem fast etwas wie Haß lag. Wußte denn der überhaupt, was ein Menschenherz bewegte? Vielleicht war es der Ausdruck dieser Jungenaugen, was den Ornithologen veranlaßte, wenigstens ein paar Phrasen durch die Zähne zu murmeln? ,,Hat's dir auf der Insel gefallen?" „Ja", erwiderte Viktor. „Wir haben eine Silbermöwe beringt. Das gelingt nur selten." „Ich werde rudern", sagte Viktor brummig. „Gut", willigte der Ornithologe ein. Fünf Tage lang fuhren sie Eiland auf Eiland ab, erst die entfernteren, dann die näheren. Immer enger wurden die Kreise, und schließlich verblieben auf ihrem Abschnitt nur noch wenige Inseln in der Mitte des Meerbusens. Noch nie in seinem dreizehnjährigen Leben hatte Viktor so viel arbeiten müssen. Trotzdem schaffte der Ornithologe mehr. Er kletterte auch dann ins Boot und ruderte los, wenn Viktor in seinem Schlafsack ruhte. Er schlief so gut wie gar nicht. Man sah es an seinem abgezehrten, von Sonne und Wetter gezeichneten Gesicht und an den borkigen Lippen, zwischen denen eine glimmende Papiros zitterte: Seine Bewegungen waren nervös, flink wie bei ihrer ersten Begegnung. Als Viktor wieder einmal in das lange, hagere Gesicht blickte, kam ihm der Gedanke, dieser Mann sehe aus wie ein hungriger Hund. Von Tag zu Tag verriet der merkwürdige Mensch größere Eile. Gewöhnlich kehrten die beiden als letzte zurück und brachen als erste auf. Der Ornithologe war unerbittlich gegen sich selbst. Doch gab ihm dies das Recht, unerbittlich auch gegen andere zu sein? Viktor spürte die Jungvögel auf. Er ruderte, teilte mit seinem Gefährten das Essen. Aber selbst im Boot, wenn der Ornithologe die Riemen schwang, wagte Viktor nicht einzuschlafen. Er wollte kein Schwächling sein. Schließlich war er am Meer geboren, und durch seine Körpergröße wirkte er viel älter. Man hätte ihn für sechzehn halten können. In seinen Adern floß das Blut der Vorfahren, tüchtiger Seebären, und der Eigensinn des Großvaters war in ihm lebendig. Niemals hätte er sich eine Blöße gegeben, lieber wäre er gestorben. Der Ornithologe aber bemerkte nichts von alledem. Der zielstrebige Eifer des Jungen blieb ihm verborgen. Viktors mißgünstige Gefühle ließen ihn genauso kalt, wie ihn sicherlich seine Symphathie gelassen hätte. Und das war der Grund, weshalb Viktor ihn beinahe haßte. Neben diesem haßähnlichen Gefühl wohnte jedoch ein zweites, und dieses zweite regte sich nicht minder kräftig. Wie gesagt, Viktor ist am Meer aufgewachsen. Er weiß, was arbeiten heißt. Ob er wollte oder nicht, er bewunderte den sonderbaren Kauz, der es nicht einmal für nötig befunden hatte, seinen Namen zu nennen. Den Jungen wurmte es, daß er sein Werk nicht auch so gut verstand wie der Ornithologe. Gegen Abend des fünften Tages bedeckten sich die Berggipfel auf dem Festland mit dicken Wolken. Vom Meer her machte sich eine frische Brise auf. Viktor und sein Meister befanden sich gerade auf einem kleinen Eiland, das im Schutze einer größeren Insel lag, so daß sie den Wind nicht richtig merkten. Als sie ihren Rundgang beendet hatten, warf der Ornithologe einen flüchtigen Blick auf die Fluten, die sie vom Verwaltungsgebäude trennten. In der Mitte der Wasserstraße tanzten vom Wind gepeitschte Schaumkämme. ,,Es scheint, wir sitzen in einer Mausefalle", unkte der Ornithologe. Viktor hüllte sich in Schweigen. Er wollte seinen Dreier nicht dazugeben. „Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zum Schutzhäuschen zu rudern und auf besseres Wetter zu warten."  „Ist man bloß eine kleine Brise", meinte Viktor mit finsterem Gesicht und starrte auf die Spitze seiner Schuhe. „Hier merkt man den Wind kaum, weil wir uns hinter der Insel befinden. Guck mal, was draußen los ist." Viktor blickte gleichfalls zur Mitte der Wasserfläche. In der bewegten Luft flatterten die Möwen wie Papierfetzen. Die Insel, auf der das Schutzhäuschen stand, war etwa dreihundert Meter entfernt. Zehn Minuten später setzten sie bereits den Fuß über die Schwelle. Den Sommer über blieb das Häuschen leer. Zwei eiserne Bettgestelle mit eingedrückten Matratzen füllten das halbe Zimmer aus. An einer Wand stand ein Öfchen, dessen kleine Tür durch Drahtschlaufen festgehalten wurde. Auf dem Tisch lag ein Bastbeutel mit Salz. Die Tapete war schon alt, und an einer Stelle hatte jemand mit fetten Tintenbuchstaben an die Wand geschrieben: „Der Beobachter Wassiljew ist ein Wilddieb." „Auf dem Boden muß es Daunenfedern geben", murmelte der Ornithologe und ging hinaus. Er kam bald zurück, um einen Armvoll fest zusammengepreßtes Heu auf das eine Bettgestell zu breiten. „Du kannst dich hinlegen. Bei mir hat's damit noch Zeit." Viktor schielte ihn von unten an, schwieg aber. „Ich warte, bis die Flut am höchsten steht, dann muß ich das Boot aufs Land ziehen", erklärte der Ornithologe.  „Ich bleibe auch auf." Der Mann zuckte die Schultern, ließ sich am Tisch nieder und zog sein Büchlein aus der Kartentasche. Der Junge setzte sich auf den Bettrand. Eine Minute später folgte er dem Drang, die Beine auszustrecken. Nach zwei Minuten war er eingeschlafen. Als er am nächsten Morgen erwachte, lag er noch lange mit geschlossenen Augen im Bett, jede Sekunde darauf gefaßt, an der Schulter gerüttelt und zum Aufstehen ermahnt zu werden. Da ihn aber niemand wecken wollte, wurde es ihm schließlich zu dumm. Er drehte den Kopf auf die andere Seite und erblickte den Ornithologen, der im Schlaf mit der einen Wange auf das geöffnete Buch gesunken war. Die Arme hatte er weit von sich gestreckt und die Hände gefaltet. Da fiel Viktor ein: Richtig, das Boot! Vorsichtig, damit die Stahlfedern nicht knarrten, kroch er vom Bett herunter und lief ans Ufer. In geringer Höhe jagten Wolkenfetzen über die Insel. Auf der anderen Seite der Bucht bog der Wind die jungen Birken zur Erde. Von dort drang dumpfer Lärm herüber. In gleichmäßigen Abständen spritzten an den Steinen weiße Wassersäulen empor. Das Schutzhaus hatte eine günstige Lage. Der Wind verschonte die Bucht, so daß es hier verhältnismäßig ruhig war. Nur manchmal schwappte eine ungestüme Woge über das Ufer, streifte kaum das Heck des Bootes, flutete zurück. Gischt schäumte hinterher. Der Ornithologe hatte über das Boot gewacht und es zu der Zeit aufs Land gezogen, als das Wasser am höchsten stand. Viktor verharrte eine Weile am Ufer. Dann schlenderte er zum See, der fünfzig Meter hinter dem Schutzhäuschen begann. Die jungen Sägetaucher erschraken vor ihm. Ihre Mutter blickte sich besorgt um und steuerte in die Mitte des Sees. Wie auf eine Schnur gereiht, schwamm die Brut hinterher. Man hätte die Kücken mit einem Knüppel erschlagen können. Viktor wandte sich dem Häuschen zu. Der Ornithologe stand bereits draußen und betrachtete das Meer. Zwischen der Insel und dem Festland bäumten sich träge die Wellen auf. Von hier sahen sie wie Gekräusel auf einem Spielbassin aus, aber Viktor wußte, daß sich die Fischer bei solchem Wetter auch mit einem Motorboot nur ungern hinauswagten. „Wenn du's dir verkneifen kannst, geh mal nicht an den See", sagte der Ornithologe mahnend, ohne sich umzudrehen, „du schreckst nur die Brut auf, das ist nicht gut." Viktor dachte sich seinen Teil. „Siehst du, wir können uns wieder aufs Ohr hauen. Schade, jammerschade. Aber was willst du machen? Legst du dich noch mal hin?" Es war eine sehr persönliche Frage, und Viktor konnte sie nicht einfach übergehen. „Nein", sagte er. „Wenn du Hunger hast, schlaf." Viktor war hungrig wie ein Bär. Am Vortage hatten sie zwar gefrühstückt, aber nichts eingesteckt. Sie wollten ja beizeiten zurück sein. „Ich bin ganz satt", schwindelte er, getreu seinem Entschluß, stark zu bleiben. Der Ornithologe trat ins Haus. Viktor hörte, wie die Bettfedern quietschten. Es klang unsagbar kränkend. Selbstverständlich wußte der Ornithologe keinen Rat, aber es war wohl nicht nötig, sich so aufzuführen. „Wenn du feststellen willst, ob jemand auf See was taugt, mußt du bis zum nächsten Sturm warten", hatte der Ornithologe einmal gesagt. Nun war Sturm gekommen, aber es gab keinen Kampf, keine lauten Kommandos, nur das Tosen der Naturgewalten. Und das Quietschen der Bettfedern. Und ein erbärmliches Leeregefühl im Magen. Der erste Tag auf der Insel verlief ohne Zwischenfälle. Auch der nächste Morgen brachte nichts Neues. Viktor kroch durchs Gebüsch und pflückte eine Handvoll unreife, mattgrün schimmernde Heidelbeeren. Sie zogen ihm das Wasser im Mund zusammen, und das Zahnfleisch schmerzte. Beide, der Junge und der Mann, schliefen eine Woche Vorrat. Und jetzt lag Viktor auf einem Haufen von verdorrtem Seetang. Da er nichts Besseres zu tun wußte, beguckte er sich die über der Stadt hängenden Rauchfahnen durchs Fernglas. In der Nähe der Fischfabrik lagen zwei Trawler vor Anker. Beide Schiffe gehörten der Naturschutzverwaltung. Wie, wenn sie nun in See stächen? Doch Viktor erwartete keine Hilfe. Ach wo, wie sollte jemand auf die Idee kommen, sie zu suchen? Auf keinen Fall schon heute. Er setzte das Glas ab und studierte die Hinteransicht des Ornithologen, der seine grüne Wetterjacke trug. Jetzt blieb ihnen nichts anderes übrig als zu warten. Viktor begriff dies sehr gut. Aber daß der Mensch es fertigbrachte, auch in diesen Minuten er selbst zu bleiben und seelenruhig wie zuvor in seinem Notizblock zu kritzeln, war mehr als empörend. Viktor stand auf und bummelte in den Wald. „Daß du mir nicht an den See gehst!" ermahnte ihn der Ornithologe. „Wo werd ich denn, dort ist doch die Brut", entgegnete der Junge herausfordernd. „Die Kleinen könnten vor Angst krepieren." Der Ornithologe blickte ihm erstaunt nach. Dann vergrub er sich wieder in seine Schreibarbeit. Als Viktor ein paar Meter gegangen war, versperrte ihm eine umgestürzte Birke den Weg. Noch steckte Leben in dem Stamm und in den grünen Blättern. Irgendwo hatte er gelesen: Wenn man die Birkenrinde einkerbt, fließt süßer Saft heraus. Er griff in die Hosentasche, um nach dem Messer zu kramen, und fand — eine Praline. Vergessen war der Birkensaft. Was für eine wunderhübsche Praline! Noch dazu eine mit einer Erdbeere auf dem Papier. Langsam wickelte er die mit Schokolade überzogene Süßigkeit aus und legte sie auf die flache Hand. Betörender Erdbeergeruch kitzelte ihm die Nase. Zwischen den Baumstämmen erblickte er den zu Stein erstarrten, unbeweglichen Rücken des Ornithologen. Da krampften sich seine Finger zusammen. Die Augen blieben starr auf den Mann gerichtet. Er schob die Praline in den Mund, zermalmte sie genußvoll mit den Zähnen, schwelgte im Gefühl seiner Rache und hatte nur den einen Wunsch, daß sich der Ornithologe umdrehen möge. Dann rollte er das Konfektpapier zu einem Kügelchen zusammen, warf es in die Heidelbeerstauden und ging an den Strand. „Komm mal her", rief der Ornithologe. Viktor trat heran. „Sieh mal, wie der Tang im Wasser wieder zu leben beginnt. Dort drüben ist er noch tot, aber wo die Flut hinkommt, entfaltet er sich wie eine Blume." Viktor blickte den Ornithologen erstaunt an. „Sie sprechen mit mir, damit ich den Hunger nicht so spüre?"  „Ist's denn sehr schlimm damit?" „Ach wo."  „Dann nimm." Der Ornithologe zog ein zerdrücktes Stück Brot aus der Tasche.  Viktor spürte, daß er rot wurde, und legte die Hände auf den Rücken. „Ich mag nicht", hauchte er. „Hör mal, ich habe schon ärgeren Hunger ertragen müssen. Außerdem esse ich es sowieso nicht." Er sagte es mit unveränderter Stimme, weder bittend noch fordernd, aber Viktor wußte: Essen wird er es bestimmt nicht. Da streckte der Junge die Hand aus und nahm das Brot. „Ich denke, morgen sind wir wieder zu Hause", sagte der Ornithologe. Viktor trat einen Schritt zurück, wandte sich ab und ging rasch das Ufer entlang. Das Brot preßte er gegen die Brust. Die Beine waren jetzt stark und trugen ihn mit Leichtigkeit, fast mühelos, über die Steine. Das Hungergefühl und die Müdigkeit waren verschwunden, von unerträglicher Scham verdrängt. Am Kap spürte er den Wind, der durch die Baumwipfel pfiff und von oben seinen Rücken peitschte. Über die schlüpfrigen, von Tang bedeckten Steine schritt er dem Wasser zu. Von hier sah er nur noch das Dach des Schutzhäuschens. Er holte weit aus und schleuderte das Brot, so weit er konnte, ins Meer. Dann hockte er sich hin. Lange betrachtete er den zweihöckrigen Gipfel, der hinter den Fluten aufragte. Sieben Kilometer gischtende See trennten ihn von jener Insel. Dort drüben gab es Brot in Hülle und Fülle. Zwanzig Meter weiter schimmerte ein brauner Kanten. Die Strömung trieb ihn auf das Ufergeröll zu, und der Junge dachte, wenn das Brot ans Ufer gespült werden sollte, würde es schwerhalten, ein zweites Mal darauf zu verzichten, aber er dachte auch, daß er sich sehr tapfer geschlagen habe, und bei diesem Gedanken traten ihm Tränen in die Augen. Viktor wandte sich ab. Sein Blick fiel auf die kleine Insel. Dort waren sie vom Sturm überrascht worden. Er konnte sogar den großen Stein erkennen, in dessen Nähe ihn der kleine Schlangenadler gehackt hatte. Daneben befand sich sein Nest, und ein Stückchen weiter, auf dem höchsten Punkt des Inselchens, nisteten im Holundergebüsch Eiderenten. Dort lagen in einem Körbchen aus Daunenfedern acht große, warme Eier. Einer Eingebung folgend, sprang Viktor auf die Füße. Acht warme Rieseneier; dreihundert Meter bis zu einem herrlichen, dampfenden Gericht! Und er kann hinrudern, weil die Insel ihn vor dem Sturm schützt und die See auf diesem Abschnitt nicht so hoch geht. Der Ornithologe saß im Boot. Mit einer Konservendose schöpfte er das Wasser aus. Durch die Wolkendecke blinzelte die Sonne. Sie beschien sein Gesicht, dessen Haut vom vielen Wind und Wetter rauh geworden war und dessen Backenknochen scharf hervorsprangen. Es war das Gesicht eines müden Menschen. Viktor las eine zweite Büchse auf, die am Ufer lag, und begann gleichfalls, das Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Er fürchtete die Frage, weshalb er fortgelaufen sei, aber der Ornithologe blieb stumm. Erst nach geraumer Zeit sagte er: ,,In zwei Stunden haben wir volle Flut. Dann müssen wir das Boot ins Wasser schieben. Wahrscheinlich kriegen wir eine ruhige Nacht." Viktor wollte jetzt nicht, daß sich der Sturm legte. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, acht Rieseneier zu holen. Sie würden was zu essen haben, jeder vier. Nichts konnte ihn hindern, rüberzurudern, auch nicht der Sturm, selbst wenn er weiter zunehmen sollte. Die Wellen züngelten die trockenen Steine hinauf und schwappten zurück ins Meer. Jede Woge kam ein kleines Stückchen weiter als ihre Vorgängerin, doch alles in allem stieg die Flut qualvoll langsam. Viktor kehrte sich ab. Als er wieder hinschaute, schwamm das erste Bändchen Blasentang bereits im Wasser. Bis zur vollen Flut verblieben noch anderthalb Stunden. Die volle Flut trat pünktlich ein, kündigte sich mit einem weithin tönenden Schlag gegen das Heck des Bootes an. „Zugepackt", gebot der Ornithologe, „bloß paß auf, daß du dich nicht überanstrengst, sonst wird dir schwindlig." Viktor ergriff eine Holzstange. Er stemmte sich aus Leibeskräften dagegen, bis der steinige Strand und das Meer Karussell zu fahren schienen und bunte Kreise vor seinen Augen schwammen. „Jetzt müssen wir warten, bis das Wasser zurückgeht", erklärte der Ornithologe, „dann stoßen wir das Boot allmählich runter. Ich passe schon auf. Du kannst dich inzwischen hinlegen. Wenn es soweit ist, rufe ich dich." Viktor war es recht. „Ich lege mich gleich hin. Nur, ich habe zehn tote Kücken gesehen. Beinah hätte ich vergessen, es Ihnen zu erzählen. Unten, am See, wo das Futterhäuschen steht. Sie treiben auf dem Wasser." „Was für Kücken? Das ist doch dummes Zeug!" „Nein, zehn Stück, sie schwimmen mit dem Bauch nach oben", wiederholte Viktor eigensinnig. Diese Lüge hatte er sich vorher zurechtgelegt. „Komm, zeig sie mir." „Bei mir dreht sich alles wie ein Karussell", wandte Viktor ein.  Und das war keine Lüge. „Am Futterhäuschen?"  „Ja."  „Ich bin gleich zurück", versprach der Ornithologe. Kaum war er hinter den Bäumen verschwunden, als Viktor das Boot ins Wasser schob. Er ruderte schnell, um aus der Bucht heraus zu sein, bevor der Ornithologe zurückkam. Hier war das Wasser verhältnismäßig ruhig. Von der See her rollten nicht allzu hohe Wellen heran. Wo es ins offene Meer hinausging, hielt Viktor inne. Vorn, ganz nahe, nur durch eine unsichtbare Linie getrennt, schäumten lärmende Brecher auf die Insel zu. Sie kamen langsam und unaufhörlich, in endloser Folge. Viktor hob unentschlossen die Riemen, ließ sie sinken, hob sie wieder und begriff, daß er den letzten Mut verlieren und umkehren würde, wenn er noch ein paar Sekunden zögerte. Er schaute zurück zum Ufer und erblickte den Ornithologen, der stolpernd über die Steine rannte und etwas schrie. Da legte sich der Junge in die Riemen. Er durchbrach die heimtückische Linie. Eine Woge packte das Boot, hob es mit Leichtigkeit, aber zugleich mit unwiderstehlicher Gewalt empor. Dann stieß sie den Bug genießerisch ins Wasser. Das Ufer vollführte einen hüpfenden, wiegenden Tanz. Ein Abgrund tat sich auf. Das Boot stürzte hinein. Über dem Rand wuchs eine grüne Wand aus geäderten Blasen und Schaum empor. Erschaudernd schlug Viktor beide Riemen hinein, und langsam kroch das Boot nach oben, schwang sich auf den Kamm einer neuen Woge und klatschte mit dem Boden abermals in den sich öffnenden Schlund. Das Wasser lief unter den Riemen davon. Viktor versuchte, die zurückweichenden Massen zu fangen, sich gegen die hochwachsenden Wellenberge zur behaupten. Er hatte Angst, solche Angst wie noch nie im Leben. Wirre, unzusammenhängende Gedanken kreuzten durch sein Hirn. O ja, er hatte viel Schlimmes getan, sich gegen die Mutter versündigt, den Menschen fortzulocken. Viktor legte die acht schweren, warmen Eier in seine Mütze und machte sich auf den Rückweg zum Boot. Er spürte, wie die Beine merkwürdig weich wurden und wie sie einknickten. Dann begann alles von vorn. Wieder schaukelte das Boot und legte sich auf die Seite. Wieder tanzten Himmel und Ufer. Und der tosende Wasserstreifen am Eingang der Bucht. Und die komische weiße Menschengestalt am Kap. Viktor ruderte das Boot in die Bucht. Der Ornithologe stand am Strand. Er trug nichts als seine Unterwäsche. Er hat sich ausgezogen, dachte der Junge, ausgezogen, weil er schwimmen wollte. Jetzt war er nahe daran, diesen Menschen ins Herz zu schließen. „Hast du den Unfug mit den toten Vögeln ausgeheckt, um ein bißchen spazierenzufahren?" frag'e der Ornithologe leise. „Jawohl", entgegnete Viktor. „Jawohl", wiederholte er klangvoll, denn jetzt war er glücklich. „Sonst hätten Sie mich doch nicht fortgelassen." „Du bist ein Schuft", sagte der Ornithologe. Er drehte sich um und ging, ohne noch ein Wort zu verlieren, auf die Tür zu. „Warten Sie doch", rief ihm Viktor nach, „sehen Sie, was ich gebracht habe!" Unangenehme Gedanken blitzten in ihm auf: Er versteht mich nicht, er denkt, daß ich nur so... Der Ornithologe war stehengeblieben. Viktor lief zu ihm hin. Er streckte die Hände aus, die die Mütze hielten, blickte dem Ornithologen in die Augen und lachte, um zu zeigen, daß er nichts übelnahm. „Soso", meinte der Ornithologe, und Viktor sah, daß sich sein Gesicht mit roten Flecken bedeckte, „sag mal, wer hat dir das Recht gegeben, die Nester zu plündern, 'die wir pflegen? Mich haben sie sogar im Krieg freigestellt. Verstehst du? An der Front sterben Menschen, aber mich haben sie nach Hause geschickt, weil es hier keinen gab, der sich um die Vögel kümmern konnte. Weißt du überhaupt, daß nur ein paar hundert Eidernester existieren? Und daß unser Naturschutzgebiet das einzige in der Sowjetunion ist, wo noch Eiderenten brüten?" Viktor schwieg verlegen. Die zornigen, ungerechten Worte des Ornithologen hatten ihn wie Peitschenhiebe getroffen. „Weißt du, daß unsere Arbeiter wochenlang nicht aus den Booten kommen? Seit fünfzehn Jahren lebe ich hier. Als ich herkam, warst du noch nicht geboren. Biologe willst du werden? Du bist ein junger Naturfreund? Das bildest du dir vielleicht ein. In Wahrheit bist du ein Wilddieb. So, du hast Hunger. Ganze zwei Tage haben wir nichts gegessen, ganze zwei Tage. Und die Eiderente brütet einmal im Jahr. Du bildest dir wohl ein, daß du eine Heldentat begangen hast? Wie ein Feigling hast du dich benommen! Von deinem Magen hast du dich unterkriegen lassen." Viktor war zerknirscht, beleidigt, stand mit gesenktem Kopf da und schwieg, weil er fürchtete, in Tränen auszubrechen. ,,Das Nest dort drüben hast du ausgenommen?" fragte der Ornithologe. ,,Doch nicht für mich." Viktor schluckte und sprach nun lauter: „Ich wollte Ihnen ... Ihr Brot habe ich nicht gegessen. Ins Meer habe ich es geschmissen." „Was?" „Ich bin kein Wilddieb. Verstehen Sie", schrie Viktor jetzt, „meinetwegen können Sie an Ihrem Brot ersticken!" Der Ornithologe seufzte, ging langsam zum Boot, breitete seine Wetterjacke auf den Boden und wickelte die Eier ein. Dann zog er Hosen und Stiefel an, stieß das Boot ab und sprang hinein. Der irrsinnige Gedanke, daß er es darauf abgesehen haben könnte, sich zu ertränken, durchzuckte Viktors Hirn. „Was machen Sie denn?" fragte er ängstlich.  „Ich schaffe die Eier fort", erwiderte der Ornithologe, der seine alte Ruhe zurückgefunden hatte, „marsch, ins Haus, und ohne Tricks. Klar?"  „Nein, es ist nicht klar", entgegnete Viktor und blieb am Ufer. Das Boot verschwand ums Kap. Viktor ging ein Stück weiter, stellte sich hinter einen Baum und beobachtete den Ornithologen. Die Wellen spielten mit dem Boot, das ständig zu kentern drohte. Viktor preßte die Brust an den Stamm, und jedesmal, wenn sich das Boot auf die Seite legte und vom Kamm einer Woge in den Abgrund stürzte, stockte ihm das Herz. Mit Entsetzen dachte er an die Möglichkeit, daß der Ornithologe nicht wiederkommen würde. Aber er kam wieder. Zweimal legte er die Strecke zurück. Dann kroch er, von Seewasser durchtränkt, ans Ufer. In den Händen hielt er die zusammengerollte Wetterjacke. Was nun folgte, war das komischste von allem. Der Ornithologe trat ins Haus, nahm ein Bündel Tang und eine mit Wasser gefüllte Konservendose mit. Das Wasser kippte er auf die Herdplatte, die er sorgfältig säuberte. Danach trug er Reisig herein, zerbrach es auf den Knien. Die trockenen Holzstücke und den Seetang setzte er in Brand. Viktor hatte sich aufs Bett gelegt und sah dem sonderbaren Treiben mit Erstaunen zu. Wenn der Ornithologe den Kopf wandte, schloß er die Augen. Die Herdplatte erwärmte sich. Der Ornithologe faltete die Wetter jacke auseinander, holte zwei große Eidereier hervor und schlug sie auf. Den Inhalt goß er auf die Herdplatte. Ein angenehmer Duft, vermischt mit Rauchgeruch, erfüllte das Zimmer. Viktor biß sich auf die Lippen, bis es schmerzte. „Komm essen", rief ihn der Ornithologe. Viktor lag, ohne sich zu rühren.  „Ich sehe doch, daß du nicht schläfst."  „Ich esse nichts", entgegnete Viktor. Die Augen ließ er geschlossen. Der Ornithologe nahm den ungleichmäßig gebackenen Fladen mit den beiden gelben Dottern vom Herd und legte ihn auf den Tisch. „Iß", wiederholte er müde und stampfte mit schweren Tritten hinaus. Viktor fuhr auf, spähte durchs Fenster. Der hagere Ornithologe stand hoch aufgerichtet am Ufer. Er sah dem Spiel der Wellen zu. Eine Hand streckte sich nach den Spiegeleiern aus, brach ein knuspriges, hauchdünnes Stück vom Rand ab und steckte es in den Mund. Viktor empfand den unerträglich süßen Beigeschmack des gebräunten Eiweißes. Voller Verachtung für sich selber, aber außerstande, seine Eßlust länger zu zähmen, schnitt er den gargebackenen Fladen in zwei Teile, bestreute den größeren mit grobkörnigem Salz und verzehrte ihn gierig. Dann legte er sich aufs Bett. Rasch schlief er ein. Er träumte von einer Woge, die das Ufer überflutete, größer und größer wurde und ihn über die Erde jagte. Er rannte durch eine Straße, in der die Türen und Fenster der Häuser vernagelt waren, klopfte, aber niemand öffnete. Da erreichte ihn die Woge, und Viktor weinte. Mitten in der Nacht wurde er von dem Ornithologen geweckt. Die See hatte sich beruhigt. Anderthalb Stunden später befanden sie sich vor dem Gebäude der Naturschutzverwaltung. Der verschlafene Beobachter kam ihnen entgegen. „Seid wohl im Schutzhäuschen steckengeblieben?" fragte er gähnend. „So ist es", erwiderte der Ornithologe. „Hab ich mir schon gedacht. Wollt ihr was essen?" „Gib dem Jungen. Aber nicht zuviel. Er hat zwei Tage gefastet." „Was?" wunderte sich der Beobachter.  „Und sonst? Alles in Ordnung?"  „Alles in Ordnung", erwiderte der Ornithologe.  „Bist ein Held." Der Beobachter schmunzelte. „Geh an die Arbeit!" wies ihn der Ornithologe trocken zurecht. Nach dem Mahl suchte Viktor das Zimmer auf, das man den Kindern zugewiesen hatte. Die anderen ruhten auf dem Fußboden. Sie mußten sehr müde sein. Nicht einer rührte sich. Auch Viktor kroch in seinen Schlafsack, lag aber mit offenen Augen da. In seinem Kopf toste noch die See. Hinter der Bretterwand klapperte ein Teller, und eine Stimme, wahrscheinlich die des Beobachters, flüsterte: „Morgen schicken wir die jungen Naturfreunde nach Hause. Wie hat sich denn deiner gemacht? Alles überstanden? Muß doch schwer sein für so einen Knirps, zweimal vierundzwanzig Stunden..." „Er ist kein Knirps", berichtigte ihn der Ornithologe. „Weißt du was, wenn ich nicht irre, ist bei uns eine Laborantenstelle frei? Bis September behalte ich ihn hier." „Im Labor?"  „Ja." „Diesen Knirps! Wo Sie sogar der Studentin einen Korb gegeben haben." „Er ist kein Knirps. Ich behalte ihn hier. Wenn er, natürlich nur, wenn er will." Viktor setzte sich aufrecht und lehnte den Rücken gegen die Wand. In dieser Stellung verharrte er lange, bis die beiden hinter der Scheidewand verstummten. Auf dem Fußboden prusteten einträchtig die Jungen. Viktor legte sich auf den Bauch und zog einen von ihnen am Bein. „Wowka", flüsterte er, „Wowka, hör mal, was ich dir zu sagen habe." Wowka hob den Kopf, blickte Viktor mit schlaftrunkenen Augen an und kuschelte sich wieder ins Kissen. Viktor schnippte ihn leicht mit dem Finger an den Hinterkopf. Dann ging er hinaus auf die Treppe. Zu schlafen hatte er keine Lust.  Ein glücklicher Tag Geweckt wurde Pawlik von einer fetten Hummel. Sie kurvte vor dem Fenster und flog mit unwilligem Gebrumm mehrmals gegen die Scheibe. Pawlik kroch aus dem Bett. Er stieß beide Fensterflügel auf. Mit sanftem Klatschen schlugen Blätter gegen die Scheiben. Ein taukühler Fliederzweig kam ins Zimmer gekrochen, schüttelte mehrere Tröpfchen auf das Fensterbrett. Husch, stob die Hummel davon, in der Morgensonne wie eine goldene Glasperle leuchtend, bis sie verschwand. „Dumme Hummel!" murmelte Pawlik. Er trat an den Waschtisch, kippte etwas Wasser in die hohle Hand und rieb sich damit die Stirn und eine Gesichtshälfte ab. Seine Sorgenfalten hatten sich geglättet. Wenn er den Zeigern auf der Wanduhr glauben Schlupfloch nicht fand. Heute war alles erlaubt, auf einem Floß zu fahren, an den Fluß zu laufen, an den Teich, an die Bahn. Wenn man das Ohr auf die Schienen legte, hörte man das Geräusch des nahenden Zuges. Pawlik wußte nicht, was er zuerst tun sollte. Wer die Wahl hat, hat die Qual. Am liebsten hätte er alles auf einmal getan. Er erhob sich und ging auf die Straße. Hinter dem dürftigen Zaun des Nachbarhauses grub ein Junge mit auffallend hellen Wimpern den Garten um. „Shoka, he, Shoka!" rief Pawlik. Shoka schlug mit dem Spaten auf einen großen Klumpen ein und untersuchte interessiert das aufgelockerte Erdreich. „Shoka", fragte Pawlik im Flüsterton, „Shoka, was machst du da — hm?" „Würmer ausgraben. Siehst du das nicht?" Pawlik seufzte. Nach dieser Antwort stand bereits fest, daß mit Shoka heute nichts anzufangen war. Überhaupt, dachte Pawlik, ist er für mich bloß zu sprechen, wenn er nicht weiß, was er machen soll. Pawlik mag Shoka sehr und fürchtet ihn auch ein wenig. Was Shoka bestimmt, geschieht, da gibt es keine Widerrede. Shoka ist stark. Er kann Pawlik an den Armen packen und durch die Luft schleudern. Er ist gewandt, kann reiten. „Laß mich mal graben", schlug Pawlik vor.  Wortlos legte Shoka den nächsten Erdklumpen auf die Seite.  „Gib doch her", drängte Pawlik.  „Laß mich in Ruhe. Ich habe so schon nichts geschafft. Gleich kommt Witka. Denkst du, ich will mit leeren Händen dastehn?"  „Du gehst wohl mit ihm?"  „Mit wem denn sonst?"  „Nehmt ihr mich mit?" „Sonst noch was?" entgegnete Shoka von oben herab. Pawlik druckste eine Weile herum, dann ging er weg. „Ich habe ein Fischnetz", rief ihm Shoka nach, „und einen Angelhaken. Geschenke von einem Sommerfrischler." Shoka wollte nur angeben. Pawlik dachte, er mache sich über ihn lustig, und war beleidigt. Er überlegte, was erst geschehen müßte, damit Shoka ihn um einen Gefallen bäte. Angenommen, Shokas Haus würde abbrennen. Shoka käme zu Pawlik, um sich Pawliks Angel auszubitten. „Du hast doch ein Netz", würde Pawlik sagen. Shoka begänne zu weinen. Und zu schluchzen: „Ich habe gar nichts, rein gar nichts habe ich mehr, das Haus ist abgebrannt und alles, alles mit." Das wäre für Pawlik der Augenblick, wo er lachen könnte. „Weißt du noch, als du Fische fangen wolltest, hast du mich nicht mitgenommen. Von mir kriegst du nicht so viel." Ganz deutlich stellte sich Pawlik dieses Gespräch vor. Er sah Shokas bittendes Gesicht und lächelte. Vor Vergnügen schüttelte er den Kopf. Auf dem Hof des elterlichen Hauses angekommen, ergriff Pawlik den Rechen und ging hinter den Schuppen, wo ein Haufen alter Sägespäne im Schatten lag. Er harkte die Späne auseinander. Auf der Erde wimmelte es von Würmern. Pawlik las sie gleichzeitig in zwei Blechdosen. Als sich hinter ihm Schritte näherten, wußte er: Das kann nur Shoka sein. Er drehte sich nicht um. „Wie geht das Geschäft?" fragte Shoka. „Zwei halbe Büchsen sind es schon", erwiderte Pawlik.  „Schenkst du mir ein paar? Ich habe nur drei Stück. Gleich kommt Witka." Pawlik schnaufte. Shoka machte ein Gesicht, als wäre tatsächlich das Haus abgebrannt. Einfach zum Schreien. „Meinetwegen kannst du alle haben", sagte Pawlik, „ich brauche sie nicht." Nach so viel Großzügigkeit hätte Shoka Pawlik mitnehmen müssen. Statt dessen ergriff er die Büchsen mit den Würmern und empfahl sich. Daran ist nur dieser Witka schuld, überlegte Pawlik. Dem kann natürlich auch das Haus abbrennen. Dann kommt Witka zu Pawlik. Er bittet ihn um ein Lager für die Nacht, fleht, weint und legt den Kopf an die Tanne, die auf dem Hof wächst. Pawlik sieht ihn belustigt an, lacht und verläßt das Haus für immer, um auf einer Elektrolok Maschinist zu werden. Als Pawlik an diesem Punkt angelangt war, kam Shoka ein zweites Mal. „Hast du Witka gesehen?"  „Hier war niemand." „Um sechs wollte er mich wecken. Jetzt ist es schon neun." „Zehn", sagt Pawlik mißgünstig. „Bildest du dir ein, der kommt noch?" „Na klar", entgegnet Shoka, seiner Sache nicht ganz sicher. „Wir sind doch für heute verabredet. Auf Witka kannst du dich verlassen." „Und wer hat dir von deinem Karren das eine Rad geklaut?" „Das Rad, stimmt ja, das Rad." Shoka erinnerte sich deutlich. Er wurde böse. „Kein Wort kann man ihm glauben. Er lügt wie gedruckt."  „Hmhm, so ist das", gab Pawlik bereitwillig zu.  Shoka geriet in Weißglut. „Na warte", stieß er drohend hervor, „dem werde ich die Hammelbeine noch langziehn."  „Richtig", feuerte ihn Pawlik mit helltönender Stimme an. „Das Haus müßte ihm abbrennen. Das wäre gut. Was?" Aber da kam Shoka nicht mit. „Das Haus?" meinte er, schon friedfertiger. „Nein. Warum? Sie haben so ein schönes neues. Kommst du mit?" „Ich?"  „Wer sonst. Euer Schwein?"  Shoka lachte. Pawlik war nicht beleidigt. Im Gegenteil, er übertönte Shokas Lachen, obwohl er wußte, daß eigentlich kein Grund dazu war.  „Nimm einen Topf mit", empfahl Shoka, „wir kochen uns eine Fischsuppe. Ich will nicht erst noch mal rüberlaufen. Du hast es näher." Wie der Wind war Pawlik im Haus. Er kehrte mit einem weißen Emailletopf zurück. Es war ihm klar, daß ihn unangenehme Dinge erwarteten, aber bis da war es noch lange hin. Jetzt hieß es schnell machen, ehe es sich Shoka anders überlegte. Sie trabten die staubige Straße runter und gelangten auf eine mit Heuhaufen bedeckte Wiese, sprangen über einen Graben, schlurften über das Stoppelfeld, um von den kurzen, harten Grashalmen nicht gepiekt zu werden. Kein Lüftchen wehte. Über der Wiese lag eintöniges Zirpen. Grashüpfer sangen ihr Lied. Am Himmel wärmten sich weiße Wolken in der Sonne. Komisch, daß sie nicht braun werden, dachte Pawlik, oder vielleicht werden sie braun, und dann sind es Regenwolken? Pfeifend kam eine Elektrolok aus dem Wald gesaust.  „Zwei Maschinisten, hast du gesehen?" schrie Pawlik.  „Meinetwegen zwei Dutzend", brummte Shoka.  „Man könnte so schön zwischen den Schienen laufen, aber von einer zur anderen Schwelle ist es blödsinnig nah und bis zur nächsten blödsinnig weit. Dabei könnte es so bequem sein, aber das ist ihnen ganz egal, wenn sie ihre Bahnlinie bauen. An uns Fußgänger denkt keiner." ,,Da hast du auch recht", pflichtete ihm Pawlik bei. Er wollte noch fragen, warum es auf der Lokomotive zwei Maschinisten gab, doch in diesem Augenblick trat ein feister Feriengast aus dem Gestrüpp hervor. ,,Oh", sagte er und kam näher, „noch zwei Angler?" Pawlik und Shoka blickten ihn schweigend an.  „Seid ihr auf den Mund gefallen?' fragte der Urlauber, der sich große Mühe gab, freundlich zu erscheinen. „Oder habt ihr Angst vor mir?"  „Man nicht", erwiderte Shoka. „Na, das ist recht", rief der Dicke fröhlich. „Ich bin genauso ein Angler wie ihr. Wir Fischfänger müssen zusammenhalten. Stimmt's?" „Nein", erwiderte Shoka. „Warum nein?" „Das wissen wir auch nicht." Der Angler lachte schallend und kniff ein Auge zu. Sein Gesicht sah aus, als wollte er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. „Wie wär's mit einigen Angelhaken?" fragte er unerwartet. „Ich schenke euch welche." Es war ein verlockendes Angebot. Das dicke Ende kam hinterher. „Ihr zeigt mir dafür, wo man etwas fangen kann. Sicher kennt ihr die richtigen Stellen?" Shoka zog eine mürrische Grimasse. „Nein. Warum?" Der Urlauber gab sich nicht so leicht geschlagen, zog eine Büchse aus der Tasche, schraubte den Deckel ab und schüttete mehrere Angelhaken auf die flache Hand: schwarze, gelbe, große, kleine — sogar weiße, die hatte Pawlik noch nie gesehen. Pawlik tat einen Schritt auf die Hand zu, aber Shoka zog ihn am Ärmel. „Onkel, wir müssen weiter", sagte Shoka.  „Also, sind wir uns einig?" fragte der Angler mit frischer Stimme. „Nehmt ihr mich mit?" Er griff in die Tasche. „Ihr kriegt auch einen halben Rubel." „Nein", sagte Shoka unerbittlich. Der Angler zwinkerte und schüttete ärgerlich die Haken zurück. Sein Gesicht verriet, daß er zutiefst beleidigt war. Pawlik hatte Mitleid mit ihm, wollte ein paar tröstende Worte sagen, etwa, daß sie auch keinen günstigen Fleck kannten, aber ehe er dazu kam, hatte Shoka ihn fortgezogen. Sie gingen auf dem Damm weiter. Pawlik sah sich mehrmals nach dem dicken Angler um. „Diesem Fettwanst die Stelle zeigen", empörte sich Shoka, „so weit kommt das." „Aber gut waren die Haken, ja, Shoka?" meinte Pawlik. Ihr Weg führte durch den Wald. Sie mußten noch lange laufen, bis sie die Niederung erreichten, wo sich hinter von Riedgras überwucherten Ufern die Orlinka, ein faules Flüßchen, verbarg. Blaue Libellen schwirrten über das dunkle Wasser. Ein zwischen Schilfstauden gespanntes Spinnennetz glänzte wie reinseidenes Gewebe. Die gerade aufgerichteten Riedstengel, die mit Flaum bedeckten Büsche, die grünen Wasserlinsen, die Blätter der Seerosen — alles war reglos, wie in der Hitze erschlafft. Ungetrübte Stille lagerte über der Orlinka. Als ein Frosch ins Wasser sprang, knallte es wie ein Pistolenschuß. Auf Zehen, um die Fische nicht zu verscheuchen, schlichen die beiden Jungen näher. Pawlik warf die Angel aus und erstarrte. Nahe am Ufer schwamm das Spiegelbild der Sonne, ein gleißender, die Augen schmerzender Fleck. Pawlik blinzelte. Er fürchtete, sich zu rühren. Shoka könnte wütend werden. Shoka war jedoch der erste, der das Schweigen nicht mehr ertrug. ,,Hier habe ich mal einen Barsch gefangen", flüsterte er, „so ein Ding, riesig." „Ja?" staunte Pwalik. Es war nur ein Hauch.  „Vor dem Krieg gab's hier Barsche wie Sand am Meer. Die Faschisten haben sie mit Granaten getötet."  „Ja", bestätigte Pawlik. Er stellte sich einen feisten Faschisten vor, der eine Handgranate in den Fluß wirft. Der Faschist sah dem Angler von vorhin nicht unähnlich. „Shoka", flüsterte Pawlik besorgt, „hör mal, Shoka, dieser Angler, der Fettwanst, ob das nicht ein Spion war?" Shoka riß die Angel aus dem Wasser.  „Da haben wir ihn", brüllte er, „da haben wir den Spion gefangen." Pawlik sprang hoch. Vergessen war der dicke Angler. „Hurra, ein Spion!"  „Ins Gefängnis mit ihm!" schrie Shoka. „Ins Gefängnis", heulte Pawlik. Shoka schöpfte Wasser in den Topf und ließ den Barsch hinein. Die beiden brachen ein paar Zweige ab, rutschten auf Knien an das „Gefängnis" heran und pieksten den „Spion", bis er mit dem Bauch nach oben schwamm. Dann warfen sie wieder die Leinen aus. Drei Stunden saßen sie noch am Ufer, fingen aber nichts mehr. „Jetzt kochen wir uns eine Suppe", schlug Shoka vor.  „Von einem Fisch?" „Das geht. Man muß nur mehr Wasser nehmen", erklärte Shoka sachverständig. „Hast du ein Messer, zum Abschuppen?"  „Ein Barsch wird gekocht, wie man ihn aus dem Wasser zieht. Hole etwas Holz." Shoka war ein As. Pawlik suchte trockenes Reisig zusammen. Shoka legte die Stücke kreuz und quer übereinander. Er zündete den Haufen an. In der Sonne bemerkte man die Flammen nicht. Ehe es sich die beiden versahen, war alles niedergebrannt. „Diese dünnen Dinger." Shoka stöhnte unzufrieden. „Alles muß man selber machen." Er ging nach Holz. Pawlik kroch dichter ans Feuer heran und blies aus Leibeskräften in die Glut. Er hatte den sehnlichen Wunsch, Shoka bei seiner Rückkehr mit einer gargekochten Fischsuppe zu überraschen. Am Rand des Topfes begann es zu summen, aber das Wasser blieb ruhig. Shoka brachte einen Armvoll trockene Zweige angeschleppt, warf sie neben der Feuerstelle nieder und sagte ungehalten: „Am Weg ist noch mehr. Beeil dich." Von Schuldgefühl getrieben, rannte Pawlik los, gehorsam, fragte nicht einmal, wo das Holz lag. „Den nicht", meinte Shoka trocken, als Pawlik einen Fichtenast herbeischleifte. Pawlik glühte vor Anstrengung. Er wollte kehrtmachen, aber Shoka winkte ab. „Bei uns herrscht Ordnung", sagte er. „Laß es kochen. Wir gehen baden." Sie zogen sich aus und sprangen mit Anlauf ins Wasser. „Hurra!" jauchzte Shoka, tauchte und erwischte Pawlik an einem Bein. Pawlik atmete ein, tauchte gleichfalls unter, bekam Shokas Kopf zu packen. Er zog ihn an sich. So stießen sie zusammen, unter Wasser, Stirn gegen Stirn. „Burrrl", sagte Shoka. „Burrrl", antwortete Pawlik. Beide sahen die Blasen, die silbrig schimmernd an die Oberfläche stiegen. Sie tauchten gemeinsam auf und wollten sich ausschütten vor Lachen. Als sie genug getobt hatten, schwamm Pawlik ans Ufer, sank erschöpft ins Gras. Shoka plumpste daneben. Nach einer Weüe rappelte er sich hoch und versuchte, auf einem Bein hüpfend, in die Hose zu kommen. Als das Kunststück vollbracht war, lief er ans Feuer, starrte verdutzt in die Flammen, nahm schließlich einen Zweig, spießte den Topf an einem Henkel auf und schleuderte ihn beiseite. „Komm her, rasch!" rief er. Pawlik ahnte nichts Gutes. Dann sah er, was geschehen war. An Stelle des weißen Topfes lag ein völlig verrußtes Gefäß im Gras. Das Wasser war verdampft, die Emaille gesprungen und abgeblättert. Auf dem Boden klebte ein verkohltes Etwas mit Barschkopf. Der Topf knisterte und knackte. „In den Fluß", empfahl Shoka. Mit einem Stock schleppte er ihn ans Ufer. Im Wasser platzte die letzte Emaille ab. „Ist das schlimm für dich?" fragte Shoka. Pawlik nickte. „Sag einfach, der Topf ist gestohlen worden", schlug Shoka vor. „Heute morgen habe ich ein paar zweifelhafte Gestalten gesehen." „Wirklich?" fragte Pawlik mit einem Klang von Hoffnung in der Stimme. „Ehrenwort." Ein Lächeln stahl sich über Pawliks Gesicht. Shoka war doch ein richtiger Freund, trotz allem. Mutig und klug. Mit dem gewesenen Topf spielten sie auf der Wiese Fußball, bis er in den Fluß fiel. ,,Jetzt hat die liebe Seele Ruh", stellte Shoka befriedigt fest. „Aber der Deckel liegt noch zu Hause in der Küche", wandte Pawlik ein. Sie lachten. Von Müdigkeit übermannt, sanken sie wieder ins Gras. Am Himmel standen unbewegliche Wolken. Aus der Ferne klang Motorengeräusch herüber. „Ein Hubschrauber", sagte Shoka. „Hat bestimmt gelöscht. Es wird gebrannt haben." „Warum?" „Bei dieser Trockenheit kein Wunder. Einen Waldbrand zu löschen ist bestimmt nicht einfach." „Ich hätte Lust dazu", sagte Pawlik träge. „Ich auch. Wie es heißt, kommen die Hubschrauber bald in den Handel. Dann können wir uns einen kaufen, einen mit Tretmotor und chemischem Benzin. Briefträger und Polizisten kriegen ihn kostenlos geliefert", murmelte Pawlik. Sie schliefen lange und fest. Im Schlaf hörte Pawlik den Hubschrauber zurückkehren. Er kreiste über ihnen und ruinorte immer lauter, konnte einfach nicht davonfliegen. Dann begann er aus Bordkanonen zu schießen, und Pawlik wachte auf. Eine riesige graue Wolke mit golden schimmerndem Rand zog über die Wiese. Scharfe Donnerschläge erschütterten die Erde. Im Wald ächzten und stöhnten die von einem heftigen Windstoß zu Boden gedrückten Bäume. Auch Shoka war aufgewacht und hochgesprungen. Die beiden nahmen ihre Angeln. Sie rannten unter eine hohe Fichte. Von hier aus sahen sie das reglose Gras, das Gesträuch, alles wie erstarrt. Die Stille war bedrückend, unheilverkündend. Nach einer Minute begann es in der Ferne zu lärmen. Ein dumpfes Getöse, das schnell näher kam. Dichte Schleier legten sich über die Wiese. Es regnete in Strömen. Am anderen Ufer der Orlinka leuchtete der Steilhang in samtenem Rot, goldene Feuerschlangen zuckten zur Erde. „Ungemütlich", flüsterte Pawlik. Die Fichte gewährte ihnen nicht lange Schutz gegen den Regen. Dicke, kalte Tropfen fielen in den Nacken. Shoka meinte: „Komm, wir rennen nach Hause. Naß sind wir sowieso."  Pawlik machte einen Buckel. „Ja. Dann werden wir wenigstens warm."  Sie rannten aus dem Wald aufs Feld, waren in Sekundenschnelle bis auf die Haut durchnäßt. Angenehm, dachte Pawlik, wie ein warmes Bad.  Ein braunes Rinnsal schäumte durch den Graben am Eisenbahndamm. Shoka lief runter und schlurfte gegen die Strömung. „Guck mal, ich wate durch einen Fluß", rief er.  Sogleich war Pawlik hinter ihm. In dem Graben gab es Späne und kleine, spitze Steine, die sich in die Fußsohlen bohrten. Was tat's? Der blaue Streifen, der in der Ferne am Himmel leuchtete, der den Rücken peitschende Regen, das trübe, rauschende Wasser — alles war so herrlich, daß Pawlik nur einen Wunsch hatte: etwas ganz Besonderes zu unternehmen. „Shoka!" Shoka drehte sich um. Pawlik warf beide Beine nach vorn. Er saß nun mitten im Graben. Um noch lächerlicher zu wirken, kniff er die Augen zu und verzog den Mund. Seine ausgestreckten Hände plantschten im Wasser. Shoka lachte kurz auf. Dann lief er weiter. Pawlik hinterher. Er sang. „Regen, Regen allerwegen, dieser Regen ist ein Segen, dieser Segen ist ein Regen, Regen, Segen allerwegen." Mit diesem Lied auf den Lippen marschierte er weiter, schlenkerte rhythmisch die Arme. Das Wasser spritzte. Plötzlich hörte der Regen auf, als hätte jemand oben einen Hahn zugedreht. Der Stadtrand war erreicht. Am anderen Ende der Straße wurde die Sonnenscheibe sichtbar. Sie sank dem Horizont entgegen. „Neun Uhr", sagte Shoka, „ganz schön lange unterwegs gewesen." Pawlik blinzelte gegen den verschwindenden Rand der Sonne. „Halb zehn", meinte er aufs Geratewohl. Auf der Treppe des Kaufladens saß der dicke Urlauber mit dem Rucksack, völlig durchnäßt. Er bewirtete den Schäfer mit Bier und erkundigte sich geflissentlich nach den Stellen, wo man am günstigsten angeln konnte. Aber auch der Schäfer wußte keinen Rat. Pawlik dachte: Wenn ich eine solche Stelle finde, führe ich den Onkel hin und verlange nicht einmal einen Haken dafür. Sie gingen um die Kolchosherde herum. Langsam trotteten die Kühe weiter. Pawlik trat dicht an eine heran und patschte sie in die feuchte, dampfende Seite. Früher hätte er so etwas nie getan. Heute fürchtete er sich vor nichts. Es war ein erstaunlicher, ein glücklicher Tag. Kurz vor Shokas Haus trafen sie auf Witka. „Na, du bist mir einer", schimpfte Witka, „den ganzen Tag habe ich auf dich gewartet."  „Ist ja nicht wahr", entgegnete Shoka, „ich habe gewartet." Das brachte Witka auf. „Nein", schrie er, „ich auf dich."  „Er hat gewartet, das stimmt", mischte sich Pawlik ein. Witka sah ihn argwöhnisch an. „Was willst du denn, du Wicht, halt gefälligst die Klappe, wenn du nicht gefragt bist, sonst geht's dir schlecht." Pawlik verkroch sich sicherheitshalber hinter Shokas Rücken. „Dem hast du den Mund nicht zu verbieten", schrie Shoka und tat einen Schritt auf Witka zu. „Dresche kriegt er", entgegnete Witka hitzig und trat gleichfalls einen Schritt nach vorn. „Von dir nicht", schrie Shoka noch lauter und rückte abermals vor. „Gib acht, daß du nicht eine Tracht mitbeziehst", drohte Witka, wich jedoch zwei Schritte zurück. „Von dir nicht!" rief Shoka mit Donnerstimme und ging mit vorgeschobener linker Schulter auf Witka zu. Witka sprang zurück. „Räder klauen", fauchte Pawlik, „das kannst du." „Das war erst der Anfang", brüllte Witka. „Das nächstemal nehme ich den ganzen Karren mit." Shoka bückte sich und hob einen Stein auf. Witka verschwand schleunigst hinter der Zaunecke. „Mit dir will ich nichts mehr zu tun haben", ertönte es aus der Ferne.  „Das ist auch nicht nötig", gab Shoka zurück. „Pawlik ist viel besser als du. Sieh zu, daß du Land gewinnst." Als Pawlik diese Worte hörte, wurde er unsagbar mutig. Er las den Stein auf, den Shoka geworfen hatte, und rannte an die Ecke. Witka war schon außer Sicht. „Morgen gehen wir wieder hin", sagte Shoka. „Gut?" Pawlik warf sich in die Brust. „Und weiter. Da wird was gefangen."  „Ich wecke dich", versprach Shoka, „aber du mußt dich um einen Topf kümmern. Denke mal, wenn wir so viel fangen."  Diese Worte stimmten Pawlik nachdenklich. Zu Hause saß Mutter. Sie wunderte sich natürlich, wo der neue Emailletopf geblieben war. Pawlik verspürte leichtes Bauchweh. Shoka aber durfte er nicht vor den Kopf stoßen. Wenn ein neuer Topf gebraucht wurde, mußte er ihn beschaffen.  „Ich bringe einen mit", erwiderte Pawlik. „Wir haben ja noch drei, die sind alle größer als der weiße."  Und tapfer stieg er die Treppe hoch.